Ausgabe Mai 2021

Deutschland im Indopazifik: Die Logik der Eskalation

Es klingt nach Routine: Mitte dieses Jahres soll die Fregatte „Bayern“ in See stechen und mehrere Monate im Indischen Ozean und im Westpazifik kreuzen. Das Bundesverteidigungsministerium will darin lediglich ein „Zeichen“ sehen: Wo Deutschlands „Werte und Interessen betroffen sind“, soll Flagge gezeigt werden. Doch dahinter steckt eine fundamentale sicherheitspolitische Neuordnung, ein Paradigmenwechsel gar. Europa will „die Sprache der Macht lernen“, wie die ehemalige Verteidigungsministerin und heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon im Sommer 2019 gefordert hat. Zugleich wirkt die Entsendung der Fregatte wie eine Provokation in Richtung China, die von Peking denn auch umgehend beantwortet wurde: Süffisant schreibt die regierungsnahe „Global Times“: „Wenn sie ins Südchinesische Meer kommen, können wir auch im Mittelmeer aufkreuzen.“[1]

Beim Operationsgebiet der „Bayern“ handelt es sich um eine der brisantesten Krisenregionen der Welt: Im Konflikt um die Kontrolle im sogenannten Südchinesischen Meer zwischen China, den Philippinen, Vietnam, Malaysia, Indonesien und Japan werden in letzter Zeit immer häufiger Scharmützel zwischen den Küstenwachen der Anrainerstaaten gemeldet. Aktuell gibt es Spannungen, weil mehr als 200 „Fischerboote“, vermutlich bemannt mit chinesischen Paramilizen, in philippinischen Gewässern unterwegs sind. Den Anstoß für diese Konflikte hat die chinesische Regierung 2009 geliefert, als sie eine Landkarte mit der „Nine-dash line“ vorlegte, eine recht freihändige Demarkationslinie, mit der sie territoriale Ansprüche auf 90 Prozent der Gewässer untermauert. Gleichzeitig lässt sie durch den Ausbau von Felsriffen und Sandbänken zu Militäranlagen Fakten schaffen – und verschiebt damit ihre militärischen Vorposten gegen einen möglichen Angriff der USA und ihrer Verbündeten um tausende Kilometer gen Osten. Die Entscheidung des Internationalen Schiedsgerichts in Den Haag aus dem Sommer 2016, dass ihre Position gegen UN-Seerecht verstößt, wies sie brüsk zurück.

Die „Bayern“ ist nicht allein: Auch britische, französische und niederländische Kriegsschiffe verstärken ihre Präsenz im Indopazifik im Namen der „Freiheit der Schifffahrt“. Die mächtige Pazifik-Flotte der USA ist dort schon seit längerem im Einsatz und liefert sich Revierkämpfe mit der chinesischen Marine, so wie gerade wieder Anfang April. Die Entsendung des deutschen Kriegsschiffes ist daher weit mehr als nur ein „Zeichen der Solidarität“, als das es Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer herunterzuspielen versucht: Vielmehr stellt sich die Bundesregierung damit an die Seite der konfrontativen US-Politik im Indopazifik.

Der innere und äußere Druck, sich dem Konvoi anzuschließen und beim aktuellen Great Game East wenigstens Flagge zu zeigen, ist spätestens seit der Amtszeit von der Leyens im Verteidigungsministerium spürbar, verstärkt von den meisten deutschen Medien. So hat die Bundesregierung im August vergangenen Jahres „Leitlinien zum Indopazifik“ beschlossen, mit denen sie ihre „Rolle als Gestaltungsmacht“ (AKK) bei der weltweiten Sicherstellung von „Frieden und Sicherheit“, „offenen Seewegen und Märkten“ und „freiem Handel“ beansprucht.[2] Auch andere Länder wie Frankreich und die Niederlande haben inzwischen ähnliche Strategie-Papiere veröffentlicht, während an einer gemeinsamen EU-Position noch gearbeitet wird. Ernsthafte Beobachter bezweifeln allerdings, dass die Freiheit der Schifffahrt durch China gegenwärtig tatsächlich bedroht ist – als mächtigste Handelsnation der Welt läge das nicht in ihrem Interesse.

Gerechtfertigt wird das europäische Engagement mit der wachsenden weltwirtschaftlichen Bedeutung der Region. Durch den Indischen Ozean, die südostasiatischen Gewässer und den Westpazifik verlaufen die wichtigsten Handelsrouten zwischen Asien und Europa und rund 40 Prozent des Außenhandels der EU, unter anderem mit ihrem inzwischen zweitwichtigsten Handelspartner China. Das Interesse gründet aber auch darauf, dass für die Region die stärkste Erholung nach der Corona-Pandemie vorhergesagt wird. Außerdem wird erwartet, dass durch die Diversifikation der Produktion in China – gleichermaßen eine Folge des Handelskriegs mit den USA wie der chinesischen Modernisierungsstrategie – die wirtschaftliche Rolle und Bedeutung der Nachbarländer weiter aufgewertet wird.

Dementsprechend bemühen sich europäische Länder und die EU, ihre wirtschaftliche und politische Präsenz in der Region zu stärken, zumal China mit dem regionalen Wirtschaftsabkommen RCEP einen bedeutenden wirtschaftlichen Punktsieg errungen hat. Dadurch wird ein gemeinsamer Wirtschaftsraum von 2,2 Milliarden Menschen mit einem Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung geschaffen, in den drei der vier führenden asiatischen Volkswirtschaften – China, Japan und Südkorea – erstmalig gemeinsam eingebunden sind.

Eilig schlossen die EU und China daher Ende vergangenen Jahres das europäische Comprehensive Agreement on Investment (CAI) ab, vorangetrieben vor allem von der Bundesregierung. Darin verspricht Peking, den Zugang für Investoren zu verbessern, Asymmetrien zwischen europäischen und chinesischen Unternehmen abzubauen und die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens sowie von internationalen Vereinbarungen zu Arbeitsrechten und gegen Zwangsarbeit voranzubringen. Zudem verstärkt die EU ihre Bemühungen um bilaterale Handelsverträge: Mit Japan, Singapur und Vietnam wurden Freihandelsabkommen abgeschlossen, mit Australien, Neuseeland und der Regionalorganisation ASEAN sind Verhandlungen im Gange. Auf der europäischen To-do-Liste stehen zudem die schwierigen Verhandlungen mit dem eher widerspenstigen Indien: Neu-Dheli wird auch von Großbritannien umworben, das nach dem Brexit seinen globalen Ambitionen frönt – oder, wie manche Beobachter spotten: seinen Illusionen einer Rückkehr des British Empire.

Eskalierende Systemkonkurrenz?

Jedoch steht noch mehr auf dem Spiel: Längst ist das Südchinesische Meer ein Schauplatz des von den USA und inzwischen auch von der EU ausgerufenen „Systemkonflikts“ geworden, der auch um die Corona-Pandemie, die chinesische Einverleibung von Hongkong oder die Digitalisierung ausgefochten wird. Seit der Finanzkrise 2008, aus der die USA geschwächt und China gestärkt hervorgingen, reagiert Washington auf Pekings geopolitisches Selbstbewusstsein zunehmend konfrontativ, was unter der damaligen Außenministerin Hillary Clinton euphemistisch als „Hinwendung nach Asien“ („Pivot to Asia“) bezeichnet wurde.[3] Und bislang setzt auch der neue US-Präsident Joe Biden auf einen solchen Kurs, wenn auch konzilianter im Ton als sein Vorgänger Donald Trump und eingebettet in Bündnisse.

Die Armada, an der die „Bayern“ jetzt beteiligt ist, soll unter Führung der USA die „regelbasierte Ordnung“ und die Gültigkeit „gemeinsamer Werte“ unterstreichen – und China in die Schranken weisen. Ministerin Kramp-Karrenbauer verglich Pekings Ansprüche im Mai vergangenen Jahres bereits mit dem Vorgehen Russlands in der Ukraine: „Einige Ereignisse im Indopazifik sollten wir genauso bewerten“, wird sie unter anderem vom „Handelsblatt“ zitiert[4] – was immerhin den Widerspruch des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich hervorrief.

Mit der Kreuzfahrt der „Bayern“ gen Osten sendet die Bundesregierung allerdings ein äußerst problematisches Signal – und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Sie beteiligt sich nicht nur an der aggressiven Eindämmungsstrategie der USA, sondern unterstützt zugleich Bestrebungen von Frankreich und Großbritannien, an hegemoniale Ambitionen aus ihrer kolonialen Vergangenheit anzuknüpfen. Präsident Emmanuel Macron will Frankreich als indopazifische Macht profilieren und suchte dafür unter anderem die herzliche Umarmung mit Indiens fundamentalistisch-autoritärem Premierminister Narendra Modi. Und auch Post-Brexit-Großbritannien strebt in die Region und versucht dabei den Spagat, gleichzeitig Indien, einst das Kronjuwel des britischen Empire, und dessen Rivalen China zu hofieren. Wirtschaftliche Interessen führen dabei zu geopolitischer Expansion – ein Vorwurf, der ansonsten China gemacht wird. Die Assoziation mit kolonialer Kanonenboot-Politik liegt nahe. Schon wird vor einem neuen Kalten Krieg zwischen Ost und West gewarnt.

Damit geht eine beschleunigte Aufrüstung der USA und ihrer Verbündeten wie Taiwan und Japan einher, die von Peking mit ebenfalls steigenden Militärausgaben beantwortet wird. Im Unterschied zu China verfügen die USA, Frankreich und Großbritannien bereits über ein dichtes Netz von Militärbasen in der Region. US-Rüstungsfirmen erwarten eine weitere Beschleunigung des Wettrüstens, das dann auch deutsche Rüstungsexporte beflügeln könnte.

Dieser Eskalationslogik folgen auch die Bestrebungen, gegen China gerichtete Allianzen zu stärken und neue zu schmieden. Unter anderem versuchen die USA, Japan, Australien und Indien, eine gemeinsame indopazifische Front aufzubauen. Auch Macron sucht Anschluss an diesen Quadrilateral Security Dialogue. Nachdem das Bündnis viele Jahre eher auf dem Papier existierte, erlebt es jetzt eine Wiederbelebung als ein zentraler Bestandteil einer neuen globalen militärisch-politischen Blockbildung. Verkauft wird es als Modell für den inzwischen von den USA wiederentdeckten Geist des Multilateralismus und für die Verteidigung von Demokratie, internationalem Recht, Sicherheit und Wohlstand „gegen Bedrohungen sowohl im Indopazifik als auch darüber hinaus“, wie es in einer Erklärung von Mitte März 2021 heißt.[5] Von Peking werden solche Bestrebungen hingegen als Versuch verstanden, unter Führung Washingtons Chinas Aufstieg zu begrenzen und seinen Einfluss zurückzudrängen.

Diese Internationalisierung und Militarisierung legt eine Zündschnur an einen zunächst nur regionalen Konflikt um Seegrenzen: Seit Anfang Januar haben die Kriegsschiffe der Volksbefreiungsarmee PLA die Vollmacht, auf ausländische Schiffe zu schießen. Wechselseitige Provokationen gibt es inzwischen zur Genüge. Zur Erinnerung: Vorwand für das direkte Eingreifen der USA im Vietnamkrieg wurde der sogenannte Zwischenfall im Golf von Tonkin im August 1964, bei dem angeblich vietnamesische Boote US-Schiffe beschossen.

Berliner Gratwanderung

Für Berlin markiert die Ausweitung des militärischen Engagements allerdings eine Gratwanderung: Sie steht im Widerspruch zu den Bemühungen, die Geschäfte mit dem Wirtschaftspartner China auszubauen. Dies kann die Beziehungen verkomplizieren und zu unkalkulierbaren Verstrickungen in Konflikte führen. Denn die Verhältnisse in der Region sind alles andere als übersichtlich, die Allianzen im Fluss, die Akteure „Frenemies“, mal Freund, mal Feind. Und die Ratifizierung des CAI ist noch nicht vollzogen und könnte bei wachsenden geopolitischen Spannungen auf Eis gelegt werden.

Auch die als Partner umworbenen Nachbarländer Chinas wie Vietnam und die Philippinen sowie die südostasiatische Regionalorganisation ASEAN geraten zwischen die kämpfenden Elefanten. Sie sind eher bemüht, die Kontroversen im Südchinesischen Meer mit der Regierung in Peking zu verhandeln. Zudem beansprucht die ASEAN für sich die zentrale diplomatische Rolle in Südostasien und dem westlichen Pazifik, unter anderem als Dialogform zu sicherheitspolitischen Themen für die beteiligten Regierungen, darunter sowohl China als auch die USA.

Die Region war während des Kalten Krieges schon einmal Schauplatz eines Systemkampfes, bei dem die Absicht einzelner Regierungen, sich neutral zu verhalten, nicht sonderlich respektiert wurde. In einem neuen Kalten Krieg könnte ein „Sicherheitsdialog“, der auf Regierungen von Industrieländern und Staaten außerhalb Südostasiens beschränkt ist, die Position und Bedeutung der ASEAN schwächen – und damit den regionalen Multilateralismus entwerten.

Außerdem haben die ASEAN-Länder selbst ein gesteigertes wirtschaftliches Interesse an guter Nachbarschaft mit China. Seit Jahren sind ihre Beziehungen mit der Volksrepublik immer enger geworden: Sie gehören zu den wichtigsten Nutznießern der Neuen Seidenstraße, der Auslagerung arbeitsintensiver Betriebe und von Chinas steigendem Appetit auf Agrarprodukte. Mit der von der ASEAN konzipierten RCEP ist es gerade gelungen, China in eine verbreiterte Wirtschaftsarchitektur einzubinden, an der auch enge militärische Verbündete der USA wie Japan und Südkorea beteiligt sind – auch wenn unklar ist, wie die Vorteile angesichts der Macht-Asymmetrie letztendlich verteilt sein werden.

Für Deutschland und Europa wiederum ist durch eine demonstrative Bündnistreue als politischer und militärischer Juniorpartner der USA wenig zu gewinnen. Und so richtig Angst machen die Fregatte „Bayern“, die europäische Armada und die zerstrittene, nach einer gemeinsamen Strategie suchende EU Peking anscheinend auch nicht. Das legen zumindest die Worte von Xin Hua, Direktor am Center for European Union Studies in Shanghai, nahe, der Mitte März erklärte: „Die EU wird durch ihre Aktivitäten im Indopazifik nicht ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit China gefährden.“[6]

Dennoch steht für Europa angesichts einer Eskalation, deren Dynamik andere bestimmen, einiges auf dem Spiel. Und in der Aussage von Xin Hua schwingt auch eine Drohung mit. Der weitere Kurs im Indopazifik könnte somit für die nächste Bundesregierung, egal wie sie aussieht, zur zentralen Frage werden.

[1] Vgl. „Global Times“, 25.3.2021.

[2] Vgl. Die Bundesregierung, Leitlinien zum Indopazifik, Berlin 2020.

[3] Vgl. Uwe Hoering, China: Machtpolitik mit Maske, in: „Blätter“, 8/2020, S. 25-28.

[4] Vgl. „Handelsblatt“, 5.11.2020.

[5] Vgl. „The Diplomat“, 18.3.2021.

[6] Vgl. „Global Times“, 14.3. 2021.

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