
Bild: Soldaten der polnischen Armee errichten in Krynki einen Zaun entlang der weißrussischen Grenze, um Geflüchtete an der Einreise zu hindern, 27.8.2021 (IMAGO / NurPhoto)
Es ist ein Drama, das sich an der polnisch-belarussischen Grenze im Ort Usnarz Górny abspielt. Seit Anfang August kampieren dort mehr als dreißig afghanische Flüchtlinge, die offenbar im Rahmen einer Racheaktion des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko gegen die Sanktionspolitik der EU dorthin transportiert wurden. Über Wochen berichteten polnische und internationale Medien über die Situation der Menschen. Doch seit Anfang September weiß niemand, was mit den Afghan*innen geschieht: Erstmals seit vierzig Jahren hat eine polnische Regierung bzw. Staatspräsident Andrzej Duda in Teilen des Landes den Ausnahmezustand verhängt. Dieser umfasst eine drei Kilometer breite Zone entlang der gut 400 Kilometer langen Grenze zu Belarus, zu der seither weder Hilfsorganisationen noch Journalist*innen Zugang haben. Aufgrund von einigen wenigen Flüchtlingen werden Grundrechte außer Kraft gesetzt. Inzwischen wurden drei Flüchtlinge innerhalb des Sperrgebiets tot aufgefunden, die Hintergründe sind unklar.
Längst gärt im Land ein Prozess, der mittelfristig demokratiegefährdend ist. Denn Polens Regierung hat mit ihrem Grenzregime selbst eine weitere, womöglich verhängnisvolle Grenze überschritten, in deren Richtung sie schon seit sechs Jahren – seit den im Herbst 2015 gewonnenen Parlamentswahlen – mehr oder minder schnurstracks marschiert. In Polen rufen der Ausnahmezustand und die Soldaten auf den Straßen böse Erinnerungen an das Kriegsrecht zu realsozialistischen Zeiten zwischen 1981 und 1983 wach. Dennoch begrüßt laut Umfragen ein Großteil der Pol*innen das beispiellose Vorgehen, die Zustimmungswerte der regierenden PiS steigen wieder. Dies liegt nicht nur daran, dass der Staatsrundfunk und andere PiS-nahe Medien ununterbrochen Drohkulissen an die Wand malen: durchlässige Grenzen, eine vermeintliche Sturmflut an neuen Flüchtlingen sowie angeblich angriffsbereite russische und belarussische Truppen, die Anfang September tatsächlich gemeinsame Manöver in Belarus durchführten. Vielmehr steigt die Zustimmung für die Regierung auch deshalb, weil die Gesellschaft sich mental längst im Ausnahmezustand befindet.
Dieser äußere und innere Ausnahmezustand resultiert zwar auch aus der Verunsicherung durch die Corona-Pandemie, vor allem aber aus der bereits Jahre andauernden Kriegsrhetorik der PiS. Ihr Angriff auf die Institutionen begann im Herbst 2015, als sie kurz nach der gewonnenen Parlamentswahl unrechtmäßig nach dem Verfassungsgericht griff. Danach nahm sie andere Teile des Justizwesens, die öffentlich-rechtlichen Medien und die zahlreichen Staatsunternehmen ins Visier – ganz zu schweigen vom verbalen Krieg gegen die verkappten „Kommunisten und Diebe” der Opposition, sexuelle Minderheiten und die wenigen muslimischen Flüchtlinge im Land. „Man kann nicht behaupten, dass [die Regierungsparteien] sich erst in letzter Zeit radikalisiert hätten. Die heutigen Vorstöße sind höchstens die Konsequenz der früheren“, schreibt der Soziologe Łukasz Pawłowski.[1]
Mittlerweile nimmt es die Mehrheit der Pol*innen offenbar als selbstverständlich hin, dass der Ausnahmezustand wegen fadenscheiniger Gründe eingeführt wird und zugleich den Medien der Zugang zum betroffenen Gebiet verwehrt wird. Der frühere Außenminister Radosław Sikorski wies zurecht darauf hin, dass Journalist*innen normalerweise selbst in heißen Kriegen nicht an der Berichterstattung gehindert werden. Die Regierung hätte ihnen den Zugang zum abgesperrten Gebiet gewähren können, wenn es ihr tatsächlich um die rechtmäßige, und vor allem: rechtmäßig ausgeführte, Sicherung der Grenze ginge und sie nichts zu verbergen hätte. „Doch die Regierung hat ganz offenbar festgestellt, dass ein schlechter Eindruck (‚sie verbergen etwas‘) in diesem Fall keine Bedrohung für sie ist“, konstatiert der konservative Publizist Piotr Zaremba.[2]
Dies ist ein symptomatischer Ausdruck der neuen Normalität. Denn es ist weniger „traurig“ als vielmehr hochgefährlich, dass es der PiS inzwischen egal sein kann, was über ihre offensichtlichen Grundrechtsverletzungen berichtet wird.
So nennt Reporter ohne Grenzen die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze einen „Ausnahmezustand der Pressefreiheit”. In ihrem jährlich veröffentlichten globalen Ranking zum Stand der Pressefreiheit führt die Organisation Polen aktuell auf Rang 64 – vor sechs Jahren stand das Land noch 46 Plätze höher.[3] Denn neben der Übernahme der öffentlich-rechtlichen Medien und ihrer Umgestaltung zum schamlosen Propagandawerkzeug macht die Regierung anderen, kritischen und unabhängigen Medien schon lange das Leben schwer: Staatsunternehmen schalten keine Werbung mehr, Redakteur*innen, die Missstände aufdecken, werden regelmäßig wegen Verleumdung angeklagt.[4] Zuletzt hat die PiS Ende 2020 über den staatlichen Ölkonzern Orlen mehrere hundert Regional- und Lokalzeitungen sowie Internetportale von der deutschen Verlagsgruppe Passau aufkaufen lassen und gewann so Zugang zu 17 Millionen Leser*innen. Etliche führende Journalist*innen der Gruppe wurden geschasst.
Um von all dem abzulenken, zündet die PiS propagandistisch immer wieder Nebelkerzen. Damit einher geht ein zunehmend heftiger Schlagabtausch mit Brüssel. Die EU-Kommission fordert derzeit Geldstrafen für Polen, weil die Regierung sich nicht dem Votum des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) beugt, der Teile der Justizreformen für Unrecht hält. Noch schwerer wiegt, dass Brüssel die Auszahlung von 23,9 Mrd. Euro an Zuwendungen sowie 12,1 Mrd. Euro an günstigen Krediten aus dem Corona-Wiederaufbaufonds blockiert, da Polen das Primat des EU-Rechts gegenüber dem Landesrecht nicht akzeptiert.[5] Die Kommission verlangt, dass Premierminister Mateusz Morawiecki seinen Antrag an das polnische Verfassungsgericht, über dieses Primat zu befinden, zurückzieht – was aus Sicht des Regierungschefs einem politischen Selbstmord gleichkäme. Denn das würde fundamental am Narrativ von der stolzen Souveränität rütteln, das die PiS seit jeher propagiert und das ihr einen nicht unbedeutenden Teil der Zustimmung sichert.
Das drohende Scheitern des Polnischen Deals
Um die momentane Eskalationspolitik der PiS in Gänze zu verstehen, ist jedoch ein Blick auf die weiteren Ursachen für die bisher stabilen Zustimmungswerte der PiS wichtig: Ihre teilweise durchaus progressive Wirtschafts- und Sozialpolitik hat in den vergangenen Jahren nicht nur zu einem relativ hohen Wirtschaftswachstum, sondern auch zu einer Verringerung von Armut und Einkommensungleichheit geführt. Zugleich aber ist die PiS mit vielen ihrer progressivsten Vorstöße sensationell gescheitert, etwa mit dem vor fünf Jahren aufgelegten Programm zum Bau von staatlich geförderten Wohnungen. Ähnliches droht nun Teilen des sogenannten Polnischen Deals, ein großangelegtes Reformpaket, mit dem etwa der Steuerfreibetrag für Geringverdiener massiv erhöht, Privilegien von besserverdienenden Selbstständigen und Unternehmern beschnitten und die Einkommenssteuer progressiver gestaltet werden sollten. Der Polnische Deal ist eng verbunden mit dem sogenannten Wiederaufbauprogramm des Landes, für den die Regierung die EU-Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds nutzen wollte. Doch die Unernsthaftigkeit, mit der die PiS den Polnischen Deal vorbereitete, stieß die Mehrheit der Menschen vor den Kopf, so dass die Regierung in wichtigen Fragen zurückruderte. Stattdessen schaltet sie auch sozialpolitisch in den Kampfmodus, und die Staatsmedien schießen sich in ihrem Auftrag nun auf die Beschäftigten des Gesundheitswesens ein, die Anfang September für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen streikten. Ob zumindest Teile des Deals überhaupt die parlamentarische Hürde nehmen können, ist inzwischen fraglich.
Dabei sollte der Polnische Deal ursprünglich ein großer Wurf werden, mit dem die PiS bei den nächsten Wahlen punkten wollte. Doch angesichts seines wahrscheinlichen Scheiterns und der vorläufigen Blockade der EU-Gelder, kann sich die PiS die Zustimmung der Bevölkerung, die derzeit unter der EU-weit höchsten Inflation ächzt, wohl nicht mehr über wirtschaftliche Impulse sichern. Genau deswegen inszeniert die Partei den Ausnahmezustand. Sozialpsychologisch spielt sie dabei – neben dem Umstand, dass sich die Bevölkerung angesichts einer zumindest geglaubten Bedrohungslage um die Regierenden scharrt – mit der historisch gewachsenen Selbstwahrnehmung einer großer Zahl von Menschen im Land, stets von potentiellen Besatzern umgeben zu sein, gegen die man heroisch kämpfen müsse.
»Polen muss sich verteidigen!«
Dieses Narrativ wirkt, weil es sich in der jüngsten Geschichte in der Tat häufiger überaus blutig bestätigt hat, wenn auch nicht immer so schwarz-weiß, wie es die PiS glauben machen will. Das erwähnte Großmanöver Russlands und Belarus unter dem Namen „Zapad 21“ unweit der polnischen Grenze ist, obwohl es seit zwanzig Jahren regelmäßig stattfindet, zusätzliches Wasser auf den Mühlen dieser Erzählung. Laut wird es in der PiS keiner sagen, aber sie dürfte dafür beten, Wladimir Putin möge ein wenig mehr provozieren. Dann könnte die PiS den Ausnahmezustand als politisches Vehikel künftig häufiger verhängen.
Nicht zuletzt daher wird im Land immer lauter die Frage diskutiert, ob die nächsten Wahlen noch frei und demokratisch sein werden, ob sie nun turnusgemäß im Herbst 2023 oder – angesichts steigender Umfragewerte der PiS – vorgezogen stattfinden. Die PiS hat inzwischen das Oberste Gericht, das letztinstanzlich über die Gültigkeit von Wahlen entscheidet, mit ihr genehmen Richtern besetzt. Zudem ist die Macht im polnischen Zentralstaat derart konzentriert, dass es keine autonomen Institutionen mehr gäbe, die einer möglichen Nichtanerkennung der Wahlniederlage durch die PiS begegnen könnten. Wer aber wie PiS-Chef Jarosław Kaczyński seine politischen Gegner als „Mörder und Kanaillen“ diffamiert, der ist kaum gewillt, Land und Macht an ebendiese abzugeben.
Droht der »Polexit«?
Zudem hat die EU-Kommission mit dem neu eingeführten Rechtsstaatsmechanismus ein scharfes Schwert gegen Polen in der Hand. Eine politisch brisante Situation, die für viele Menschen im Land die Belagerungsthese bestätigt. Am 21. September verhängte der EuGH eine Strafe von 500 000 Euro täglich gegen Polen, weil es den angeordneten Stopp des Braunkohletagebaus an der tschechischen Grenze nicht befolgt. Es verwundert daher kaum, dass PiS-Politiker Brüssel nun als „Besatzer“ bezeichnen und lauter als je zuvor über einen möglichen „Polexit“ debattieren. So sagte jüngst der PiS-Politiker Ryszard Terlecki, Vize-Präsident des Sejm und Kaczyńskis rechte Hand: „Die Briten haben gezeigt, dass ihnen die Diktatur der Brüsseler Bürokratie nicht zusagt, sie kehrten ihr den Rücken und verließen sie. Wir wollen nicht austreten [...], doch wir dürfen uns nicht in etwas treiben lassen, das unsere Freiheit beschränkt.“[6]
Terleckis Stimme ist die Stimme Kaczyńskis. Um die mehrheitlich EU-freundliche Bevölkerung zu beruhigen, erteilte die PiS Mitte September parteiintern einem EU-Austritt Polens eine klare Absage. Kaczyński scheint darauf zu spekulieren, dass sich die europäische wie weltpolitische Lage in absehbarer Zeit nicht stabilisieren wird, sodass demokratische Standards nicht mehr die zentrale Bedingung für die EU-Mitgliedschaft sein werden. Sprich: Selbst wenn an der Weichsel Zustände herrschen sollten, die sich jenen in Belarus zumindest annähern, wird laut diesem Denkspiel für Brüssel der Verbleib Polens in der EU aus geostrategischen und wirtschaftspolitischen Gründen wichtiger sein als die Qualität des polnischen Rechtssystems oder freie Wahlen.
Doch es ist genau dieses Denken, das langfristig einen „Polexit“ wahrscheinlicher macht. Dieser sei durchaus möglich, sagt etwa der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev: „Niemand will dies. Weder die polnische Regierung, noch irgendjemand anderes in der Union. […] Doch beim Brexit war es ähnlich – niemand glaubte anfangs daran, so sehr war Großbritannien mit der Rest-EU integriert. Durch Verschulden der polnischen Führung, aber auch durch die EU-Kommission könnte ein Prozess in Gang kommen, den niemand mehr aufhalten kann.“[7] Womöglich sind wir aktuell Zeuge eines solchen Prozesses und es zeigt sich, dass nicht wenige EU-Mitgliedsstaaten eine stärker föderale, wenn nötig auch kleinere Union anstreben. Es ist daher kein Zufall, dass die Blockade der EU-Mittel für Polen nicht von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angestrebt wurde, sondern von Wirtschafts- und Währungskommissar Paolo Gentiloni, der als Italiener den Föderalisten zugeschlagen wird, für die ein Verbleib Polens in der EU nicht oberste Priorität hat. Und es ist ebenso kein Zufall, dass Kanzlerin Angela Merkel zwischen Warschau und EU-Kommission vermitteln will, denn „Politik ist doch mehr, als nur vor Gericht zu gehen“, wie sie bei ihrem letzten Besuch in Warschau am 11. September sagte. Die Ausrufung des Ausnahmezustands mit seinen massiven Beschränkungen kritisierte sie dabei mit keinem Wort – denn Polen und die EU seien Ziel „hybrider Attacken“ des Lukaschenko-Regimes.
Noch gibt es in Polen kein autoritäres Regime. Doch die Abstiegsspirale des Landes dreht sich fortlaufend weiter – womöglich in eine Zone der „Ausnahmen“, aus der der Wiederaufstieg schwieriger sein wird als je zuvor.
[1] Łukasz Pawłowski, Przyczyna strukturalna, nie osobista, in: „Dziennika Gazeta Prawna“, 3.-5.9.2021.
[2] Piotr Zaremba, Wygibasy na granicy, in: „PlusMinus”, 11./12.9.2021.
[3] Michał Kokot, Reporterzy bez Granic: Media w Polsce i na Wegrzech pod butem rzedzacaych, www.wyborcza.pl, 20.4.2021.
[4] Jak pozywa władza? Niemal sto procesów dziennikarzy Ringier Axel Springer Polska w piec lat, www.rp.pl, 16.3.2021.
[5] Vgl. Steffen Vogel, Polen und Ungarn: Mit EU-Sanktionen die Demokratie retten?, in: „Blätter“, 9/2021, S. 21-24.
[6 Zit. n. Magazin „Do Rzeczy”, 13.-19.9.2021.
[7] „Zapasc liberalnej demokracji”, Interview mit Ivan Krastev, in: „PlusMinus”, 11./12.9.2021.