Ausgabe August 2021

Der Zombie der Klimadebatte: Falsche Verheißung Atomkraft

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Es war eine historische Entscheidung mit übergroßer Mehrheit: Vor zehn Jahren, am 30. Juni 2011, stimmte der Deutsche Bundestag für das endgültige Aus der Nutzung von Atomenergie in deutschen Kraftwerken. Nach dem Schock der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima vom 11. März 2011 zog die schwarz-gelbe Bundesregierung damit die Notbremse: Sie machte die Verlängerung der Laufzeiten für die damals 17 aktiven deutschen Atomkraftwerke (AKW), die sie erst im Herbst zuvor in Abkehr vom rot-grünen Atomausstiegsbeschluss von 2001 verkündet hatte, wieder rückgängig. Bis 2022 soll nun auch das letzte deutsche AKW abgeschaltet werden. Einen „sehr guten Tag für Deutschland“ nannte das im Bundestag der damalige CDU-Umweltminister Norbert Röttgen, weil der jahrzehntelange Streit um die Atomkraft in eine gemeinsame Entscheidung gemündet war. Der SPD-Parteichef Sigmar Gabriel sprach im Gegenzug jedoch von einem „energiepolitischen Waterloo“ der Regierung und proklamierte, „der Ausstieg ist unser Ausstieg und so wird es bleiben.“ Und die Grünen-Vorsitzende Renate Künast sah in der Entscheidung nur einen ersten Schritt hin zur Energiewende sowie einer zukunftsfähigen, dezentralen und nachhaltigen Energieversorgung.

Bei der damaligen Debatte spielte die Frage der Erderhitzung noch kaum eine Rolle. Im Gegenteil: In den vergangenen zehn Jahren nahm der Stromkonzern RWE noch neue Braunkohlekraftwerke in Betrieb, die von Peter Altmaier in seiner Zeit als Umweltminister sogar als „Beitrag zum Klimaschutz“ gepriesen wurden. Und die Betreiber des neuen Steinkohlekraftwerks „Datteln 4“ marschieren sehenden Auges in ein Verlustgeschäft, da ihre Anlage schon bei der Eröffnung 2020 klimapolitisch völlig aus der Zeit gefallen war.

Vor allem aber standen vor zehn Jahren die Themen Atomkraft und Klima berührungslos nebeneinander, obwohl schon 2007 das Deutsche Atomforum, die Lobby der Kernenergie, in einer großen Anzeigenserie für „Deutschlands ungeliebte Klimaschützer“ – nämlich ihre Atomkraftwerke – geworben hatte. Und eines immerhin stimmt: Strom aus Kernkraft erzeugt deutlich weniger CO2 als Elektrizität aus Kohle. 2007 waren das nach einer Studie des Öko-Instituts etwa 32 Gramm pro Kilowattstunde, bei Braunkohle dagegen bis zu 1100 Gramm.[1] Wäre Deutschland 2011 so beherzt aus der Kohle ausgestiegen wie aus der Atomkraft, würden die deutschen Klimaziele kein Problem darstellen, monierte die „World Nuclear Association“ (WNA): Die deutschen Emissionen lägen pro Jahr um 80 Mio. Tonnen niedriger, kalkulierte die weltweite Atomlobby.

Daher ist es wenig erstaunlich, dass mit schöner Regelmäßigkeit die Forderung aufkommt, Deutschland und die Welt sollten wieder auf Atomkraft setzen, um schneller aus der Kohle auszusteigen. Die Idee von der „Nukleartechnik als Klimaretter“ ist dabei ein Zombie der Klimadebatte, der immer wieder aufersteht, Angst und Schrecken verbreitet, Aufwand für jene Klimaschützer erzeugt, die sich auch um die Umwelt sorgen, und dann wieder in der Versenkung verschwindet.

Die jüngste mediale Reanimation dieser untoten Idee haben wir Microsoft-Gründer Bill Gates zu verdanken. Pünktlich zum zehnten Jahrestag der Fukushima-Katastrophe propagierte der US-Milliardär in seinem neuen Buch, „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“, neben konventionellen Ideen (Effizienz, neue Techniken, CO2-Preis) auch die „einzige CO2-freie Energiequelle, die zuverlässig und rund um die Uhr elektrischen Strom liefern kann“: Ein von seiner Firma Terrapower geplanter „Laufwellenreaktor“ (Travelling Wave Reactor, TWR) könne automatisch laufen, unterirdisch arbeiten und sogar mit Atommüll betrieben werden und habe „alle wichtigen Probleme gelöst“, schreibt Gates.

Er steht damit nicht allein: US-Präsident Joe Biden erklärte, sein Land werde bei seiner Klimapolitik diese Planungen für kleine modulare Reaktoren (die sogenannten Small Modular Reactors, SMR) betrachten. Die Internationale Energieagentur IAEA sieht die Nukleartechnik ohnehin als Retter in der Klimakrise. Europäische Atomnationen wie Frankreich versuchen, die Nukleartechnik unter dem Titel der „nachhaltigen Energie“ in der EU-„Taxonomie“ zur Bestimmung von nachhaltigen Geldanlagen durchzusetzen. Nicht ohne Grund schreibt „Die Zeit“ daher vom „Comeback einer riskanten Idee“, während „Der Spiegel“ fragt, ob sich der Atomausstieg in der Klimakrise räche.[2] Umweltschützer zeigten sich im Frühjahr 2019 entsetzt, als die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg twitterte: „Laut IPCC kann die Atomkraft ein sehr kleiner Teil einer sehr großen neuen kohlenstofffreien Energielösung sein“ – nur um später hinzuzufügen, sie persönlich sei gegen Atomkraft.

Ein Haufen ungelöster Probleme

Tatsächlich hat der Weltklimarat IPCC zuletzt in seinem Bericht von 2018 darauf hingewiesen, dass für die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels die Nukleartechnik bis 2050 um 90 bis 190 Prozent gegenüber 2010 ausgebaut werden müsste – erneuerbare Energien dagegen um etwa 1300 Prozent. Für 2050 sieht der Expertenrat in seinen Szenarien für die Atomkraft aber nur einen Anteil von 4,5 Prozent an der Primärenergie – bei den Erneuerbaren sind es etwa 60 Prozent. Schon 2014/15 forderte der IPCC allerdings, Atomkraft weiter zu nutzen und auszubauen erfordere „größere Anstrengungen, um die Sicherheit, Wirtschaftlichkeit, Urannutzung, Abfallbehandlung und die Risiken der Weiterverbreitung zu adressieren“. Der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Stromversorgung ist bisher von 17 auf 10 Prozent zurückgegangen, und ob es zu einem großflächigen Einsatz von kleinen Reaktoren komme, „bleibt unsicher“, schreiben die Experten.

Ähnlich argumentiert auch Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD). „Braucht es ein Atomkraft-Revival für den Klimaschutz?“, hatte die „Neue Osnabrücker Zeitung“ sie pünktlich zum Jahrestag der Fukushima-Katastrophe gefragt. Schulzes Antwort: Nein. Solcherart Debatten seien schlicht „Märchen“: Derzeit würden „kleine Reaktoren propagiert, die Atommüll fressen und ungefährlich sein sollen“, erklärte sie. Aber auch diese Ideen lösten die alten Probleme der Atomkraft nicht, meinte Schulze – und auch nicht die Klimakrise.[3]

Zumindest für Deutschland und auch für den europäischen Strommarkt bietet die Atomkraft tatsächlich keine Abkürzung auf dem Weg zum Klimaschutz. Das liegt nicht zuletzt daran, weil eine Rückkehr zur Atomkraft einen überraschenden Gegner hat: die Atomindustrie selbst. „Eine Laufzeitverlängerung ist für uns keine Option“, sagte Guido Knott, Chef der PreussenElektra, im Herbst 2020 im Wirtschaftsmagazin „Capital“. „Wir akzeptieren diese politische Entscheidung, die von einer breiten Mehrheit getragen wurde“.[4] Derzeit sei man voll mit dem Rückbau der Anlagen beschäftigt. Einen Neubau von Atomkraftwerken in Deutschland verweisen auch die anderen Energiekonzerne ins Reich der Phantasie: Das sei nur machbar mit staatlichen Firmen oder mit massiver staatlicher Hilfe. In einem liberalisierten Energiemarkt wie in der EU sind neue AKW die absolute Ausnahme – schlicht deshalb, weil sie sich nicht rechnen.

Für Mycle Schneider, den renommierten internationalen Atomexperten und Träger des alternativen Nobelpreises, kommen Meldungen über die Wiederauferstehung der Atomkraft daher „aus dem LaLa-Land der Desinformation“. Es gebe auch international keine Renaissance, sondern „einen organischen Ausstieg“, wenn die Reaktoren ihr Lebensalter erreichten. Denn die Kosten und Risiken auf freien Märkten seien zu hoch für Neubauten und erneuerbare Energien längst viel günstiger geworden: „In den vergangenen zehn Jahren sind 63 Reaktoren ans Netz gegangen, aber es wurden auch 59 abgeschaltet“, sagt Schneider, der mit seinem jährlichen „World Nuclear Industry Status Report“[5] die Branche seit Jahrzehnten im Blick hat. „56 der 63 neuen AKWs befinden sich in oder stammen aus Ländern mit Atomwaffen, darunter allein 37 in China. Für den Bau von Atomkraftwerken gibt es geopolitische, strategische, militärische und sonstige Beweggründe, aber nicht den Klimaschutz“, so Schneider.[6]

Der lasse sich höchstens anführen, um Laufzeiten von bereits bestehenden AKWs zu verlängern. So argumentierte auch Armin Laschet noch als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und beklagte, dass aus Klimaschutzgründen eigentlich der Kohleausstieg vor dem Atomausstieg hätte kommen müssen.[7] Allerdings kämpft gerade Laschet in seinem Bundesland nach wie vor für die Kohle. Und selbst wenn abgeschriebene AKWs günstig CO2-armen Strom produzieren, erinnert Schneider, seien manche Projekte wie Solarstrom in Portugal und Spanien inzwischen so preiswert, dass sie selbst bereits abgeschriebenen Atomanlagen Konkurrenz machten.

Vernichtendes Fazit

Auch das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) kommt zu einem vernichtenden Fazit, wenn es um vermeintlich innovative Reaktoren geht, die ein neues Konzept („Partitionierung und Transmutation“, P&T) verwenden oder klein ausfallen (SMR): „In absehbarer Zeit können möglicherweise zur Verfügung stehende Atomtechnologien weder die Altlasten der Atomenergienutzung beseitigen noch die jetzt anstehenden Zukunftsfragen des Klimawandels beantworten“, sagte BASE-Präsident Wolfram König.[8]

Dessen ungeachtet hoffen die Befürworter der P&T-Technik – zu denen neben der AfD auch der CDU-Wirtschaftspolitiker Friedrich Merz gehört –, dass neue Reaktortypen mit dem jetzigen Atommüll betrieben werden könnten.[9] Das aber sei unbewiesen, brauche eine Verlängerung der Atomkraftnutzung um Jahrzehnte, verzögere die Endlagerung und verringere selbst im besten Fall den hochstrahlenden Müll nur teilweise, warnt das BASE-Gutachten. Und auch bei der SMR-Technik gebe es große Fragezeichen: Zwar falle an den einzelnen kleinen Standorten weniger Müll an. Aber das strahlende Material werde bei dezentralen Anlagen, die statt einem Gigawatt Leistung, wie bei großen AKWs, nur zwischen 1,5 und 300 Megawatt für die Versorgung kleiner Städte lieferten, auch über viele Gegenden verteilt. Es gebe umso mehr Risiken beim Transport, bei der Entsorgung und beim Zugriff auf waffenfähige Stoffe. Vor allem „müssten weltweit tausend bis zehntausend dieser SMR-Anlagen gebaut werden“, um die Leistung der derzeit 440 Atommeiler weltweit zu ersetzen, die nur etwa zehn Prozent der globalen Stromproduktion ausmachen.[10]

Den Ideen der Atomfans für eine umfassende Renaissance fehlt es daher an allem: Es gibt keine belastbaren Kostenrechnungen, die ein Revival bezahlbar erscheinen lassen. Ganz im Gegenteil ergab 2019 eine Untersuchung des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW, dass „keines der bisher über 600 weltweit gebauten Atomkraftwerke wettbewerbsfähig“ sei, wenn sie ohne direkte und indirekte Subventionen liefen.[11] Mehr noch: Es fehlt schon an technischen Durchbrüchen, die mehr Sicherheit garantieren und an realistischen Vorstellungen darüber, welche Versicherung im Katastrophenfall für den Schaden aufkommt – im Fall von Fukushima gehen Schätzungen von etwa 500 Mrd. US-Dollar an direkten und indirekten Kosten aus.[12]

Außerdem gibt es nach wie vor keine Lösung für den alten und neuen radioaktiven Müll – das Problem der sicheren Endlagerung besteht weltweit. Hierzulande ist jüngst ein Suchprozess angelaufen, in dem ein Endlager für hochradioaktiven und vielleicht eine zweite Lagerstätte für schwach strahlenden Abfall gefunden werden sollen. Dieses demokratische Verfahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit und versprochener maximaler Transparenz wird Jahrzehnte andauern.[13]

Das deutlichste Argument gegen den Klimaretter Atomkraft aber ist die Dringlichkeit der Klimakrise. Denn keine der angeblichen Zukunftstechniken ist so weit entwickelt, dass sie im größeren Maßstab bald einsetzbar wäre. Das gesteht auch Bill Gates ein: „Wir sind noch etliche Jahre entfernt von der Grundsteinlegung für ein TWR-Kraftwerk“, schreibt der Microsoft-Gründer in seinem Buch. Noch gebe es nicht einmal einen Prototyp für diese Energiequelle, die angeblich alle Probleme lösen soll.

Viele weitere Jahre aber kann die Menschheit nicht warten. Dieses Jahrzehnt wird für den Klimaschutz das entscheidende sein: Nach den Berechnungen des IPCC müssen bis 2030 die weltweiten CO2-Emissionen etwa halbiert werden, damit die Welt ihre Chance wahrt, die Erderwärmung auf 2 oder 1,5 Grad zu begrenzen.[14]Um sofort mit den CO2-Reduktionen zu beginnen, kommen aber selbst im günstigsten Fall all die neuen Atomideen mindestens ein Jahrzehnt zu spät. Es ist also allerhöchste Zeit, den Zombie Atomkraft endlich ruhen zu lassen.

[1] Vgl. Öko-Institut e.V., Treibhausgasemissionen und Vermeidungskosten der nuklearen, fossilen und erneuerbaren Strombereitstellung, Darmstadt 2007, www.oeko.de.

[2] Caterina Lobenstein und Xifan Yang, Atomkraft. Sie ist wieder da, in: „Die Zeit“, 10/2021; Marius Mestermann, Rächt sich der Atomausstieg in der Klimakrise?, www.spiegel.de, 3.6.2021.

[3] Tobias Schmidt, Braucht es ein Atomkraft-Revival für den Klimaschutz?, www.noz.de, 11.3.2021.

[4] Benjamin Konietzny, Warum der Ausstieg aus dem Atomausstieg keine gute Idee ist, www.capital.de, 27.10.2020.

[6] Im Interview mit dem Autor.

[7] Vgl. Marina Kormbaki, Laschet beklagt falsche Reihenfolge bei Atom- und Kohleausstieg, www.rnd.de, 2.12.2019.

[8] Vgl. BASE, Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung von Konzepten zu Partitionierungs- und Transmutationsanlagen für hochradioaktive Abfälle, www.base.bund.de, 10.3.2021. Zitat aus der Presseerklärung des BASE.

[9] Bernhard Pötter, Seine nuklearen Träume, www.taz.de, 14.3.2020.

[10] BASE, a.a.O.

[11] Claudia Kemfert u.a., Zu teuer und gefährlich: Atomkraft ist keine Option für eine klimafreundliche Energieversorgung, in: „DIW-Wochenbericht“, 30/2019, S. 511-520.

[12] Japan revises Fukushima cleanup plan, delays key steps, www.apnews.com, 27.12.2019.

[13] Vgl. Wolfgang Ehmke, „Not in my Backyard“: Wohin mit dem Atommüll?, in: „Blätter“, 3/2021, S. 113-120.

[14] Vgl. Global Warming of 1.5°C, www.ipcc.ch.

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