
Bild: Mietendemo in Berlin, 23 Mai 2021 (IMAGO / IPON)
Vor allem in wirtschaftsstarken Ballungsräumen schießen die Grundstücks- und Wohnungspreise in immer neue Höhen. Damit werden gleichzeitig bezahlbare Wohnungen zur Mangelware. In vielen Städten kämpfen Mieterinitiativen und vielgestaltige Bündnisse gegen Luxussanierungen und für bezahlbaren Wohnraum; in Berlin hat die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ erfolgreich für einen Volksentscheid mobilisiert, der darauf abzielt, die Wohnungsbestände großer profitorientierter Wohnungsbauunternehmen mit einem Bestand von mehr als 3000 Wohnungen gegen eine Entschädigung zu enteignen und in Gemeineigentum zu überführen. Und wie bereits in den 1970er Jahren kommt es in einigen Großstädten erneut zur Besetzung leerstehender Spekulationsobjekte.[1]
Die Bodenfrage und Defizite bei bezahlbarem Wohnraum sind nichts Neues. Auf der Grundlage des Privateigentums an Grund und Boden werden sie immer dann zu einem vordringlichen Thema, wenn tiefgreifende Veränderungen der Kapitalverwertung mit einem weitreichenden Umbau städtischer Strukturen einhergehen. Dies war mit dem Ende der 1960er Jahre im Kontext zunehmender internationaler Konkurrenz und Arbeitsteilung einsetzenden wirtschaftlichen Strukturwandel – anhaltender Abbau des industriellen Sektors zugunsten des Dienstleistungssektors – der Fall: mit umfangreichen siedlungsstrukturellen Veränderungen, horrenden Miet- und Bodenpreissteigerungen und einer massiven Verdrängungskonkurrenz in den City- und Cityrandlagen vor allem großer Städte. Dies trifft gegenwärtig erneut zu – doch nun sind der Siegeszug des Finanzmarktkapitalismus, die neoliberale Globalisierung sowie veränderte, den Immobiliensektor immer stärker einbeziehende Strategien der Kapitalverwertung und Kapitalanlage Treiber der städtischen Entwicklung.
So ist der Bodenpreis in München von 1950 bis heute um 36 000 Prozent gestiegen;[2] bei Neubauten in den zentralen Lagen von München und Frankfurt a. M. hat sich der Anteil der Grundstückskosten seit Anfang der 1970er Jahre auf inzwischen fast 80 Prozent vervierfacht. Sichtbarste Folgen dieser Entwicklung sind der Bau immer neuer Bürogebäude sowie der anhaltende Ausbau des oberen Segments eines zunehmend gespaltenen Wohnungsmarktes: Gründerzeitliche Altbaubestände werden in aufwendig modernisierte Wohnungen umgewandelt, die dann als hochpreisige Eigentumswohnungen verkauft oder teuer vermietet werden. Gleichzeitig boomt der Bau neuer, bestausgestatteter Wohngebäude für Vermögende und internationale Kapitalanleger. Das Defizit an bezahlbarem Wohnraum, der wegen zu geringer Rentabilität von privaten Investoren kaum noch gebaut wird, nimmt stetig zu. Allein zwischen 2013 und 2018 sind in den fünf größten deutschen Städten die Mietpreise bei Neuvermietungen um fünfzig Prozent gestiegen.[3] Zur Verschärfung dieser Problematik haben Bund und Länder mit dem Rückzug aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus maßgeblich beigetragen. Jeder zehnte Großstadthaushalt gibt inzwischen mehr als die Hälfte des verfügbaren Einkommens für Miete aus.[4] Anders als bei den Wohnungsnöten der 1970er und späten 1980er Jahre stehen derzeit bei immer mehr Haushalten steigende Mieten sinkenden oder stagnierenden Einkommen gegenüber – eine Folge der Deregulierung des Arbeitsmarktes sowie der Flexibilisierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen im Zuge der Hartz-IV-Reformen. In Frankfurt und Köln haben mittlerweile etwa fünfzig Prozent der Einwohner*innen aufgrund ihrer Einkommenssituation Anrecht auf einen Wohnberechtigungsschein.
Sozialstrukturelle Folge ist eine Verdrängung all derer, die sich diese Entwicklung nicht leisten können, an den Stadtrand oder ins städtische Umland. Die Aussage des Stadtsoziologen Hartmut Häußermann – „Die Reichen wohnen, wo sie wollen, die Armen dort, wo sie müssen“[5] – muss inzwischen ergänzt werden: Es sind nicht allein die Armen, sondern zunehmend auch Angehörige der Mittelschicht, die von der Preisexplosion auf dem Grundstücks- und Wohnungsmarkt negativ betroffen sind. Die räumliche Entwicklung wird damit zum Spiegelbild der sozialen und ökonomischen Spaltung der Gesellschaft. Begünstigt und beschleunigt wird diese Entwicklung von zwei Seiten zugleich: einerseits von den Kommunen, ihren marktkonformen Liegenschaftspolitiken sowie ihren wettbewerbsorientierten, auf Attraktivität und Standortverbesserung setzenden Aktivitäten; andererseits von der aktuellen Niedrigzinspolitik und der die Immobilienpreisspirale nach oben treibenden Kreditpolitik der Banken.
Die Renditeorientierung von privatem Wohnraum, Grund und Boden
Die maßgebliche Ursache für die wiederkehrende Brisanz der Boden- und Wohnungsproblematik ist stets die gleiche: das kapitalistische Privateigentum an Grund und Boden sowie seine Macht in Bezug auf die Nutzung des Bodens und dessen profitorientierte Verwertung. Der Architekt Walter Gropius schrieb bereits 1931: „Die schlimmste Fessel bleibt das unsittliche Recht des privaten Eigentums an Boden. Ohne die Befreiung des Bodens aus dieser privaten Versklavung kann niemals ein gesunder entwicklungsfähiger und im Sinne der Allgemeinheit wirtschaftlicher Städtebau entstehen.“[6]
In Abhängigkeit der jeweiligen Formation der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist die Verwertung des Bodens deutlichen Veränderungen unterworfen. Sie reicht von der Ertragsoptimierung (Durchsetzung derjenigen Nutzungen, aus denen sich auf Grundstücken in bestimmter Lage die höchsten Profite erzielen lassen)[7] über monopolistische Preistreiberei (Erzielung von Monopolrenten in zentralen Lagen auf der Basis überlokaler Verwertungsinteressen großer Unternehmen und Finanzmarktakteure)[8] bis zum sukzessiven Formwandel von Immobilien zu Finanzobjekten.
Mit dem Wandel der kapitalistischen Wirtschaft in Richtung eines Finanzmarktkapitalismus wird auch der Boden zunehmend zu einer Finanzanlage: „Eigentumstitel über Grundstücke [können so] zu einer Form ‚fiktiven‘ Kapitals werden, die sich im Prinzip nicht mehr von Aktien, Wertpapieren und Unternehmensbeteiligungen unterscheidet.“[9] Immobilien erfahren damit eine Finanzialisierung, das heißt einen Formwandel zu handelbaren Finanzprodukten mit entsprechenden Renditeanforderungen. Und ebenso wie bei anderen Anlageformen stehen nun auch bei der aktuellen Grundstücksverwertung Profitmaximierung und Spekulation im Vordergrund. „Das spekulative Moment ist der kapitalistischen Grundrente [zwar] […] durchaus inhärent“[10] – so hieß es in einer Studie von 1976 –, gegenwärtig wird es jedoch zu ihrer zentralen Triebkraft.[11]
Wohnungen werden im Zuge der Finanzialisierung immer öfter nicht zur Nutzung, sondern als Kapitalanlage erstellt. „Unsere Wohnungen“, so ein Vertreter der Deutsche Wohnen im März 2019, „haben ein hohes, selbst in den USA bewundertes Renditepotential – bei nur geringem Risiko.“[12] Die renditeorientierte Verwertung von Grund und Boden wie auch von Wohnungen bedarf allerdings einer gemeinsamen Grundlage, das heißt: einer zahlungskräftigen und in der Regel preistreibenden Nachfrage. Und diese ist gegenwärtig immens. Immobilien sind nach dem Siegeszug des Finanzmarktkapitalismus und der Niedrigzinspolitik der Banken zum prioritären Anlagefeld für Kapitalanleger geworden. Nicht allein in den Großstädten der Ballungsräume und in wirtschaftlich attraktiven Mittel- und Universitätsstädten werden Grundstücke vermehrt zu Anlage- und Spekulationsobjekten, auch auf dem landwirtschaftlichen Grundstücksmarkt steigt das Kaufinteresse.[13]
Vor allem in den Metropolen spielen dabei vielfältige, auf Immobilien spezialisierte Fonds oder Immobilien-Aktiengesellschaften eine zunehmende Rolle. Hinter diesen steht das Kapital vorwiegend institutioneller Anleger wie Versicherungen, Pensionsfonds oder Stiftungen. Deren Interesse an profitablen Immobilienbeständen in wirtschaftsstarken Städten ist angesichts der vergleichsweise geringen Rentabilität der meisten anderen Anlagemöglichkeiten anhaltend gestiegen – und zwar weltweit. Eine wesentliche Rolle spielen in jüngerer Zeit auch zahlungskräftige ausländische Akteure – vielfach aus dem asiatischen Raum –, die ihr Kapital profitabel verwerten wollen. In den derzeit in Frankfurt gebauten Wohntürmen werden Wohnungskaufverträge nicht mehr nur auf Deutsch und Englisch, sondern auch in Mandarin angeboten. 60 Prozent des globalen Anlagevermögens steckt derzeit im Immobiliensektor, drei Viertel davon in Wohnungen.
Auch deutschen (Klein-)Anlegern erscheinen Wohnimmobilien in attraktiven Lagen angesichts von Finanzkrise und immer wieder aufscheinenden wirtschaftlichen Unsicherheiten als sichere und lukrative Investition. Der Anteil des Immobilienbesitzes am Gesamtvermögen beläuft sich in Deutschland gegenwärtig auf knapp 60 Prozent.[14]
Die ambivalente Wohnungspolitik der öffentlichen Hand
Dieser renditegetriebenen Entwicklung auf den kommunalen Boden- und Wohnungsmärkten stehen zunehmende Defizite in Bezug auf bezahlbaren Wohnraum gegenüber, die auch der Politik von Bund und Ländern geschuldet sind. Die latente, in größeren Zeitabständen immer wieder sichtbar werdende Lücke zwischen dem Angebot an bezahlbaren Wohnungen und der Zahl der Nachfrager*innen ist ein Charakteristikum der deutschen Wohnungspolitik, die durch eine deutliche Ambivalenz gekennzeichnet ist: zwischen einer sozialpolitischen und einer wirtschaftspolitischen Funktion.[15] Die sozialpolitische Funktion besteht darin, eine ausreichende Versorgung mit Wohnraum für breite Schichten der Bevölkerung zu gewährleisten – und zwar zu akzeptablen Preisen. Auf der wirtschaftspolitischen Seite, der in der Regel Priorität eingeräumt wird, stehen die Verwertungsinteressen von Haus- und Grundstückseigentümern sowie Immobilieninvestoren. Die beste Garantie für eine rentable Verzinsung ihres im Wohnungsbau angelegten Kapitals sind Wohnungsmangel infolge einer das Angebot deutlich übersteigenden Nachfrage und steigende Mieten.[16]
Ein weiteres Merkmal der bundesdeutschen Wohnungspolitik ist, dass Wohnungsbau und Wohnungsversorgung seit dem Ersten Wohnungsbaugesetz von 1950 als eine auf Dauer privatwirtschaftliche Aufgabe betrachtet werden. Wohnungspolitische Interventionen des Staates bleiben zeitlich befristet und auf den jeweils für notwendig erachteten Umfang begrenzt.[17] Ziel des – angesichts des gravierenden Wohnungsmangels der Nachkriegsjahre beschlossenen – umfangreichen staatlichen Förderprogramms für den „Sozialen Wohnungsbau“ war es, private und privatrechtlich organisierte Bauträger zum Bau von bezahlbarem Wohnraum zu stimulieren: für eine bestimmte Klientel, für eine festgelegte Dauer und für bestimmte Miethöhen. Eine dauerhafte Bereitstellung von Wohnungsbeständen in öffentlicher, also staatlicher oder kommunaler Hand wie beispielsweise in Wien, war mit diesem Fördermodell nicht vorgesehen. Nach Rückzahlung der Darlehen und dem Ablaufen der Bindungsfrist erlangt der – in der Regel private – Bauherr die vollen Eigentums- und Verfügungsrechte über die von ihm erstellten Wohnungen. Der soziale Wohnungsbau kommt damit einer „staatlich bezuschussten Vermögensbildung Privater“[18] gleich.
Ab Ende der 1960er Jahre wurde in der Wohnungspolitik den Verwertungsinteressen von privaten Hauseigentümern, Kapitalanlegern und Kreditwirtschaft zunehmend Priorität eingeräumt: mit einem kontinuierlichen Rückgang bei staatlich geförderten Sozialwohnungen, einer stärkeren Einbeziehung von Kapitalmarktmitteln und einer subjektbezogenen Förderung in Gestalt von Wohngeld, womit ein gesellschaftliches Problem auf ein individuelles reduziert wurde.[19] Der Sozialwohnungsbestand, der sich in den alten Bundesländern in den 1980er Jahren noch auf etwa vier Mio. Wohnungen belief, ging aufgrund der rückläufigen Förderpolitik von Bund und Ländern sowie einer steigenden Zahl auslaufender Belegungsbindungen bis 2017 auf 1,2 Mio. zurück. Auch viele Kommunen haben mit ihrer Politik zum Rückgang bezahlbaren Wohnraums beigetragen. Kommunale Wohnungsbaugesellschaften wurden nach Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit und dem Auslaufen der Belegungsbindungen für ihre Wohnungsbestände zu profitorientierten Immobilienunternehmen oder – mit dem Verweis auf prekäre kommunale Haushalte – ab Ende der 1990er Jahre an internationale Finanzinvestoren verkauft. Und diese sehen in den von ihnen übernommenen Wohnungsbeständen vor allem Objekte der Kapitalanlage und -verwertung. Derzeit verfügen die großen börsennotierten Wohnungsbaukonzerne – wie Vonovia mit mehr als 400 000 Wohnungen und Deutsche Wohnen mit über 160 000 Einheiten[20] – über mehr als 950 000 Wohnungen. Dies sind bundesweit nur 4,1 Prozent aller Mietwohnungen; in einzelnen Städten beläuft sich dieser Anteil allerdings auf 10 bis 20 Prozent, in Berlin sogar auf 25 Prozent.
Die Interventionen der öffentlichen Hand greifen zu kurz
Die politischen Entscheidungsträger haben die Missstände auf dem Boden- und Wohnungsmarkt trotz ihres Umfangs lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen. Zwar wird in jüngerer Zeit eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen diskutiert und zum Teil auch praktiziert. Doch sind diese alle nicht dauerhaft angelegt und zur Bekämpfung der Boden- und Wohnungsproblematik unzureichend.
So setzen neu aufgelegte Förderprogramme für den sozialen Wohnungsbau nach wie vor auf zeitlich begrenzte Mietpreis- und Belegungsbindungen, die meist kaum länger als 15 Jahre währen. Städtebauliche Verträge, mit denen private Investoren bei Neubauvorhaben zur Schaffung von sozialem Wohnraum verpflichtet werden können (in der Regel 30 Prozent der errichteten Wohnbauflächen), lassen sich nur in bestimmten, planungsrechtlich festgesetzten Bereichen schließen. Die Zahl der auf diese Weise erstellten bezahlbaren Wohnungen bleibt weit hinter dem Bedarf zurück. Gleiches gilt für das Instrument des Vorkaufsrechts. Die von vielen Seiten erhobene Forderung nach einer aktiven Baulandpolitik der Städte und Gemeinden mit dem gebetsmühlenartig wiederholten Slogan „Bauen! Bauen! Bauen!“ vernachlässigt, dass gegenwärtig zum Teil sogar in beträchtlichem Umfang gebaut wird – allerdings nicht im Marktsegment mit dem größten Fehlbedarf, dem des bezahlbaren Wohnraums.
Der Effekt der vom Bundestag im März 2015 beschlossenen Mietpreisbremse, die für bestimmte, von den Bundesländern als „angespannte Wohnungsmärkte“ deklarierte Gebiete gilt, ist nach einer Evaluation des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2018 verschwindend gering.[21] Und auch bei den kommunalen, privatrechtlich verfassten Wohnungsunternehmen, die sich zunehmend als privatwirtschaftliche Unternehmen verstehen, geht mit dem Auslaufen von Belegungsbindungen der Anteil bezahlbarer Wohnungen sukzessive zurück.
Die Wirksamkeit der geforderten bodenpolitischen Instrumente – von einer veränderten Besteuerung von Grund und Boden bis zu einer verstärkten Bodenvorratspolitik – ist gleichfalls begrenzt. Die Grundsteuerreform, deren Ziel es ist, hohe Bodenwertzuwächse und damit leistungslose, durch kommunale Planungs- und Infrastrukturmaßnahmen bewirkte Gewinne abzuschöpfen, wird die gegenwärtig vorherrschende Funktion von Boden und Wohnungen als profitable Kapitalanlage nicht beseitigen. Forderungen nach einer Abkehr vom Verkauf in öffentlicher Hand befindlicher Grundstücke zu Höchstpreisen an Private oder nach der Einrichtung revolvierend angelegter Boden- und Infrastrukturfonds zum Aufbau eines angemessenen Bodenvorrats – der beispielhaft in Ulm bereits seit mehr als hundert Jahren realisiert wird –, sind bisher kaum umgesetzt worden.
Bilanzierend bleibt festzuhalten: Es gibt keine an den Ursachen der gegenwärtigen Wohnungs- und Bodenproblematik – dem Privateigentum an Grund und Boden und dessen zunehmender Finanzialisierung – ansetzende Strategie, kein übergreifendes und weitreichendes Konzept, sondern nur ein Patchwork aus Maßnahmen mit begrenzter Wirksamkeit. Zwischen ihrem quantitativen Umfang und dem vorhandenen Bedarf besteht ein eklatantes Missverhältnis. Die aktuellen Interventionen der öffentlichen Hand in einen privat organisierten, renditeorientierten Boden- und Wohnungsmarkt sind damit kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Stadt München ist hierfür ein schlagendes Beispiel: Trotz einer Vielzahl als beispielhaft erachteter bodenpolitischer Instrumente verfügt sie über den teuersten Bodenmarkt in Deutschland.
Ein radikaler Politik- und Paradigmenwechsel ist erforderlich
Was also tun? Ist angesichts des Problemumfangs und der Ursachen der Boden- und Wohnungsproblematik nicht ein Kipppunkt erreicht, bei dem ein radikaler, doppelter Politik- und Paradigmenwechsel erforderlich ist, der sowohl das Eigentum an Grund und Boden als auch die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum betrifft?
Von einschlägigen Bündnissen zur Bekämpfung der Wohnungsnot, kritischen Stadtforscher*innen und Politiker*innen wird neben einer Vielzahl von Strategien, die der Wohnraumzerstörung und der Verdrängung von Mieter*innen Einhalt gebieten sollen, ein radikaler Kurswechsel in der Wohnungspolitik und -wirtschaft gefordert: über den Umbau und die Demokratisierung kommunaler Wohnungsbaugesellschaften sowie die Schaffung eines bezahlbaren und der Renditelogik entzogenen Wohnungsbestandes mit einer dauerhaften Sozialbindung und einer demokratischen Verwaltung durch die Einbeziehung von Mieterbeiräten.
Unter den vorherrschenden Bedingungen von Wirtschaft, Arbeits- und Wohnungsmarkt sind Defizite bei bezahlbarem Wohnraum kein befristetes, sondern ein dauerhaftes Phänomen, das auch einer dauerhaften Lösung bedarf. Die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum muss daher als Teil der sozialen Daseinsvorsorge verstanden werden und sollte in den Händen öffentlicher und/oder zivilgesellschaftlicher, nicht profitorientierter Träger liegen. Ein Blick auf die Wohnungspolitik anderer europäischer Länder – etwa den kommunalen Wohnungsbau in Wien oder das Council Housing in Großbritannien – zeigt, dass ein solcher öffentlich getragener und nicht profitorientierter Wohnungsbau auch unter kapitalistischen Bedingungen möglich ist – vor allem dann, wenn es starken externen Druck etwa von Mieterbündnissen gibt.
Auch beim Grund und Boden ist ein radikaler Politik- und Paradigmenwechsel erforderlich: mit einer lage- und marktabhängigen Infragestellung des Privateigentums an Grund und Boden sowie einer Erweiterung des kommunalen Handlungs- und Planungsspielraums. Beispiele aus dem Ausland wie der kommunale Wohnungsbau in Wien oder die auf staatlichem Bodeneigentum basierenden Erbbaurechtspolitiken von Singapur[22] oder den Niederlanden könnten hier als Vorbilder dienen. Boden steht in diesen (Stadt-)Staaten zum einen kostengünstig für bezahlbaren Wohnraum und Einrichtungen der Daseinsvorsorge zur Verfügung und kann zum anderen im Erbbaurecht an Private verpachtet werden.
Nach dem Grundgesetz ist eine solche Bodenpolitik auch hierzulande vorstellbar. Artikel 14 Abs. 2 GG bestimmt, dass „Eigentum verpflichtet“ […] und „sein Gebrauch […] dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ soll. Nach Artikel 15 kann „Grund und Boden […] zum Zwecke der Vergesellschaftung [...] in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“. Ein in jüngerer Zeit häufig zitierter Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1967 verweist darauf, dass „die Tatsache, dass der Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrlich ist, [es] verbietet […], seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der Kräfte […] vollständig zu überlassen: eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern“.[23] Angesichts der zunehmenden Beeinträchtigung des Gemeinwohls und der Wohn- und Lebensverhältnisse von immer mehr städtischen Bewohner*innen durch die Entwicklungen auf dem Boden- und Wohnungsmarkt ist es an der Zeit, die Interessen der Allgemeinheit über private Profitinteressen zu stellen. Boden- und Wohnungseigentum, das allein der Kapitalverwertung dient, müsste daher – vor allem in den Ballungszentren – sukzessive dem Kapitalverwertungskreislauf entzogen und dauerhaft in kommunales bzw. Gemeinschaftseigentum überführt werden. Zur politischen Durchsetzung dieses Ziels gibt es das Instrument der Enteignung gegen Entschädigung, das beim Bau von Autobahnen oder bei Einrichtungen der Kohle – und Atomwirtschaft – anders als im Wohnungssektor – schon seit langem zum Einsatz kommt.
Konkrete Vorschläge aus jüngerer Zeit gibt es bereits: Auf breite Unterstützung auch von Mieterorganisationen stößt das bereits eingangs erwähnte Volksbegehren der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ in Berlin. Dieses wurde im September 2020 von der Senatsverwaltung für rechtlich zulässig erklärt; am 25. Juni endete die zweite Stufe, in der rund 180 000 Unterstützungsunterschriften gesammelt werden mussten. Da dies gelungen ist, wird am 26. September parallel zur Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl in Berlin über die Vorlage der Initiative ein Volksentscheid durchgeführt, der allerdings in Bezug auf eine tatsächliche Enteignung rechtlich unverbindlich wäre. Noch ist unklar, ob am Ende ein verfassungsmäßiger Entwurf für ein „Vergesellschaftungsgesetz“ steht. Eine Rating-Agentur hat bereits gedroht, Berlin im Erfolgsfall herunterzustufen.
Der Tübinger Oberbürgermeister Palmer will Grundstückseigentümer, die ihre Baurechte aus spekulativen Gründen nicht ausüben, mit einem Baugebot nach Paragraph 176 BauGB verpflichten, diese Baurechte innerhalb einer von der Kommune festgesetzten Frist von vier Jahren auf der Basis geltender Bebauungspläne auszuüben. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, droht ihnen ein Bußgeld. Bleibt auch dieses folgenlos, sollen die Grundstücke von der Kommune gegen eine Entschädigung zum Verkehrswert enteignet werden.
Von einem Mitglied des „Münchner Aufrufs für eine andere Bodenpolitik“ kommt schließlich der Vorschlag, die privatrechtliche Verfügungsgewalt über Grund und Boden zu reduzieren[24] und – unter Verweis auf die Bodenpolitik Dänemarks – das private Bodeneigentum auf den Eigenbedarf zu begrenzen. „Das im Erbfall über den Eigenbedarf der Erben hinausgehende Grundvermögen würde […] gegen Entschädigung verstaatlicht und in Erbpacht zur Nutzung vergeben. […] Nicht mehr möglich wäre die Hortung von und das Spekulieren mit Grund und Boden und damit das Erzielen leistungsloser Einkünfte.“[25] Für einen staatlichen Eingriff in die private Bodenverwertung ist Dänemark kein Einzelbeispiel. In Singapur befindet sich nahezu der gesamte Grund und Boden des Stadtstaates in öffentlicher Hand. Eine solche Bodenpolitik würde die kapitalistische Wirtschaftsform beseitigen, argwöhnen Kritiker seither. Ihr Widerspruch traf bereits 1972 die im Kontext der bodenpolitischen, auf eine Aufspaltung des Bodeneigentums in ein Verfügungs- und ein Nutzungseigentum zielenden Vorschläge des damaligen Münchner Oberbürgermeisters und späteren Bundesbau- und Justizministers Hans-Jochen Vogel.[26] Diese Befürchtungen haben sich aber weder in Dänemark noch in Singapur bewahrheitet. Dafür bedarf es weiterer Kämpfe. Es handelt sich vielmehr um Staaten mit einer spezifischen Bodenordnung, die maßgebliche Vorteile für die Wohnungsversorgung der dortigen Bevölkerung bedeutet.
[1] Der folgende Beitrag basiert in Teilen auf der bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienenen Studie von Werner Heinz und Bernd Belina, Die kommunale Bodenfrage – Hintergrund und Lösungsstrategien, Berlin 2018.
[2] Eigentum verpflichtet, Gespräch mit Hans-Jochen Vogel, in: „ARCH+ 231“, 4/2018, S. 54-59, hier: S. 55.
[3] Mieten in großen deutschen Städten enorm gestiegen, www.zeit.de, 23.8.2018.
[4] Vgl. Stefan Sauer, Armutsgefahr Wohnen, in: „Frankfurter Rundschau“, 13.9.2017.
[5] Hartmut Häußermann, Effekte der Segregation, in: „Forum Wohnungseigentum“ 5/2007, S. 237.
[6] Zit. nach Thomas Flierl und Philipp Oswald (Hg.), Hannes Meyer und das Bauhaus im Streit der Deutungen!, Leipzig 2019.
[7] Vgl. Heinz/Belina, a.a.O., S. 9.
[8] Stefan Krätke, Strukturwandel der Städte, Frankfurt a. M. und New York 1991, S. 174.
[9] Ebd.
[10] Helmut Brede, Barbara Dietrich und Dietrich Kohaupt, Politische Ökonomie der Boden- und Wohnungsfrage, Frankfurt a. M. 1976, S. 88.
[11] David Harvey, Marx, Capital and the Madness of Economic Reason, London 2017.
[12] Interview mit einem Deutsche-Wohnen-Vertreter, in: 3sat, 23.9.2020.
[13] Bundesverband der gemeinnützigen Landgesellschaften, Aktuelles zum landwirtschaftlichen Bodenmarkt und Bodenrecht, Berlin 2018, S. 3.
[14] Heinz J. Bontrup, Wohnst Du noch...?, Hamburg 2018, S. 44 ff.
[15] Detlev Ipsen und Christiane Mussel, Thesen zur Wohnungssituation, zur alten Wohnungspolitik und zur Notwendigkeit einer neuen, in: „Leviathan“, 3-4/1981, S. 386-404.
[16] Werner Heinz, (Ohn-)mächtige Städte in Zeiten der neoliberalen Globalisierung, Münster 2015, S. 99.
[17] Ruth Becker, Grundzüge der Wohnungspolitik in der BRD seit 1949, in: „ARCH+ 57/58“, 7/1981, S. 64-68.
[18] Hartmut Häußermann und Walter Siebel, Unpolitische Wohnungspolitik, in: „Leviathan“, 3-4/1981, S. 317-331, hier: S. 325.
[19] Björn Egner, Wohnungspolitik seit 1945, in: „APuZ“, 20-21/2014, S. 13-19; hier: S. 15 f.
[20] www.listenchampion.de, 13.6.2020.
[21] Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Evaluierung der Mietpreisbremse, Berlin 2018.; Amt für Wohnungswesen Frankfurt am Main, Tätigkeitsbericht 2018, Frankfurt a. M. 2019, S. 40.
[22] Anne Haila, Singapore as a Property State, Oxford 2016, S. 75 f.
[23] Zit. nach Christa Luft, Wider den Marktradikalismus. Herausforderungen für ökonomische Theorie und linke Wirtschaftspolitik, Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hg.), Analysen 46, Juli 2018, S. 14.
[24] Bernadette-Julia Felsch, Wege zu einer gerechten Bodenordnung, München 2010, S. 119 ff.
[25] Ebd., S.120.
[26] Florian Hertweck, Hans-Jochen Vogels Projekt eines neuen Eigentumsrechts des städtischen Bodens, in: „ARCH+ 231“, 4/2018, S. 46-53, hier: S. 50; Hans-Jochen Vogel, Mehr Gerechtigkeit, Freiburg im Breisgau 2019, S. 19.