Corona und das moralische Versagen der indischen Gesellschaft

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Indien ist derzeit ein veritables Horrorkabinett. Jeden Tag scheint ein neuer Rekord an Covid-19-Fällen überboten zu werden: Binnen 24 Stunden infizieren sich Hunderttausende, Tausende verlieren ihr Leben. Die Patienten sterben nicht zuletzt am fehlenden Sauerstoff in den Krankenhäusern. Auf diese Weise kamen allein am 21. April in einem Hospital in Nashik im Bundesstaat Maharashtra mindestens 24 Menschen zu Tode und weitere 25 zwei Tage später in der Hauptstadt Neu-Delhi. Am folgenden Tag belog der Solicitor General[1] Tushar Mehta ganz unverblümt das oberste Gericht im Unionsterritorium Delhi, den Delhi High Court: Er sagte, die Regierung habe „sichergestellt, dass niemand im Land ohne Sauerstoff bleibt“. Unterdessen werden Sauerstofftankwagen von Regierungen der Bundesstaaten blockiert und sind Menschen dazu übergegangen, Sauerstoffzylinder zu plündern. Allerdings war dieser medizinische Horror im Land unausweichlich, angesichts der Anführer und Ideologien, für die sich Indien entschieden hat.
Dieser Schrecken ist zudem ein Déjà-vu. Im August 2017 starben in weniger als einer Woche mehr als 60 Neugeborene im Distriktkrankenhaus von Gorakhpur im Bundesstaat Uttar Pradesh. Ihre Brustkörbe waren so klein, dass sie gerade einmal die Handfläche eines Erwachsenen ausfüllten. Die dort regierende hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) unter Chief Minister Ajay Singh Bisht – besser bekannt als Adityanath – leugnete, dass die Todesfälle auf Sauerstoffknappheit zurückzuführen waren, und bleibt bis heute dabei. Zuvor hatte ein Kinderarzt des betroffenen Krankenhauses, Kafeel Khan, der Regierung des Bundesstaates vorgeworfen, den Sauerstofflieferanten des Hospitals nicht bezahlt zu haben – was zu Knappheit und letztlich den Todesfällen führte. Daraufhin ließ der Bundesstaat Khan verhaften und begann eine Ermittlung gegen ihn, die groteske Züge trug. Das zeigen die spätere Anordnung, ihn gegen Kaution zu entlassen, und die abteilungsinterne Untersuchung, die ihn vom Vorwurf der Fahrlässigkeit entlastete. Jedoch führte der Staat keine Obduktion an den toten Kindern durch, händigte ihren Familien nicht die Krankenakten aus und versuchte so seine eigene Fahrlässigkeit zu vertuschen. Als ob die Ungerechtigkeit nicht zählen würde, solange sie nicht beweiskräftig auf Papier gebannt ist. Diese Gier und Grausamkeit haben sich unter der Führung der BJP in ganz Indien so sehr normalisiert, dass sie ungehindert wuchern können. Und das ganze Ausmaß, in dem sie das Land infiziert haben, zeigt sich derzeit dramatisch in der zweiten Welle der Coronapandemie.
Vom medizinischen Notstand zur humanitären Krise
Die hindu-nationalistische Regierung von Premierminister Narendra Modi hat die schwierige Aufgabe übernommen, in einem armen Land wie Indien die Pandemiebekämpfung zu organisieren – und dies unmöglich gemacht. Als die Pandemie im April vergangenen Jahres Indien erfasste, verhängte die Modi-Regierung einen brutalen Lockdown, ohne die führenden Wissenschaftler des Landes zu Rate zu ziehen.[2] Damit türmte sie auf den medizinischen Notstand noch eine wirtschaftliche und humanitäre Krise. Auch im Februar und März diesen Jahres konsultierte der Premierminister nicht die nationale Taskforce aus Indiens führenden Wissenschaftlern – und das trotz dramatisch steigender Fallzahlen.
Nach der Verhängung des Lockdowns berief sich Modi auf ein drakonisches Gesetz aus der Kolonialzeit, den Epidemics Act von 1897, das während der Beulenpest von 1896 erlassen worden war. Dieses Gesetz zielt nicht auf Krankheitskontrolle, sondern auf ein scharfes Vorgehen gegen die Staatsbürger und die Außerkraftsetzung von Bürgerrechten. Die Modi-Regierung behauptete natürlich, sie würde das Gesetz nur in Fällen anwenden, in denen Mitarbeiter des Gesundheitswesens bedroht sind. Zu deren Schutz waren im Vorjahr allerdings deutlich bessere Gesetzentwürfe ins Parlament eingebracht worden, die die Regierung aber ablehnte. Der Lockdown, so sagte man den Indern, solle die Kurve abflachen. Lav Agarwal, der Joint Secretary im Gesundheitsministerium, erklärte kurz darauf, mit einem umgerechnet rund 1,7 Mrd. Euro schweren Paket der Regierung solle unter anderem dafür gesorgt werden, „auf nationaler und einzelstaatlicher Ebene resiliente Gesundheitssysteme für künftige Krankheitsausbrüche zu errichten“. Doch die Ausschreibungen für Sauerstoffanlagen wurden erst im Oktober 2020 veröffentlicht – acht Monate nach Beginn der Pandemie. Seinerzeit schrieb die Regierung 150 Sauerstoffanlagen aus. Im April 2021 waren davon erst 33 errichtet worden.
Just als Indien unter der bisher verheerendsten Zunahme an Covid-19-Erkrankungen litt, konzentrierten sich seine Parteien und Spitzenpolitiker – einschließlich Modi und sein Innenminister Amit Shah – auf die wochenlange zermürbende Tortur einer Wahl in Westbengalen. Der Premierminister rühmte sich seiner großen Kundgebungen; auf einer von ihnen erging er sich ausgelassen in Anzüglichkeiten gegenüber Mamata Banerjee, der amtierenden Chief Minister des Bundesstaates – offenbar unbesorgt über die grassierende Pandemie. Am 27. März begann in Westbengalen die Abstimmung. Gut zwei Wochen später verzeichnete der Bundesstaat am 14. April mit 5892 Neuinfektionen die höchste je gemessene Steigerung innerhalb eines Tages. Elf Tage darauf waren es schon 15 889 neue Fälle am Tag, und die Hauptstadt Kalkutta registrierte eine Positivitätsrate von annähernd 50 Prozent.
Modis offenkundiger Mangel an Besorgnis über die Pandemie beschränkte sich nicht auf den Wahlkampf. Am 21. März präsentierten Indiens landesweit erscheinende Tageszeitungen ganzseitige Anzeigen auf ihren Titelseiten. Auf diesen hießen Modi und der Chief Minister von Uttarakhand, Tirath Singh Rawat, ihre Anhänger zum Kumbh Mela willkommen, einem wochenlangen religiösen Fest der Hindus. Am Tag zuvor hatte Rawat verkündet: „Niemand wird im Namen von Covid-19 aufgehalten werden, da wir uns sicher sind, dass der Glaube an Gott die Furcht vor dem Virus überwinden wird.“ Die Anhänger kamen zu Millionen und wurden bald zu Tausenden positiv getestet. Am 1. April, als das Superspreader-Ereignis begann, verzeichnete der Bundesstaat insgesamt 1863 Fälle. Am 26. April waren es schon 35 864.
Die blinde Heldenverehrung für Modi
Die durchdringende Trauer der indischen Bürger wird nur von dem Wissen übertroffen, dass sie auf sich gestellt sind. Am 20. April hielt der Premierminister seine erste nationale Fernsehansprache seit Ausbruch der zweiten Covid-19-Welle im Land und schien darin dieses Wissen ohne jedes Gespür für Ironie zu bestätigen: „Ich bitte die jungen Kollegen, in ihren Gesellschaften, Örtlichkeiten und Apartments kleine Komitees zu gründen und anderen dabei zu helfen, die Covid-Disziplin einzuhalten“, sagte Modi. „Wenn wir dies tun, werden die Regierungen keine Eindämmungszonen schaffen und keine Ausgangssperren oder Lockdowns verhängen müssen.“ Der Premierminister unternahm wenig, um seine Bürger zu beruhigen oder ihnen zu erklären, was seine Regierung zu ihrer Hilfe aufbieten werde.
Wie Modi in seiner Ansprache bemerkte, ohne dabei sein eigenes Scheitern einzugestehen, haben Indiens Bürger sich zusammengetan, um einander zu retten. Auf allen Social-Media-Plattformen und in WhatsApp-Gruppen werden die Nutzer mit verzweifelten Bitten auf Hinweise überschwemmt, wie sie selbst Sauerstoffzylinder oder Medikamente auftreiben können und wo es Tele-Sprechstunden bei Ärzten oder freie Krankenhausbetten gibt. Sie tun ihr Bestes, um zu antworten, und halten Datum und Zeit fest, zu der die Information verifiziert wurde. Aber mit besorgniserregender Regelmäßigkeit stellen die Bürger fest, dass es keine Betten, keine Medikamente und keine Krankenhäuser gibt. Es gibt keine Leichenwagen, um die Toten zum Friedhof zu bringen. Es gibt nicht einmal genug Holz für die Einäscherung.
Indiens Scheitern in der Pandemie ist die unvermeidliche Konsequenz der blinden Unterstützung für die anti-intellektuelle Regierung von Modi und der BJP bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen. Dies ist das größte moralische Versagen unserer Generation. Es ist zuerst das kollektive moralische Versagen Indiens und erst dann das politische Versagen der BJP.
Die Schuld dafür trägt nicht nur ein Mann, wie ungeeignet Modi für sein Amt auch sein mag. Sondern sie liegt ebenso sehr bei jenen Leuten, die zwei Mal für diese Inkompetenz stimmten, in der Annahme, dies werde sie nicht betreffen und ihre Betonblasen würden sie vor dem Chaos schützen, das Anderen zugefügt wird. Die Struktur und das Handeln der Modi-Regierung verhöhnen alle Bürger, die jemals ihr Vertrauen in sie gesetzt haben. Und dennoch wurden die Anführer dieser Regierung mit blinder Heldenverehrung belohnt, und das war der Todesstoß für die indische Demokratie.
Seit 2002 verfolge ich Modis Aufstieg mit heruntergeklappter Kinnlade. Seine Karriere ist ein Denkmal für Heimtücke, für die Macht des Prinzips, das der Mehrheit Vorrechte einräumt, und für all die Schrecken, die das Land vergeben hat, um jene zu schützen, die dieses Prinzip verfechten. Modi hat Menschenleben als Wechselgeld eingesetzt, als er scheiternd nach oben vorrückte, bis er im höchsten Staatsamt angelangt war.
Während seiner gesamten Karriere hat Modi einen unstillbaren Appetit gezeigt, seine Bürger einzusperren und zu bedrohen oder sie unter seiner Aufsicht sterben zu lassen, ohne dafür die Verantwortung zu übernehmen. Seine zwei Amtszeiten bilden eine Ära der Irrationalität: Er hat uns, das indische Volk, gebeten, unsere Augen zu verschließen vor dem Blutvergießen in Kaschmir, vor ungezügelten Massenvergewaltigungen von Frauen, vor Lynchmorden an der muslimischen Minderheit, vor Kasten-Gräuel gegen Dalits und vor dem Gespenst von Internierungslagern in Assam.[3] Und als ob all das noch nicht schlimm genug wäre, haben wir dabei einen Faustischen Pakt geschlossen, indem wir uns verpflichteten, unsere eigenen Nachbarn, Freunde und Kollegen zu hassen.
Eine kritische Selbstbefragung ist unvermeidlich
Heute, da den Friedhöfen der Platz ausgeht, können wir all dies nicht Modi anlasten, ohne eine kritische Selbst-Inventur der Rolle, die die BJP-Wähler in dieser tragischen Geschichte gespielt haben. Ein solches Gespräch ist schwierig in einem von Zwietracht erfüllten Land, es lässt sich aber nicht länger vermeiden. Und noch weniger kann man der Verbindung von Moral und Politik ausweichen.
Die BJP errang 2019 bei der Wahl zum Lok Sabha, dem Parlament, 37,4 Prozent der Stimmen – das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Ein Land bekommt die Regierung, das es verdient. Und im Kleinen oder Großen trug jeder BJP-Wähler, der seinen Frieden damit machen konnte, dass arme Menschen im Namen ökonomischer Prosperität starben, zu dieser Tragödie bei, insbesondere die oberen Kasten sowie die Ober- und Mittelklasse. Es geht um jene Leute, die aus dem Bhagavad Gita, einer der zentralen Schriften des Hinduismus, zitieren und Theorien über den wirtschaftsliberalen Kapitalismus diskutieren, während sie gleichzeitig ihre Hausangestellten aus einer unterdrückten Kaste schlecht entlohnen und ihnen freie Tage in der Woche verweigern. Jene Leute, die nicht sehen wollen, wie unmenschlich es ist, dass Kinder an den Scheiben ihres BMWs betteln, mit dem sie zur Arbeit fahren, wo sie sich nicht gegen die systemische Korruption auflehnen werden. Jene Leute, die Frauen „wütend“ finden, wenn sie sexualisierte Gewalt zur Sprache bringen, und die ihre Augen vor den zahlreichen Hungerlöhnern verschließen, die manuell Exkremente entsorgen.
Vor allem aber verleihen sie – ihre Herzen voller Zynismus und Indifferenz und ihre Ärmel blutgetränkt – Nationalismus-Zertifikate auf der Basis von Religion, Geschlecht und Kaste. Sie geben WhatsApp-Nachrichten, die bequeme Unwahrheiten wiederholen, den Vorzug gegenüber Tatsachenberichten, die die unerfreulichen Realitäten präsentieren. Ihr kollektiver Wille und ihre mutwillige Apathie – gegenüber den Armen, den Kranken, den Minderheiten – sind der Kitt, der diese Regierung zusammenhält. Sie schätzen Gier und dämonisieren den Kampf für soziale Gerechtigkeit. Und sie raten uns, ruhig zu bleiben, nachdem sie die Macht einer Partei übertragen haben, die kein Interesse an der Kunst des Regierens hat – und keine Befähigung dazu.
Sie haben die Macht in die Hände der BJP gelegt und nun schelten sie jene, die das nicht taten, wenn sie in alltäglichen Gesprächen über Politik reden. Ohne jegliche Ironie wollen sie, dass wir die Dinge positiv betrachten, statt uns auf die Virus-Apokalypse zu konzentrieren, in der wir uns befinden. Mit jeder Ungerechtigkeit, bei der sie halfen, die sie anstifteten oder die sie ignorierten, halfen sie Modi dabei, die Demokratie zugunsten eines autoritären Regimes zu untergraben. Mit ihrer beschlagenen Linse guter Absichten und moralisch neutraler Positionen sind sie direkt für den Verfall unserer Institutionen verantwortlich – Gerichte, Polizeistationen und Krankenhäuser.
Die Reichen und die Mittelklassebürger konnten sehr gut damit leben, dass Kinder in Gorakhpur erstickten – in der Annahme, so etwas würde ihnen selbst nie widerfahren. Als die Pandemie das System nivelliert hatte und die Privilegierten sich zum ersten Mal ohne Privilegien wiederfanden, flohen sie. Um die sich anbahnende medizinische Segregation in den Krankenhäusern, die einst für die Armen errichtet worden waren, kümmerten sie sich nicht. Sie zeigen sich jetzt schockiert, wenn man sie mit der Zerbrechlichkeit ihrer Blasen konfrontiert.
Die zynischen politischen Entscheidungen der vergangenen sieben Jahre suchen uns nun heim. Wir waren uns als Volk deswegen so lange mutwillig nicht bewusst, in welchem Zustand sich unser Gesundheitssystem befindet, weil es Leben forderte, die für uns nicht zählten. Diese Blase ist nun geplatzt. Unser kleines und großes moralisches Scheitern hat sich zu Indiens fataler Antwort auf die Pandemie summiert. Wir selbst haben dieses veritable Horrorkabinett geschaffen.
Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes der Autorin, der unter dem Titel „Uncritical support for Modi paved the way for India’s COVID-19 crisis“ zuerst am 28.4.2021 im indischen Magazin „The Caravan“ erschienen ist. Die Übersetzung stammt von Steffen Vogel.
[1] In Indien vertreten der Attorney General und sein Stellvertreter, der Solicitor General, die Regierung am obersten Gerichtshof, dem Supreme Court. – D. Red.
[2] Vgl. Ellen Ehmke, Indien: Der große Exodus, in: „Blätter“, 5/2020, S. 76-79.
[3] Vgl. Arundhati Roy, Das Ende des indischen Traums. Kaschmir und die Hunde des Krieges, in: „Blätter“, 1/2020, S. 47-58; dies., Das Ende des indischen Traums (II). Assam und das Grauen der Staatenlosigkeit, in: „Blätter“, 2/2020, S. 63-72.