Ausgabe August 2021

Modern Monetary Theory: Das Ende der Umverteilung?

In der Juli-Ausgabe der »Blätter« plädierte Dirk Ehnts für die Modern Monetary Theory, die »mit einer Reihe geldpolitischer Missverständnisse« aufräume. Diese neue Theorie des unbegrenzten Schuldenmachens nährt aber selbst Illusionen – und drückt sich vor notwendiger ökonomischer Umverteilung, kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler Axel Stommel.

Zur Deckung seines Finanzbedarfs stehen dem Staat grundsätzlich zwei Instrumente zur Verfügung: die Einnahme von Steuern und die Aufnahme von Krediten. Eines dieser beiden Instrumente verstärkt einzusetzen, ist politisch riskant, selbst wenn der Bedarf an zusätzlichen Finanzen, wie derzeit, deutlich zu erkennen ist. Denn wer mit dem Versprechen, „die Steuern“ zu erhöhen, in den Wahlkampf zieht, hat bereits verloren. Über kaum bessere Karten verfügt, wer verspricht, die Staatsverschuldung zu erhöhen. Und wer, um beides zu vermeiden, weiterhin öffentliches Sparen propagiert, kann derzeit ebenfalls schwerlich Preise gewinnen. Allzu deutlich nämlich hat die Coronakrise den immensen Investitionsbedarf hierzulande offengelegt: Die Mängel der Digitalisierung, des Schulwesens und der Gesundheitsdienste mögen exemplarisch als Stichworte dienen.

Mit diesem Dilemma – oder genauer: Trilemma – haben im Wahlkampf derzeit alle Parteien zu kämpfen. Die Modern Monetary Theory (MMT) verspricht da einen leichten Ausweg, wie auch Dirk Ehnts in seinem Text in den Juli-„Blättern“ darlegt, indem sie die engen Verbindungen zwischen Staat und Steuern auflöst. Ein wahrhaftiger Geniestreich also?

»Die MMT verfügt über den Charme verblüffender Einfachheit.«

Tatsächlich verfügt die MMT über den Charme verblüffender Einfachheit: Dieser makroökonomische Theorieimport aus den USA fußt auf der These, dass „der Staat Schöpfer der Währung ist“ und daher „keine Steuern zur ‚Finanzierung‘ [braucht].“[1] Wachsende Ausgaben über steigende Steuereinnahmen zu ermöglichen, ist diesem Theoriekonstrukt zufolge sogar schädlich, auch in der Corona- und Klimakrise. Stattdessen soll der Staat sein Geld aus dem Nichts schöpfen, ganz so, „wie er es für sinnvoll hält“, also erforderlichenfalls schier unbegrenzt. Dazu müssten wir lediglich, so fordert Ehnts, „unsere Staatsschuldenphobie überwinden“.

Damit dies gelingt, wechselt die MMT die Perspektive und betrachtet unterlassene Investitionen selbst als Schulden: Denn in dem Maße, in dem die gegenwärtige Generation notwendige Investitionen unterlässt, mindert sie den derzeitigen und den künftigen Wohlstand und hinterlässt ihren Kindern die Last, die versäumten Investitionen teuer nachzuholen. Allerdings werden die Schulden, die in Gestalt unterlassener Investitionen vorliegen, weder amtlich erfasst noch sonst irgendwie ausgewiesen. Deshalb werden diese Schulden nicht wahrgenommen, treten nicht in Erscheinung, sind unsichtbar. Gleichwohl sind sie vorhanden. Werden die unsichtbaren Schulden mit Hilfe von kreditfinanzierten Investitionen gemindert oder beseitigt, so erhöht sich die gesellschaftliche Verschuldung gemäß MMT logischerweise nicht. Sie verändert nur ihre Form: Verdeckte Schulden (die unterlassenen Investitionen) werden in offene Schulden (die neuen Kredite) umgewandelt. Erst bei dieser Wandlung tritt diese Verschuldung zutage: Sie wird sichtbar, transparent. Erhöhte Transparenz aber ist immer gut. Und weil es nun mal weniger kostet, Schlag-, Justiz-, Gesundheits-, Bildungs-, Digitalisierungs-, Funk- und sonstige Löcher jetzt zu beseitigen, als zu warten, bis sie riesig und die Folgeschäden immens geworden sind, werden die mit Hilfe ausgewiesener Verschuldung finanzierten Investitionen für die ganze Gesellschaft erheblich billiger.

Im Ergebnis erscheint die Umwandlung verdeckter in offene Schulden mit Hilfe weiterer, erhöhter Staatsverschuldung als höchst wirtschaftlich, nämlich als kostensparend, nachhaltig und effektiv zugleich. Neue, ausgewiesene Schulden erscheinen mithin als zielführender Weg zum gesellschaftlichen Fortschritt.

Zusätzlich entfaltet die erhöhte Kreditfinanzierung zwei ungemein attraktive Nebeneffekte. Zum einen braucht sich nämlich von jetzt an niemand mehr Gedanken über Fragen der Steuergestaltung und der Steuergerechtigkeit zu machen: Wenn der Staat sich das benötigte Geld einfach leihen soll und wenn er es auch problemlos leihen kann, weil anlagesuchendes Kapital ja in Hülle und Fülle vorhanden ist, dann braucht der Staat die erforderlichen Mittel auch nicht mehr über Steuern einzutreiben – dieses ewige Streitthema ist endlich vom Tisch: „Fehlt es an Geld, leiht man sich welches“, lautet die neue Gebrauchsanweisung der MMT für ihre Follower namentlich bei den Grünen, wie in der Presse mit süffisant-kritischem Unterton bemerkt wurde.[2] Zugleich – um zur anderen Nebenwirkung zu kommen – hilft der Staat, indem er sich weiter verschuldet, den vermögenden Anlegern aus ihrer ewigen Anlagenot.

»Die Regierungen können geben, ohne zu nehmen. Das ist easy financing pur.«

Folgt man dieser Argumentation, so ist es reine Zeitverschwendung, an Steuern auch nur zu denken. Auch über Inflationsgefahren infolge einer ungezügelten „Geldschöpfung“ sollen wir uns nicht sorgen. Vor allem aber beseitigt die MMT das eingangs beschriebene Trilemma: Die revolutionär neue Finanzpolitik zeigt sich von Haushaltssorgen befreit; die Regierungen können fortan endlich unbeschwert den öffentlichen Investitionsstau auflösen, und zwar ohne erhöhte Steuern. Sie können geben, ohne zu nehmen. Das ist easy financing pur.

Damit ist die ersehnte Umwertung der Werte vollzogen! Friedrich Nietzsche hätte daran seine wahre Freude gehabt: Neue, erhöhte Verschuldung ist alte, unveränderte, aber offenbarte Verschuldung. Zumal die Umwertung kostenlos zu haben ist: Es bedarf lediglich eines Wechsels der Perspektive mitsamt der zugehörigen gedanklichen Neubewertung der Staatsverschuldung. Ansonsten ändert sich nichts.

»Die MMT wird nicht zuletzt aus sozialpsychologischen Gründen begrenzt bleiben.«

Doch so bestechend die MMT auch sein mag: Die Anzahl derer, die sich ihr anschließen, dürfte schon aus drei sozialpsychologischen Gründen begrenzt bleiben.

Erstens ist an „die Menschen da draußen im Lande“, wie Helmut Kohl zu sagen pflegte, zu denken. Sie erweisen sich in Fragen der Staatsverschuldung als ziemlich nachhaltig unbelehrbar, ja als geradezu störrisch gegenüber staatlichen Kreditaufnahmen. Allzu oft haben sie erleben müssen, wie ihnen öffentliche, Renten- und Sozialleistungen mit Verweis auf angespannte Finanzlagen verweigert oder gekürzt wurden. Die tief im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verwurzelten historischen Erfahrungen mit Inflation und Staatsbankrott tun ein Übriges.

Im Ergebnis haben sich die meisten Menschen eine schwer zu erschütternde Vorstellung davon bewahrt, was die Grundlage von Staat und Gesellschaft ist: Arbeit und Rechtschaffenheit, Steuern und Abgaben. Schuldenmachen gehört nicht dazu – auch wenn der meist vorschnelle Schluss vom privaten Portemonnaie auf das staatliche Budget in der Sache nicht ganz korrekt ist.[3]

Zweitens sind es die politischen Parteien – und zwar nicht allein des konservativen Spektrums, sondern auch Teile der Sozialdemokratie und der Linken –, die diese neue Sicht auf die Staatsverschuldung ablehnen. Gerade für die CDU/CSU gehört eine „seriöse“ Haushaltspolitik, sprich das prinzipielle Festhalten an der schwarzen Null und der Schuldenbremse sogar zum eh schon mächtig geschrumpften, verbliebenen Markenkern.[4]

Drittens gibt es zwar eine notwendige Staatsverschuldung. Aber sie soll in den Augen der Mehrheit nur als Ausnahme bestehen, als eine jener sprichwörtlichen Ausnahmen, die die Regel bestätigen.[5]

»Die Anforderungen, die Corona- und Klimakrise an staatliches Handeln stellen, sind grundverschieden.«

Noch schwerer wiegt die ökonomische Frage: Helfen schuldenfinanzierte staatliche Ausgabenprogramme in der aktuellen Mehrfachkrise überhaupt, also namentlich gegen die Folgen der Corona-Pandemie und des Klimawandels? Die Antwort fällt eindeutig aus: Eine hohe Staatsverschuldung ist zwar grundsätzlich brauchbar gegen Corona, aber gar nicht für das Klima. Denn die Anforderungen, die Corona- und Klimakrise an staatliches Handeln in Wirtschaft und Gesellschaft stellen, sind grundverschieden.

Bei der Coronakrise ging es, kurz gesagt, darum, die im Zuge des Lockdowns stillgelegten Produktions- und Leistungskapazitäten betriebsbereit zu halten und zu gegebener Zeit wieder anlaufen zu lassen. Bei der Klimakrise dagegen geht es – genau umgekehrt – darum, in Betrieb befindliche, ökologisch nicht zu verantwortende Produktionskapazitäten und Dienstleistungen dauerhaft stillzulegen bzw. einzuschränken. Während es bei der Bewältigung der Coronakrise also um neuerliches Wachstum geht, stehen bei der Bekämpfung der Klimakrise die ökonomische Schrumpfung, Zusatzkosten sowie gar der Verzicht im Zentrum.[6] Und die Klimakrise ist es, die übergreift.

Gleichwohl verlangen sowohl Corona- als auch Klimakrise neue, massiv erhöhte öffentliche Ausgaben. Die Notwendigkeit erhöhter Steuereinnahmen zu ihrer Finanzierung ist also keineswegs gebannt. Folglich erweist sich das unvermindert wachstumsorientierte Gedankenkonstrukt der MMT nur in besonderen Fällen als zielführend. Das steht allerdings im Widerspruch zur MMT selbst, deren bedingungslose Verschuldungsbefürworter die Ausnahmen zur Regel erklären wollen.[7]

»Steuern sind das effektivste bislang bekannte, zivilisierte Mittel gegen das Auseinanderdriften der Gesellschaft.«

Die Faszination für die Modern Monetary Theory speist sich aus einer weiteren Quelle: Die Theorie des unbeschränkten Gelddruckens umgeht nämlich bequem die Umverteilungsdebatte. Aus diesem Grund findet die MMT gerade auch unter Vermögenden und ihren Organisationen leidenschaftliche Anhänger.[8]

Was diese dabei geflissentlich übersehen (wollen): Gegen die zunehmende Spaltung der Gesellschaft wäre staatliches Gegensteuern mit Hilfe von Steuern für Vermögende selbst dann geboten, wenn es weder die Corona- noch die Klimakrise gäbe.

Die Feststellung des 32. Präsidenten der USA, des für seine Aphorismen berühmten Franklin D. Roosevelt, hat bis heute nicht an Aktualität verloren: „Steuern sind der Preis, den wir für eine zivilisierte Gesellschaft zahlen müssen.“ Denn Steuern sind das effektivste bislang bekannte, zivilisierte Mittel gegen das Auseinanderdriften der Gesellschaft. An ihnen führt kein Weg vorbei, zumal Steuern für Vermögende zu verschmerzen sind: Steuern berühren ihr Konto, nicht ihre Lebensführung. Vor allem aber gilt: Wer Staat sagt, muss auch Steuern sagen. Beide gehören seit den Anfängen der Staatenbildung in Mesopotamien und Ägypten zusammen wie Henne und Ei.[9]

Mit Blick auf das eingangs erwähnte Trilemma steht fest: Die alte Sparpolitik ist obsolet geworden. Folglich verbleibt derzeit nur die Wahl zwischen Steuern und Schulden. Diese Wahl müsste nunmehr leichtfallen: In der Regel sind Steuern zu wählen, in Ausnahmen wie der Coronakrise in begrenztem Umfang auch Schulden.

Die Entscheidung zugunsten von Steuern wirft allerdings immer weitere Fragen auf, allen voran: Welche Abgaben kommen in Frage – Steuern für Vermögende oder Steuern für Unvermögende? Erbschaft- oder beispielsweise die allgemeine Endverbrauchsteuer (irreführenderweise „Mehrwertsteuer“ genannt)?[10] Das aber sind Fragen, um die politisch gestritten werden muss. Darum dürfen wir uns nicht drücken, und zwar ganz besonders deshalb nicht, weil die Fragen des meteorologischen und des sozialen Klimas unauflöslich miteinander verknüpft sind.[11]

[1] Dirk Ehnts, Vorbild Biden: Mit der Modern Monetary Theory aus der Krise?, in: „Blätter“, 7/2021, S. 114-120.

[2] Robert Pausch und Mark Schieritz, Einfach mal raushauen: Die Ökopartei erfindet ihre Finanzpolitik neu, in: „Die Zeit“, 27.3.2021.

[3] Vgl. ausführlich Axel Stommel, Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden – Corona, das Klima und die Schwarze Null, Marburg 2020, S. 36 ff., sowie Axel Stommel, Basics der Ökonomie – Wirtschaftspolitik, Staat und Steuern, Marburg 2019, S. 16-84.

[4] In diesem Sinn z. B. CDU-Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier schon am 23.3.2020: „Wenn die [Corona-]Krise überwunden ist, und wir hoffen, dass dies in einigen Monaten der Fall sein wird, dann werden wir zurückkehren zur Politik der Sparsamkeit und der schwarzen Null.“, https://de.reuters.com.

[5] Vgl. Stommel, Schulden…, a.a.O., S. 97 ff., sowie ders., Basics…, a.a.O., S. 190-226.

[6] Vgl. Ulrich Wegst, Keine Angst vor dem Verzicht – Ein Plädoyer für die wichtigste Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts, Marburg 2021.

[7] Vgl. Stommel, Schulden…, S. 85 ff.

[8] Ebd., S. 14 ff.

[9] Vgl. Stommel, Basics…, a.a.O., S. 326 ff.

[10] Vgl. zu Steuern: Ebd., S. 96-189.

[11] Vgl. Stommel, Schulden…, a.a.O., besonders S. 11-13, 132-150.

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