Von der Geschichtsfälschung zum Angriffskrieg

Bild: Zerstörtes Einkaufszentrum in Kiew/Ukraine, 22.3.2022 (IMAGO / ZUMA Wire)
Zu den Ursachen der globalen Krise, in der sich die Welt aktuell befindet, gehören mangelndes Wissen und propagandistische Manipulation. Verwirrt blicken jetzt viele auf die Geschehnisse in der Ukraine, und dafür sind unter anderem jene Wissenschaftler und Publizisten verantwortlich, deren Expertise versagt hat – sowohl in Bezug auf Russland als auch in Bezug auf die Ukraine. Eigentlich könnte man meinen, die russische Invasion der Ukraine habe alle Zweifel oder Mehrdeutigkeiten beseitigt. Und dennoch stoßen wir weiter auf absurde geopolitische Thesen über die Ursachen dieses Krieges, und weiterhin werden der Ukraine Ratschläge erteilt, wie sie sich selbst oder ihre Außenpolitik ändern sollte, um einen dauerhaften Frieden in Osteuropa zu erreichen. Manche Experten behaupten bis zum heutigen Tag, dass Wladimir Putins Ziele in diesem Krieg unklar sind.
Auch die öffentliche Debatte in Deutschland zeigt, dass hierzulande immer noch Illusionen und falsche Vorstellungen über die Ursachen des Krieges bestehen. Diese Ursachen sind nämlich nicht in den Beziehungen zwischen Staaten und zwischen militärisch-politischen Blöcken zu finden, sondern in Russland selbst. Dem Regime, das sich dort in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat, sind aufgrund seiner Natur Konflikte und Kriege immanent. Als die gesamte westliche Diplomatie versuchte, die russische Großinvasion mit Kompromissen zu verhindern, war der Krieg tatsächlich bereits unvermeidlich. Denn für die Menschen im Kreml, aber auch für viele Russen, sind die Liquidation der Ukraine als Nation und die Auflösung ihrer Staatlichkeit der einzig befriedigende Ausgang dieses Konflikts.
Warum ist dem so? Erlauben Sie mir zunächst einen kurzen historischen Exkurs. Die Geschichte spielt hier sicherlich eine Rolle. Zumindest im Kopf von Putin, der völlig in die Geschichte versunken zu sein scheint – oder genauer, in die absurde Vorstellung, die er sich von ihr macht.
Ukrainer und Russen sind zwei Völker, deren Geschichte tatsächlich eng miteinander verflochten ist, wie es sich so mit den Geschichten von Nachbarvölkern verhält. Als sich in Osteuropa Nationen im modernen Sinne zu bilden begannen, nahmen die Russen die Rolle der dominierenden ethnischen Gruppe des großen Reiches ein. Die Ukraine war in diesem Imperium zwar einer der wichtigsten Randbezirke. Doch obwohl sich ihre Einwohner sprachlich und kulturell von Russen unterschieden, wurde das Land von der offiziellen imperialen Ideologie nicht als eigenständige Nation anerkannt.
Die Ukrainer wurden „Kleinrussen“ genannt, die laut dem offiziellen Narrativ zusammen mit den „Großrussen“ (also den „eigentlichen“ Russen) und Weißrussen die drei Zweige des einheitlichen russischen Volkes bildeten. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert setzte die russische Bürokratie diese Idee der „dreieinigen russischen Nation“ mit allen verfügbaren Mitteln um und unterdrückte jeden Versuch, die Idee der ukrainischen Souveränität zu fördern.
Als die russische Autokratie den gesellschaftlichen Spannungen im Zuge des Ersten Weltkriegs nicht standhalten konnte und unterging, gewann die ukrainische Nationalbewegung die Unterstützung von Millionen. Die Ukrainische Volksrepublik, die im Zuge der Revolution von 1917 gegründet wurde, bestand jedoch nur kurze Zeit. Bald wurde sie durch die aus Moskau geführte Rote Armee liquidiert. Aber die ukrainische Nationalbewegung war so groß, dass die Bolschewiki sie nicht einfach ignorieren konnten. Anstelle der Ukrainischen Volksrepublik proklamierten sie die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, die zu einem Teil des neuen politischen Gebildes wurde, der 1922 gegründeten Sowjetunion.
In diesem Staat wurde unter Stalins Herrschaft ein eigenartiges System der Beziehungen im nationalen Bereich geschaffen. Das System beruhte auf persönlicher Gleichheit einerseits und auf Gruppenhierarchie andererseits. Jegliche nationalen „Abweichungen“ der nicht-russischen Völker wurden mit aller Härte bestraft. Gleichzeitig wurden die Vertreter nichtrussischer Nationen, die dem Regime gegenüber hinreichend treu waren, kaum diskriminiert. Die Russen als nationale Gruppe galten jedoch als die wichtigste in der Sowjetunion und Russland hielt sich für den älteren Bruder aller anderen sowjetischen Nationen.
Die Wurzeln des Krieges
Das System schien sehr stabil zu sein. Mit dem Untergang des Kommunismus kam es jedoch zu einem neuen Umbruch: 1991 erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit; die Sowjetunion löste sich auf. Und von diesem Moment an beginnt die Geschichte des Krieges, über den wir heute sprechen. Seine historischen Wurzeln reichen – wie beschrieben – tiefer in die Vergangenheit. Aber seine konkrete Geschichte beginnt 1991.
Vielen Russen erschien der Zusammenbruch der Sowjetunion als Tragödie. Oder besser gesagt, er wurde später zu einer Tragödie erklärt. Tatsächlich profitierte Russland aber davon, von der Bürde des Imperiums befreit zu sein. Nach einer schwierigen Übergangszeit konnten viele Russen seit den frühen 2000er Jahren, dank der enormen Einnahmen aus dem Export von Gas und Öl, ein Wohlstandsniveau erreichen, von dem sie zu Sowjetzeiten nicht einmal träumen konnten. Aber je weiter die sowjetische Realität zurücklag, desto stärker wurde bei vielen die Sehnsucht nach der verlorenen imperialen Größe.
Genau diese Nostalgie hat Wladimir Putin, der im Jahre 2000 russischer Präsident wurde, ausgenutzt. Für viele Russen, die in den Medien seit Jahren täglich Verschwörungserzählungen präsentiert bekommen, war der Zusammenbruch der Sowjetunion das Ergebnis feindlicher Machenschaften, einer ideologischen Sabotage. Aus dieser Perspektive betrachtet, war der Zerfall der Sowjetunion gleichbedeutend mit einer Niederlage Russlands. Putin nannte ihn die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.
Sein Wirken als Staatschef zielte daher von Beginn an wesentlich darauf ab, die vermeintliche Niederlage wettzumachen: Das angeblich erniedrigte Russland sollte sich „von den Knien erheben“ und seine frühere Größe zurückgewinnen. Und bei vielen Russen stieß diese Politik auf eine positive Resonanz. Jede Krise, die durch die aggressiven Maßnahmen des Kremls ausgelöst wurde, erhöhte die Zustimmungswerte zu Putins Politik und seine persönliche Popularität. Das gilt auch für die gegenwärtige Invasion.
Das Konzept der „russischen Welt“ wurde zur ideologischen Grundlage einer revanchistischen Politik. Viele Russen sehen ihr Land als eine separate Zivilisation, das letzte Zentrum wahrer Religion, Kultur und traditioneller Werte. Sie glauben an eine besondere russische Mission – nämlich diese Werte und diesen Glauben zu bewahren und die Welt vor moralischem Verfall und Erniedrigung zu retten. Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kirill sagte kürzlich, dass Russland in der Ukraine diejenigen Menschen schützt, die keine Schwulenparaden in ihren Städten haben wollen. Diese „russische Welt“ umfasst dabei mehr als das heutige Russland. Zwar wird nirgendwo definiert, wo ihre Grenzen verlaufen – angesichts der heiligen Töne in diesem Konzept ist jedoch klar, dass die Ukraine und insbesondere Kiew, als das „Taufbecken Russlands“, unbedingt dieser Welt angehören müssen.
Im Weltbild der russischen Führungselite nimmt die Ukraine überhaupt einen ganz besonderen Platz ein. Für Putin, wie auch für viele russische Bürger, ist die Ukraine nicht nur ein feindlicher Staat, eine Marionette des feindseligen Westens. Mehr noch: Für Putin ist die Ukraine eine feindliche Fiktion, die keine historischen Wurzeln hat. Die Ukrainer als Volk existieren für ihn überhaupt nicht. Ein weiteres Problem Putins mit der Ukraine ist, dass sie in der Lage war, ein demokratisches politisches Regime und eine offene Gesellschaft aufzubauen. In der Ukraine gibt es seit 30 Jahren unabhängige freie Wahlen, es herrscht Pressefreiheit. Ein solches Land ist ein schlechtes Beispiel für die Russen.
Die These, die Ukraine und die Ukrainer seien Fiktionen und nicht mehr als ein Instrument in den Händen der Feinde Russlands, hat eine lange Geschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Doch erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, insbesondere während Putins Herrschaft, wurde diese Haltung gegenüber der Ukraine zum Mainstream. Putin selbst hat diese Meinung erstmals auf einem Russland-Nato-Treffen 2008 geäußert: „Die Ukraine ist nicht einmal ein Staat. Was ist die Ukraine? Ein Teil ihres Territoriums gehört zu Osteuropa, und ein anderer Teil, und zwar ein Großteil dieses Landes, wurde ihnen von uns geschenkt.“ Die Idee, den ukrainischen Staat aufzulösen oder zu zerteilen, ist oft im russischen Fernsehen zu hören. Für viele Russen sind die Ukrainer Verräter, die schuld sind am Zerfall der Sowjetunion und die damit die slawische Einheit zerstört haben.
Den Aussagen von Putin am Vorabend der Invasion der Ukraine nach zu urteilen, will er mit seinem Angriffskrieg die „Verräter“ bestrafen und die vermeintlichen historischen „Fehler“ korrigieren. Ein Kolumnist der russischen staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti hat in einem Artikel, der nur aus Versehen kurzzeitig online gestellt wurde, die Ziele des Kremls ganz offen umrissen. Unter dem Titel „Die Offensive Russlands und die neue Welt“ erklärte er, der Krieg diene der „endgültigen Lösung der ukrainischen Frage“. Diese solle nicht den künftigen Generationen hinterlassen werden.
Am Vorabend des Angriffs, am 21. Februar, hielt Wladimir Putin eine lange Rede, die sich fast ausschließlich um die Vergangenheit drehte. Putin wiederholte seine Überzeugung, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind. Dementsprechend existierten die Ukrainer als Volk überhaupt nicht. Auch der ukrainische Staat sei ein künstliches Gebilde. Seine bloße Existenz sei das Ergebnis von Lenins verbrecherischen Fehlern und seine Abtrennung von Russland das Ergebnis von Gorbatschows Scheitern. Putins Rede deutete bereits an, dass er diese „Fehler“ korrigieren wollte. „Ihr wollt eine Dekommunisierung?“, fragte Putin drohend. „Wir zeigen euch, was eine echte Dekommunisierung für die Ukraine bedeutet.“
Das Ultimatum, das Putin der Ukraine am Vorabend der Invasion stellte, war ziemlich vage formuliert, aber die Absichten hinter diesem Ultimatum waren klar. Putin forderte die Kapitulation und Entwaffnung der Ukraine und damit den Entzug ihrer Souveränität. Ohne dies wäre es unmöglich, Putins zweite Hauptforderung zu erfüllen – die „Entnazifizierung“ der Ukraine.
Was Letzteres bedeuten soll, haben die Russen nie klar definiert, aber ausgehend von der allgemeinen Logik von Putins jüngsten Reden kann man annehmen, dass es sich um die Beseitigung oder Inhaftierung von Vertretern der ukrainischen politischen und kulturellen Eliten handeln soll. Diese werden im Diskurs der russischen Propaganda ständig als Faschisten oder Nazis bezeichnet. Die wichtigste russische Nachrichtensendung „Vesti“ behauptete beispielsweise am 15. März: „Natürlich sind fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung in der Ukraine unverblümte Neonazis. Darüber hinaus hat der lokale Neonazismus zwei Strömungen: ein ‚reiner‘ – mit Basis in Charkow, und ein massiverer galizischer Bandera-Nazismus – mit Basis in der Westukraine. Inklusive der Sympathisanten kommt der Neonazismus landesweit auf 15 bis 20 Prozent Unterstützer.”
In seiner Rede wies Putin auch darauf hin, dass niemand die Menschen jemals gefragt habe, ob sie zur Ukraine gehören wollen. Sollte die Ukraine durch russische Truppen okkupiert werden, würden die russischen Behörden entsprechende Volksabstimmungen abhalten. Welches Ergebnis eine nach russischen Methoden organisierte „demokratische“ Wahl gehabt hätte und haben würde, ist leicht vorhersehbar.
Falsche Mythen
Putins Rede war in einer Hinsicht auch für mich eine Überraschung: Warum hat er nicht einmal versucht, seine brutalen Absichten zu verbergen? Offenbar war er sich, wie anscheinend viele Sicherheitsexperten, eines leichten Sieges so sicher, dass er sich das Vergnügen erlaubte, die Ukraine auch noch zu verspotten. Ein solch vermeintlich künstliches und dysfunktionales Gebilde wie der ukrainische Staat hatte in seinen Augen keine Chance, dem Schlag der angeblich zweitbesten Armee der Welt standzuhalten. Umso unverständlicher muss für Putin der Widerstand des ukrainischen Volkes gewesen sein, das aus seiner Sicht überhaupt nicht existiert.
Laut jüngsten Umfragen glaubt die überwiegende Mehrheit der Ukrainer, dass Putins Ziel darin besteht, die Ukraine als Staat und/oder die Ukrainer als Volk zu zerstören. Das Verhalten der russischen Truppen in der Ukraine bestätigt diese Annahmen voll und ganz. Putin versucht nicht einmal, die Unterstützung der Ukrainer zu gewinnen. Was wir jetzt sehen, ist einfach ein Versuch, das ukrainische Territorium zu erobern. Selbst jene Regionen der Ukraine, in denen tatsächlich ein Teil der Bevölkerung Sympathien für Russland hegte, werden barbarisch bombardiert. Russische Truppen schießen absichtlich auf zivile Objekte, Wohn- und sogar Krankenhäuser. Offensichtlich hat niemand vor, mit der Bevölkerung der eroberten Gebiete oder mit der Ukraine als Subjekt zu verhandeln. Es sieht eher danach aus, als solle die Bevölkerung gezielt vertrieben werden.
Die Ereignisse nach dem 24. Februar 2022 zeigen, wie falsch die Propagandaschemata und Stereotypen sind, die nicht nur Putins Weltbild beherrschen, sondern auch die Wahrnehmung der Ukraine und der Welt stark beeinflussen. Erstens hat der „dysfunktionale“ und „durch und durch korrupte“ ukrainische Staat den kolossalen Schlägen bislang standgehalten, anstatt nach wenigen Tagen zu zerbrechen. Ukrainische Rettungsdienste, Regierungs- und Sicherheitsbehörden bleiben sogar unter ständigem Beschuss funktionsfähig. Bis auf sehr wenige Ausnahmen stellte sich kein Politiker auf die Seite des Feindes.
Als Mythos entpuppte sich auch die Vorstellung, die Ukraine sei ein gespaltenes Land. Dieser Mythos hat sowohl den öffentlichen Diskurs in Europa als auch die akademische Forschung dominiert. Es wurde angenommen, dass die Ukraine eine unüberwindbare territoriale Spaltung zwischen ihrem pro-russischen östlichen und ihrem pro-europäischen westlichen Teil aufweist. In der Realität erleben wir, dass die Bewohner aller Regionen der Ukraine zur Verteidigung des angeblich gespalteten ukrainischen Staates aufgestanden sind. Auch die Bewohner von Regionen, die als pro-russisch galten, versuchen mit bloßen Händen russische Panzer aufzuhalten, gehen in besetzten Städten auf Straßenproteste und weigern sich, jegliche Hilfe der Besatzer zu akzeptieren. Die Ukraine, die sprachlich und kulturell sehr vielfältig war und ist, hat eine bemerkenswerte Einigkeit gezeigt, wenn es darum geht, gegen die fremde Besatzung Widerstand zu leisten.
Falsche Projektionen
Es ist etwas Erstaunliches passiert: Die Europäer haben lange und sorgfältig in der Ukraine nach Manifestationen des „ukrainischen Nationalismus“ gesucht und waren empfänglich für die Behauptung, der ukrainische Staat unterdrücke die russischsprachige Bevölkerung. Wie der Historiker Bert Hoppe angemerkt hat, sagt diese Vorstellung von der angeblich gespaltenen Ukraine jedoch viel mehr darüber aus, wie in Westeuropa über die Nation gedacht wird als über die Realität der Ukraine. Seit den ethnischen Homogenisierungen und Vertreibungen im 20. Jahrhundert können sich in Westeuropa manche eine Nation nur noch als eine ethnisch und kulturell homogene Gemeinschaft vorstellen. Ein multiethnisches und vielsprachiges Land wie die Ukraine erscheint vor diesem Hintergrund zwangsläufig als „Problem“.
Und wie verhält es sich mit der Nato? Es ist kein Zufall, dass ich diese Organisation noch nicht einmal erwähnt habe. Nicht die Nato-Osterweiterung hat diesen Krieg ausgelöst, sondern die imperialistischen Ziele Russlands. Russland hat im Laufe der Jahre erfolgreich mit dem Bündnis zusammengearbeitet, und einige Nato-Staaten haben sogar Rüstungsverträge mit Russland abgeschlossen. Die Russen sehen das Bündnis schon allein deshalb nicht als wirkliche Gefahr an, weil sie die westlichen Entscheidungsträger seit langer Zeit für schwach halten, unfähig zu entschlossenem Handeln.
Das Problem mit der Nato besteht für Russland nur darin, dass der Beitritt der Ukraine zum Bündnis den Weg für die Rückkehr des ukrainischen Landes unter die russische Herrschaft endgültig versperren würde. Es sei daran erinnert, dass Putin auch hartnäckig versucht hat, den Abschluss eines Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union zu verhindern. Am Vorabend des russischen Angriffs zeigte die ukrainische Führung deutlich ihre Bereitschaft, alternative Wege kollektiver Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu diskutieren. Doch das hielt Putin nicht auf. Genauso wenig wie die Diplomatie, auf die in europäischen Regierungen so viele Hoffnungen gesetzt wurden.
Ich habe aus dem Westen bereits Vorschläge gehört, dass der einzige Ausweg aus diesem Krieg die Kapitulation der Ukraine wäre. Putins Pläne aber lassen vermuten, dass eine Kapitulation der Ukraine nur eine noch größere Katastrophe nach sich zöge als die, die wir heute erleben. Kurz vor dem Angriff benutzte er in seiner für die Ukrainer bestimmten Rede ein Zitat aus einem Lied einer russischen Punk-Rock-Band, in dem es um Vergewaltigung geht: „Ob es dir gefällt oder nicht, da musst du durch, meine Süße“. Und jetzt ist dieser Krieg für die absolute Mehrheit der Ukrainer nicht nur ein Krieg für das Überleben ihrer Nation. Und es ist nicht nur ein Krieg für die Freiheit. Es ist ein Krieg für die Wahrung der eigenen Menschenwürde, die Putin mit Füßen treten will. Eine Kapitulation würde, davon bin ich überzeugt, eine moralische Katastrophe nicht nur für die Ukrainer selbst, sondern für die gesamte zivilisierte Welt bedeuten.
Diktaturen sind für alle gefährlich
Die westliche Welt, die den Ruf „nie wieder“ so oft wiederholt hat, hat gelassen der Bildung eines russischen Regimes zugesehen, das sich das Ziel setzte, die ukrainische Nation zu zerstören. Bewahrt uns die weltberühmte Vergangenheitsbewältigung wirklich vor der Wiederholung der Tragödien der Vergangenheit? Wie konnte es dazu kommen, dass das Putin-Regime, das sich offen zur Ideologie des revanchistischen imperialen Nationalismus bekennt, lange ein legitimer Teilnehmer der G8 war? Haben die Europäer wirklich an ihrer kolonialen Vergangenheit gearbeitet? Warum wurde die Stimme der Ukrainer immer als die Stimme „engstirniger Nationalisten“ wahrgenommen und warum waren Leute wie Putin so lange respektable Partner? Wie ist es überhaupt möglich, dass ein Staat in Europa im 21. Jahrhundert ein Nachbarland angreift und diesen Angriff mit Lügen über die Bedrohungen für eigene Sicherheit rechtfertigt? Leben die Vereinten Nationen überhaupt noch?
Ich bin davon überzeugt, dass auch die Wertekrise im Westen ein grundlegender Faktor für die aktuelle Situation in der Welt ist. Diese Krise manifestierte sich vor allem im Widerspruch zwischen dem deklaratorischen Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie und der Tolerierung diktatorischer Regime in der Praxis. Es ist den westlichen Entscheidungsträgern schon längst bewusst, dass es in Russland seit mehreren Jahren keine Pressefreiheit mehr gibt. Dass in Russland Oppositionelle ermordet werden. Dass Russland brutale Diktaturen überall auf der Welt unterstützt. Aber Russland blieb dennoch immer ein begehrter Handelspartner und konnte aus dem Westen Technologien importieren, um seine Armee aufzubauen. Und jetzt bedroht dieses Monster, das der kollektive Westen wachsen ließ, die ganze Welt.
Eines müssen wir daher aus der heutigen Krise an erster Stelle lernen: Wir müssen uns bewusst werden, dass Diktaturen für alle gefährlich sind. Auch für diejenigen, die nicht unter dieser Diktatur leben. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Krieg für die demokratische Welt ein Moment der Wahrheit ist. Die Globalisierung, von der so viel die Rede war, ist nicht in dem Sinne Wirklichkeit geworden, wie alle gehofft haben. Was wir jetzt sehen, ist keine postnationale Welt, die von Wirtschaftswachstum und Umweltprojekten durchdrungen ist. Wir rutschen eindeutig in eine Welt ideologischer Konfrontation und des globalen Kampfes um Einflusssphären. Wenn die Ukraine fällt, wird das nicht das Ende, sondern der Beginn der Tragödie sein.
In der deutschen Verfassung ist verankert, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Dieses Recht steht vor dem Recht auf Leben. Die Ukrainer, die jetzt an der Front sterben, gehören zu den wenigen, für die dieses Prinzip nicht bloß leere Worte sind. Sie werden bis zum Letzten kämpfen. Letztendlich bleibt der Ukraine keine andere Wahl, als zu kämpfen.
Der Beitrag basiert auf dem Vortrag „Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ideologische Grundlagen und rhetorische Rechtfertigung“, den der Autor am 17.3.2022 im Potsdamer Einsteinforum gehalten hat, www.einsteinforum.de