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Der Sozialstaat hat seine Bedeutung und Leistungsfähigkeit als gesellschaftlicher Stabilisator im Zuge der Corona-Pandemie einmal mehr unter Beweis gestellt – darin sind sich die politischen Lager weitgehend einig. Doch das hat auch seinen Preis: Kurzarbeitergeld, sinkende Beitragszahlungen durch Lohnausfall oder Arbeitsplatzverlust, erhöhte Ausgaben im Gesundheitssystem haben die Sozialkassen strapaziert. Bei den Sozialversicherungen steigt entsprechend der Finanzdruck, teils klaffen Milliardenlöcher und die in den vergangenen Jahren aufgebauten Rücklagen der Krankenkassen schrumpfen massiv. Spätestens nach dem obligatorischen Kassensturz der neuen Regierung nach der Bundestagswahl im September wird sich die Frage stellen, wie die bereits bestehenden und noch kommenden offenen Rechnungen beglichen werden sollen.[1]
Fest steht schon jetzt, dass grundlegende Fragen von Sozialstaatlichkeit neu gestellt werden müssen, denn ein Zurück zur Vor-Corona-Zeit ist nicht ohne weiteres möglich. Zu groß sind schon länger bestehende grundlegende Probleme des gegenwärtigen Sozialstaates, die auch in der Pandemie überdeutlich wurden: Die sozialen Sicherungssysteme schützen längst nicht alle, insbesondere Minijobbende und Selbständige fallen durch das Raster; die Absicherung durch die Arbeitslosenversicherung ist begrenzt, der Weg ins Hartz-IV-System kurz; und sowohl die Absicherung als auch die Versorgung im Pflegefall sind eine Großbaustelle.
Zu tiefgreifend sind zudem die Veränderungen, die mit der Digitalisierung sowie der dringend notwendigen ökologischen Wende einhergehen.[2] Dieser Transformationsprozess muss sich auch in sozialpolitischen Maßnahmen widerspiegeln, um den Menschen ihre Ängste zu nehmen und sie auf Veränderungen einzustimmen.
Festgezurrte Beitragsgrenze
Der akuten Problemlage wird der derzeitige Diskurs allerdings nicht gerecht: Erstens drehten sich die Debatten in den letzten Jahren zumeist nur um konkrete Vorhaben in den einzelnen Sicherungszweigen statt um grundlegende Struktur- und Finanzierungsfragen sozialer Sicherung.[3] Jüngstes Beispiel dafür ist die Debatte um die angeblich drohende Rentenlücke mit dem Eintritt der sogenannten Babyboomer ins Rentenalter, denen zu wenig Beitragszahlende gegenüberstünden. Zweitens sind der Diskussion von vornherein enge Grenzen gesetzt: Grund dafür ist das seit vielen Jahren geltende Postulat, dass der Gesamtsozialversicherungsbeitrag 40 Prozent des Bruttoentgelts nicht überschreiten darf.[4] Werden auf der Einnahmeseite derartige Pflöcke losgelöst von den sozialen Bedarfen und Zielen gesetzt, vergibt man sich jedoch von vornherein eine offene Debatte um die künftige soziale Sicherung.
Indes ertönen aus dem Arbeitgeberlager bereits laute Rufe, die in der „Sozialgarantie 2021“[5] gesetzte 40-Prozent-Obergrenze der Gesamtsozialbeiträge auch für die Zukunft unter allen Umständen festzuzurren: „40 – Kein Prozent weiter“ lautete der Titel des Gesamtmetall-Magazins „Perspektiven“ zu Jahresbeginn. Die Zahl 40 nimmt in bedrohlichem Rot, in der Ästhetik einer großen, abzuwendenden Obstruktion, den Großteil des Covers ein. Der Untertitel prognostiziert: „Steigen die Sozialabgaben auf über 40 Prozent, kostet das Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum, warnen Experten.“[6] Mitgeliefert wird eine Liste von Sozialkürzungsvorschlägen, mittels derer es gelingen soll, die 40 Prozent langfristig einzuhalten. Diese umfasst unter anderem einen späteren Renteneintritt und ein strikteres Versorgungsmanagement der Krankenkassen – auszubaden hätten die absehbare Misere also allein die Beschäftigten.
Aber selbst wenn es nicht zu Kürzungen kommt, sondern die Festlegung auf 40 Prozent „nur“ dazu führt, dass keine grundlegenden sozialpolitischen Reformen erfolgen, geht dies ebenfalls auf Kosten der Beschäftigten. Ein Beispiel: Bleibt in der Alterssicherung alles wie es ist, ist absehbar, dass von den heute 20- bis 50jährigen nur die wenigsten allein von ihren gesetzlich zugesicherten Rentenansprüchen werden leben können. Die zusätzliche private Vorsorge wird als Norm mittlerweile vorausgesetzt – kann aber von Gering- und Niedrigverdienern gar nicht geleistet werden, macht vor allem die privaten Versicherungsunternehmen reich und sorgt nicht zuletzt für eine weiter zunehmende gesellschaftliche Entsolidarisierung.
Die Geburt eines Dogmas
Auch wenn über die Frage der Beiträge und eine moderate Beitragserhöhung zweifellos nicht alle Probleme der Alterssicherung gelöst werden können, brächte dies für Beschäftigte einen strukturellen Vorteil mit sich: Während die private Vorsorge vollständig aus eigener Tasche finanziert wird, tragen die Arbeitgeber steigende Sozialbeiträge durch die paritätische Finanzierung hälftig mit. Eine moderate paritätisch finanzierte Beitragserhöhung würde zudem Spielraum für Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rente eröffnen. Genau diese Umverteilung zulasten der Arbeitgeber und zugunsten der Beschäftigten lehnt das arbeitgebernahe Lager ab. Um einer weiteren Atomisierung des Sozialen entgegenzuwirken, ist es daher höchste Zeit, das sozialpolitische Dogma der 40 Prozent abzuräumen.
Die 40-Prozent-Grenze für Sozialversicherungsbeiträge tauchte erstmals Mitte der 1990er Jahre auf. In der gemeinsamen Erklärung des damaligen „Bündnisses für Arbeit und Standortsicherung“ heißt es: „Die Sozialbeiträge insgesamt und die Sozialabgabenquote müssen stabilisiert und bis zum Jahr 2000 wieder auf unter 40 Prozent zurückgeführt werden. Eigenvorsorge muss ein wachsendes Gewicht erhalten.“[7] Seither hat sich die 40-Prozent-Marke als Dogma festgesetzt. Das zentrale Argument dafür ist seither über die Jahre gleich geblieben: Steigen die Sozialabgaben auf über 40 Prozent, koste dies Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze. Die Hüter der 40 Prozent verweisen dabei auf Studien, die steigende Sozialversicherungsbeiträge mit erheblichen Wettbewerbs- und Beschäftigungseinbußen in Zusammenhang bringen – sollte nicht gegengesteuert werden.[8] Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Einschätzung jedoch als wenig fundiert: Die zugrundeliegenden Studien arbeiten mit Szenarien und Projektionen, die auf einer Reihe von Vorannahmen beruhen, die wiederum bestimmten wirtschaftswissenschaftlichen Schulen zuzurechnen sind und oft nicht transparent gemacht werden.[9] Es lohnt sich daher, diese Argumentation auf den Prüfstand zu stellen.
Anhaltende Mär: Verlust der Wettbewerbsfähigkeit
Das Argument derer, die die 40-Prozent-Obergrenze für unverhandelbar erklären, ist altbekannt: Höhere Sozialversicherungsbeiträge seien von den Unternehmen nicht finanzierbar und würden sie über Gebühr belasten. Zwar machen die Sozialversicherungsbeiträge den größten, allerdings eben doch nur einen Teil der Lohnnebenkosten aus – und diese wiederum nur einen Teil der gesamten Arbeitskosten. [10] Bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Sozialversicherungsbeiträge sind nicht der Dreh- und Angelpunkt für Arbeitsmarkt und Wirtschaftswachstum.[11] Denn wählt man die Gesamtarbeitskosten als Bezugsgröße, relativiert sich die Dramatik erheblich. Am Beispiel der durchschnittlichen gesamten Bruttoarbeitskosten im produzierenden Gewerbe (gemessen an den Werten von 2016) zeigt beispielsweise Florian Blank auf, dass ein Anstieg der Sozialbeiträge in der Zeit von 2020 bis 2040 um zehn Prozentpunkte in etwa zu einem Anstieg der Bruttoarbeitskosten von insgesamt lediglich 3,2 Prozent führen würde, wohlgemerkt, gestreckt auf einen Zeitraum von 20 Jahren.
Zur Frage, ob eine Anhebung der Sozialbeiträge die internationale Wettbewerbsfähigkeit verringern würde, eignet sich daher, wenn überhaupt, ein Vergleich der Lohnstückkosten – also der Arbeitskosten im Verhältnis zur Arbeitsproduktivität. Je nach Vergleich (EU, international, Länderauswahl) nimmt Deutschland dabei in der Regel einen Platz im oberen Drittel bis Mittelfeld ein, ist also mitnichten ein Ausreißer nach oben. Vergleichbare Volkswirtschaften wie Frankreich sind ähnlich bzw. mit höheren Lohnstückkosten sogar noch vor Deutschland platziert.[12] Vor allem aber gilt, dass zur Bewertung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit auch noch eine Reihe weiterer Faktoren entscheidend sind – wie Wechselkurse, Zölle, Steuern, das Vorhandensein von Fachkräften, Produktivität, Produktinnovation und -qualität, Infrastruktur und die industriellen Beziehungen zwischen den Ländern.[13] Eine Fokussierung auf einen Faktor ist schlicht unterkomplex und blockiert die Diskussion zur Standortentwicklung Deutschlands, anstatt nachhaltige Lösungen zu liefern.
Schließlich gibt es auch ein breites Spektrum an möglichen Reaktionen der Arbeitgeberseite auf steigende Sozialversicherungsbeiträge: Arbeitsplatzabbau und Rationalisierung sind hier nur zwei Optionen, die gleichwohl von interessierter Seite als alleinige präsentiert werden. Doch auch Preiserhöhungen für Kunden, Einpreisung bei der nächsten Entgeltverhandlung oder – ganz verwegen – die Reduzierung der eigenen Gewinne oder Dividendenzahlungen an Aktionäre wären ebenso denkbar. Welcher Weg am Ende beschritten wird, hängt von der konkreten Situation eines Unternehmens, der Position in der Branche, aber auch und nicht zuletzt von den Machtverhältnissen im Betrieb ab.
Hidden Agenda
Die These, dass Sozialversicherungsbeiträge über 40 Prozent per se ein Wettbewerbsnachteil seien und Arbeitsplätze gefährdeten, ist jedenfalls empirisch nicht nachweisbar. Zu komplex ist letztlich die Lage, weil viele Faktoren einen Einfluss auf Kosten und so auch auf Produktions- und Standortentscheidungen haben. Daraus folgt kein Plädoyer für eine beliebige Steigerung der Beitragshöhe und auch kein Wegwischen der möglichen Belastungen für Unternehmen.
Wohl aber zeigt sich dabei, dass eine dauerhaft festgelegte, allgemeingültige Maximalhöhe der Sozialversicherungsbeiträge, deren Überschreitung „bedrohlich“ wäre – seien es nun 39, 40 oder 42 Prozent –, wenig seriös ist. Diese Werte markieren in etwa das Spektrum, innerhalb dessen sich die Sozialversicherungsbeiträge seit 1995 – dem Jahr der Einführung der jüngsten Sozialversicherung, der Pflegeversicherung – bewegt haben. Die Differenz zwischen den Werten mag Laien klein erscheinen, sozialpolitisch sind damit jedoch gravierende Unterschiede im Leistungsbereich verknüpft.
Wenn sich das Schicksal der deutschen Wirtschaft also gar nicht an der 40-Prozent-Grenze entscheidet, worum geht es dann? Die Antwort ist schlicht: Im Kern geht es um die gute alte Verteilungsfrage. Weil die Sozialbeiträge paritätisch und damit auch anteilig durch die Arbeitgeber finanziert werden, zielt der Ruf nach einer strikten Obergrenze allein darauf ab, sich aus der Affäre zu ziehen – bei der Begleichung der in der Corona-Pandemie entstandenen Rechnungen, aber auch bei der Frage, wie die soziale Sicherung zukünftig zu finanzieren ist. Die Beschäftigten und insbesondere die Jüngeren können dies nicht gleichermaßen. Wollen sie bestehende und künftig drohende Lücken sozialer Sicherheit nicht hinnehmen, müssen sie privat vorsorgen – und das heißt: allein. Die durch niedrig gehaltene Beitragssätze vergleichsweise wenigen monatlich „hinzugewonnenen“ Euros beim Nettoentgelt müssen sie, wenn sie dies überhaupt können, an anderer Stelle – einer privaten Versicherung – teuer bezahlen: Ein schlechtes Geschäft, bei dem nur die Arbeitgeber gewinnen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuell wieder zunehmenden Rufe nach einer Rückkehr zur schwarzen Null und der fortwährenden Propaganda des 40-Prozent-Dogmas gilt es, sich auf harte Konflikte einzustellen – insbesondere für die Gewerkschaften und im Zusammenhang mit den anstehenden Koalitionsverhandlungen.
[1] Vgl. ausführlicher: Katharina Grabietz und Stefanie Janczyk, 40 Prozent – Abrechnung mit einem sozialpolitischen Dogma, in: Brigitte Aulenbacher u.a., Mosaiklinke Zukunftspfade, Münster 2021, S. 256-266.
[2] Hans-Jürgen Urban, Transformation als Bewährungsprobe, in: „Sozialismus“, 9/2020.
[3] Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele und Reinhard Bispinck, Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Ein Handbuch, Band 1, Wiesbaden 2020, S. VII.
[4] Darin enthalten sind Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung, die – mit Ausnahme des Zusatzbeitrags zur Pflegeversicherung für Kinderlose – paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen werden. Nicht enthalten sind die Beiträge zur Unfallkasse, die Umlagen für Mutterschutz, Krankengelderstattung und Insolvenzgeld, die die Arbeitgeber allein tragen.
[5] Im Konjunkturpaket zur Bewältigung der Coronakrise sicherte die Bundesregierung im September 2020 zu, Mehrkosten im Jahr 2021 aus dem Steuerhaushalt zu finanzieren.
[6] „Perspektiven. Das Magazin der Metall- und Elektroindustrie“, 2/2021.
[7] Bulletin 07-96 der Bundesregierung vom 26.1.1996, www.bundesregierung.de.
[8] Vgl. u.a. Prognos, Sozialbeitragsentwicklung und Beschäftigung. Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen steigender Beitragssätze in der Sozialversicherung und Finanzierungsalternativen, 2017.
[9] Vgl. u.a. Gerd Bosbach, „Große Veränderungen kann man nicht voraussehen“ – Interview, www.bpb.de, 12.5.2016.
[10] Zu den weiteren Lohnnebenkosten zählen z.B. Kosten für berufliche Aus- und Weiterbildung, sonstige Aufwendungen (wie Berufsbekleidung und Kosten zur Anwerbung von Beschäftigten) und vom Arbeitgeber zu zahlende Steuern auf die Lohnsumme oder Beschäftigtenanzahl; vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2019, Kapitel 14 – Verdienste und Arbeitskosten, www.destatis.de.
[11] Vgl. Florian Blank, Die Arbeitnehmer werden es schon schultern?!, www.wsi.de, 28.8.2020.
[12] Vgl. Statistisches Bundesamt, EU-Vergleich der Arbeitskosten (Jahresschätzung), www.destatis.de, 3.5.2021.
[13] Vgl. Peter Hall und David Soskice, Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001.