Ausgabe August 2023

Das Rammstein-Syndrom

Junge Frauenkörper als Wegwerfware

Anfang 2020 tauchte im Internet ein Video[1] von einem Liveauftritt des Musikers Till Lindemann im Wiener Gasometer auf.[2] Der Rammstein-Sänger, der auch eine Solokarriere als Lindemann verfolgt, ist darauf am Ende eines Konzerts auf der großen Bühnenleinwand so zu sehen, als sei er in diesem Moment „backstage“ und werde dabei live gefilmt. Alles erinnert dabei an einen 100 Jahre alten Stummfilm: Zu heiterer Klaviermusik und mit abgehackten Bewegungen wird in einer Schwarz-weiß-Aufnahme gezeigt, wie der knapp 60jährige stehend die Köpfe von zwei vor ihm knienden Frauen dirigiert. Die beiden nehmen abwechselnd sein erigiertes Glied in den Mund und machen dabei schnelle, ruckartige Bewegungen mit den Köpfen. Lindemann äfft diese Bewegungen simultan mit übertriebenem Grinsen für die Kamera nach und nuckelt dabei mit höhnischem Gesichtsausdruck an seinem eigenen Finger. Das Publikum lacht anfangs ungläubig, dann fängt es an zu johlen und im Takt zu klatschen, während Lindemann, zu wackeligen Kamerabewegungen, die beiden Frauen nacheinander von hinten penetriert. Das gut zweiminütige Video endet damit, dass die Frauen sich die Kleidung zurechtrücken und Lindemanns Weg von unter der Bühne bis auf die Bühne verfolgt wird.

Außerhalb der Rammstein-Fangemeinde nahm niemand Notiz von dieser Performance. Die Fans hingegen diskutierten in verschiedenen Foren des Social-Media-Netzwerks Reddit, in dem der Clip geteilt wurde, darüber, wie diese Verwendung von pornografischem Material in einer Konzertsituation zu bewerten sei. Ob hier tatsächlich live von hinter der Bühne gestreamt oder voraufgezeichnet worden sei, ob es sich um vertraglich abgesicherte Sexarbeiterinnen oder freiwillig tätige Fans gehandelt habe, ob alles, auch die Filmübertragung auf die Bühne, konsensuell arrangiert gewesen sei. Der Tenor: Rammstein und insbesondere Till Lindemann seien genau für diese Schockmomente zu Recht so beliebt und lebten von der Provokation. Kein Star dieser Größenordnung würde es riskieren, sich mit erzwungenem Sex bzw. nicht abgesprochenen Darstellungen davon einem öffentlichen Skandal und sogar etwaigen juristischen Konsequenzen auszusetzen. Viele Frauen würden quasi Schlange stehen, um mit Lindemann Sex zu haben. Der User WaldemarKoslowski schrieb: „Till ist viel zu intelligent, um solche Aufnahmen ohne die Zustimmung der Mädchen zu verwenden. Es würde ihn für immer ruinieren, und er ist nicht einmal Amerikaner.“[3] Doch auch andere Stimmen wurden laut. Solche, die den Film „abstoßend“, „respektlos“ oder einfach „erbärmlich“ fanden. Oder solche, die darauf hinwiesen, dass der Akt höchstwahrscheinlich real und nicht zuvor inszeniert und aufgezeichnet worden sei, da solche Backstage-Szenen bei fast jedem Rammstein-Konzert an der Tagesordnung seien.

Ein nie versiegender Strom jugendlicher Frauenkörper

Als die Nordirin Shelby Lynn Ende Mai dieses Jahres auf ihrem Twitter-Account öffentlich machte, ihr seien nach dem Rammstein-Konzert in Vilnius rund um eine Backstage-Begegnung mit Till Lindemann ohne ihr Wissen Drogen verabreicht worden und sie sei erst im Hotel mit Hämatomen zu sich gekommen,[4] war die Überraschung groß. Sie hätte es nicht sein müssen. Denn die vielen Berichte anderer junger Frauen, die sich nach dem Vorfall mit ähnlichen Erfahrungen an Shelby Lynn wandten, zeichneten ein deutliches Bild[5], darunter auch jene der 21jährigen Influencerin Kayla Shyx.[6] In den Schilderungen der jungen Frauen ging es nicht um spontane Partyexzesse und lustvolle sexuelle Begegnungen im gegenseitigen Einverständnis, sondern um ein gut durchorganisiertes System, das darauf ausgelegt zu sein scheint, Till Lindemann Zugang zu einem nie versiegenden Strom jugendlicher Frauenkörper zu gewähren. Immer wieder ist in diesen Berichten die Rede davon, dass die Mädchen und Frauen auf diesen Aftershow-Partys abwesend gewirkt hätten, oft getaumelt oder gestürzt seien, sich atypisch „wild“ verhalten hätten oder auch vom Verhalten Lindemanns verängstigt gewesen seien, der in den Räumlichkeiten mitunter randaliert oder mit Gegenständen um sich geworfen habe.[7] Während medial in der Russin Alena M. schnell eine Hauptschuldige ausgemacht wurde, die als „Casting-Direktorin“ junge Frauen eingeladen, sie in den vorab angemahnten sexy Outfits in der „Row Zero“ direkt vor der Bühne postiert und anschließend nach Lindemanns Wünschen selektiert habe, äußerte Shelby Lynn auf ihrem Instagram-Account, dass auch andere Personen aus Lindemanns Inner Circle Teil dieses Systems seien.[8] Es hätte also alles längst bekannt sein können, was sich mutmaßlich regulär rund um Auftritte von Till Lindemann abspielen könnte (und es erscheint wenig wahrscheinlich, dass ausgerechnet seine eigene Band von all dem nichts mitbekommen haben soll). Dass zuvor niemand darüber gesprochen hat, ist auf vielerlei Ebenen bezeichnend. Weil es, wie die vielen Fan-Diskussionen in den Rammstein gewidmeten Reddit-Foren zeigen, als normal männliches „Rockstar-Verhalten“ toleriert und als legitime Fortführung der künstlerischen „Provokationen“ von Lindemann verteidigt wird. Aber auch, weil die Frauen, die Ähnliches wie Shelby Lynn schildern – die übrigens klar gesagt hat, dass es in ihrem Fall nicht zu Sex gekommen sei –, davon ausgehen müssen, dass ihre Äußerungen diskreditiert und delegitimiert bzw. schlichtweg als Lügen bezeichnet werden. Der Instagram-Account von Lynn wurde binnen kürzester Zeit mit Kommentaren von „I stand with Rammstein“-Unterstützern geflutet, die sie bezichtigten, aus dem Wunsch nach Internet-Ruhm heraus die Unwahrheit zu sprechen – oder aus der Frustration darüber, von ihrem Idol abgewiesen worden zu sein (Lynn bezeichnet sich selbst als „gay“). Zudem verschickten Rammsteins Anwälte massenhaft Abmahnungen bezüglich „unzulässiger Berichterstattung“, die vor allem auf medienferne Personen extrem einschüchternd wirken mussten.

Das Postulat der Freiwilligkeit – und seine perfide Verkehrung

Die öffentlichen Debatten drehten sich immer wieder um zwei Punkte: Sind hier strafrechtlich relevante Dinge vorgefallen? Und ist ein solches System, wenn es im Rahmen der Freiwilligkeit operiert, nicht nur im Sinne einer überkommenen Sexualmoral verwerflich? So wichtig die Klärung dieser Punkte ist, lassen sie doch einen Kernbereich der Problematik unberührt. Nämlich jenen der Dominanzverhältnisse in unserer Gesellschaft und der Frage, wie wir miteinander leben wollen und können. In perfider Weise wird hier nämlich das Postulat der Freiwilligkeit und der sexuellen Befreiung, das als Forderung prominent in den feministischen Bewegungen ab den 1960er Jahren verankert war, gegen Frauen gewendet. Aus der Prämisse, dass die sexuelle Revolution stattgefunden und alle befreit hat, wird abgeleitet, dass es nun keine Hindernisse mehr gibt, die eigene Lust zu artikulieren und durchzusetzen – und im Falle mangelnden Begehrens einfach „nein“ gesagt werden kann. Und ein liberaler „Choice-Feminismus“, der mit den radikal emanzipatorischen Kämpfen feministischer Aktivist:innen quasi nichts mehr gemein hat, suggeriert, dass Frauen heute ein unendlicher Strauß an Wahlmöglichkeiten offen stehe, aus dem sie nur die richtige herauspicken müssten. Im Umkehrschluss ist somit auch jede von ihnen getroffene Entscheidung eine bewusste und damit inhärent feministische, so beispielsweise auch jene, den Nachnamen des Ehemannes anzunehmen oder für die Kinderbetreuung auf ein eigenes Einkommen zu verzichten. Ähnlich argumentieren Rammstein-Fans, die beteuern, jede Frau, die auf eine Backstage-Party gehe, wisse, worauf sie sich einlasse, und habe damit implizit allem Kommenden zugestimmt.

Doch inwieweit können wir von Freiwilligkeit sprechen, wenn hier sehr junge Frauen, teilweise fast noch Mädchen, auf einen internationalen, über 60jährigen Superstar treffen, von dem sie in vielen Fällen begeistert und glühende Fans sind? Ein Idol, das nicht nur über weltweiten Ruhm und über mehr als eine Million Social-Media-Follower verfügt, sondern auch über riesiges ökonomisches Kapital sowie einen gut geölten Machtapparat? In dieser asymmetrischen Situation von freiem Willen zu sprechen, wirkt überaus zynisch – auch ohne mitzubedenken, dass vielen Schilderungen zufolge zudem heimlich verabreichte Drogen, die die Handlungsfähigkeit einschränken, mit im Spiel gewesen sein könnten, die Handys der Frauen eingesammelt und die Wege zum Ausgang versperrt worden sein sollen.

Das Groupietum zwischen Befreiung und patriarchalen Klischees

Irritierend ist in der Debatte auch, dass Fans und Groupies gleichgesetzt werden. Denn der nicht gegenderte Begriff Fan bezeichnet im herkömmlichen Sprachgebrauch „Follower“ eines Stars oder einer Band, die nicht primär von sexuellen oder romantischen Motiven getrieben werden, sondern von ihrer Begeisterung für die Person oder deren Werk. Den Schilderungen rund um den Rammstein-Skandal zufolge handelte es sich bei den meisten jungen Frauen um Fans der Band oder ihres Sängers. Der Terminus Groupie hingegen impliziert stets ein sexuelles Interesse am Star – er ist übrigens rein weiblich, denn männliche Groupies sind allen Schilderungen von Musikerinnen zufolge so häufig wie Einhörner, da Männer in der Regel lieber selbst auf der Bühne bejubelt werden, als bewundernd bei weiblichen Stars im Bett zu liegen. Er fand erstmals Mitte der 1960er Jahre Verbreitung – die Musikzeitschrift „Rolling Stone“ widmete ihm 1969 eine ganze Ausgabe – und hatte zuerst einen pejorativen Beigeschmack, bis er von weiblichen Musikbegeisterten, die das unbürgerliche Leben der Stars teilten und oft einen veritablen Ehrgeiz entwickelten, mit Rockgrößen zu schlafen, im Lauf der Zeit positiv angeeignet wurde. Dieser Prozess war Teil einer Überwindung bürgerlicher Moralkonzepte, die vor allem Frauen in ihrem sexuellen Handeln einschränkten. Doch auch hier ist das Credo der Freiwilligkeit aus heutiger Perspektive mit Vorsicht zu genießen, denn auch wenn ein Leben als Groupie für einige Frauen den ersehnten Weg aus erdrückend (spieß)bürgerlichen Lebensentwürfen zwischen Ehe, Mutterschaft und Haushaltspflichten bedeuten konnte, so heißt dies nicht, dass diese Existenzform die erträumte war. Denn wahrscheinlich, so vermutet die Musikerin Christiane Rösinger im Gespräch mit der Autorin, war eine Groupie-Existenz der mehr oder weniger einzige Weg, um als Frau aktiv am Musikleben teilzunehmen. Viele dieser Frauen, die wir heute als klassische Groupies wahrnehmen, hätten vermutlich lieber selbst mit der Gitarre in der Hand als Rockstars auf der Bühne gestanden. In diesem Kontext erscheint der Untertitel der damaligen „Rolling Stone“-Ausgabe mehr als vielsagend: „The Girls of Rock“ lautete er – ganz so, als könnten Frauen (hier nur als Mädchen gesehen) lediglich als Groupies ein Teil der Rockkultur werden. Zudem war die sexuelle Revolution, als deren wichtiger Bestandteil das Groupiesystem bis heute gefeiert wird, nicht nur, aber auch eine Überaffirmation bestehender Verhaltenscodices: Männliche Promiskuität, über Jahrhunderte mal mehr und mal weniger still geduldet, wurde nun zum Prinzip erhoben, und Frauen, denen ebendiese sexuellen Ausschweifungen nie zugestanden worden waren, konnten nur um den Preis daran partizipieren, dass sie eine umsorgende und dienende – und damit wieder sehr klassisch weibliche – Form von Sexualität lebten. Sie waren in erster Linie dafür zuständig, zur rechten Zeit sexuell verfügbar zu sein und männliche Stars mit rekreativem Sex zu entspannen. Ihre Körper wurden so zu einer Ressource, anhand derer Männer einerseits gegen das System mit seiner Betonung von heterosexueller Ehe rebellieren konnten, andererseits das patriarchale Klischee vom potenten, promisken Mann überbetonten.

Wer sich heute Schilderungen von berühmten „Groupie-Anekdoten“ vornimmt, wird in frappierender Weise an die aktuellen Debatten erinnert. So geistert bis heute der „Mud Shark Incident“ durch Buch- und Internetseiten. 1969 sollen Mitglieder der Bands Led Zeppelin und Vanilla Fudge in Seattle einen Grauhai gefangen, in einem Hotelzimmer ein nacktes Groupiemädchen an ein Bett gefesselt und ihr den zappelnden Fisch dann in Vagina und Rektum gestopft haben, während der Vanilla-Fudge-Sänger Mark Stein den Vorgang mit einer Super-8-Kamera gefilmt haben soll.[9] Auch wenn wir heute nicht wissen können, ob sich die Ereignisse wirklich so zugetragen haben und ob die junge Frau hysterisch geweint oder gelacht hat (beides wird berichtet), erscheint es doch relativ unwahrscheinlich, dass diese Situation aus öffentlicher Demütigung, Ausgeliefertsein und Schmerz in irgendeiner Weise zu einem sexuellen Lustgewinn für sie beigetragen hat. Denn es handelte sich offensichtlich nicht um eine konsensuelle BDSM-Session[10] mit klaren Regeln, sondern um einen Überrumpelungs- und Überraschungsmoment zum Gaudium der Bands und der Öffentlichkeit – bereits 1971 spielte Frank Zappa auf seinem Livealbum „Fillmore East“ in einem „The Mud Shark“ benannten Song darauf an.

Überrumpelungstaktiken gegenüber weiblichen Fans

Diese Überrumpelungstaktiken scheinen auch in Till Lindemanns Begegnungen mit seinen weiblichen Fans eine Rolle zu spielen: Glaubt man den Schilderungen mutmaßlich Betroffener, werden diese vorher offenbar nicht explizit gebrieft, dass sie den Musiker für Sex treffen sollen. Denn wenn es nur um den massenhaft verfügbaren sexuellen Akt an sich ginge, wäre es sicherlich kein Problem, eine klar formulierte Einladung an Rammstein-Groupies zu verbreiten. Oder auch Sexarbeiterinnen zu engagieren, da diese Tätigkeit in den meisten Ländern, in denen Lindemann auftritt, legal ist, und der Multimillionär selbstverständlich über das dafür nötige Budget verfügt. Doch hier scheint es eine deutliche Freude an der Ausübung von Macht gegenüber unvorbereiteten oder sogar wehrlosen Körpern zu geben. Die Parallelen zwischen den Schilderungen von betroffenen Frauen, von denen beispielsweise eine äußerte, aus einem möglicherweise drogeninduzierten Torpor – einem physiologischen Schlafzustand – mit einem auf ihr liegenden Lindemann aufgewacht zu sein[,11] und dem Lindemann-Gedicht „Wenn du schläfst“ sind frappant, heißt es dort doch: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst. Wenn du dich überhaupt nicht regst. Mund ist offen, Augen zu“, um zum Schluss noch die Vorteile von „etwas Rohypnol im Wein“ zu preisen.[12]

Innerhalb dieses Machtgefälles spielt auch das Alter eine verstärkende Rolle. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Lindemann angeblich nach besonders jungen Fans Ausschau halten ließ, denn die Geschichte ist voll von sehr jungen bis minderjährigen Groupies. In Los Angeles gab es die Gruppe der sogenannten Baby Groupies, zu denen unter anderem Sable Starr und Lori Mattix gehörten. Starr hatte nach eigenen Angaben im Alter von zwöf Jahren ihren ersten Sex mit dem Spirit-Gitarristen Randy California[13]; Iggy Pop sang in „Look Away“: „I slept with Sable when she was thirteen“ – „Ich schlief mit Sable, als sie 13 war.“ Mattix, mitunter auch als Maddox bekannt, wurde als 14jährige von David Bowie „entjungfert“.[14] Der Radio-DJ John Peel versteckte seine pädosexuellen Neigungen nicht, sondern hielt lange Jahre einen „Schoolgirl of the Year“-Wettbewerb ab und sagte in den 1960ern über 13jährige Musikfans: „Sie wollten nur, dass ich sie sexuell missbrauche, und wer war ich, da nein zu sagen?“ Mit 26 Jahren heiratete er ein 15jähriges Mädchen.[15]

MeToo im Musikbusiness: Die Macht der Stars

Es ist sicher ebenfalls kein Zufall, dass in den wenigen MeToo-Fällen im Musikbusiness, die der Öffentlichkeit überhaupt bekannt wurden, die männlichen Täter offensichtlich bewusst nach viel jüngeren Opfern suchten, die sie für ihre eigenen Bedürfnisse „groomen“ (zurichten) konnten. Michael Jacksons pädosexuelle Neigungen waren Inhalt einer ganzen Dokumentarserie wie auch die sexualisierte Gewalt und Freiheitsberaubung, die der R’n’B-Star R. Kelly über viele Jahre an jungen Frauen verübte – wofür er Anfang 2023 zu 31 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Die Schauspielerin Evan Rachel Wood schilderte Jahre nach dem Ende ihrer Beziehung mit Marilyn Manson, wie der 18 Jahre ältere Star sie als 19jährige gegroomt, terrorisiert, gefoltert und antisemitisch beleidigt habe. Auch der Sänger der Indieband Arcade Fire, Win Butler, soll über Jahre hinweg mindestens fünf deutlich jüngere Frauen sexuell angegriffen und emotional belästigt haben.[16] Diese Fälle zeigen nicht nur, dass männliche Musiker in machtvollen Positionen gezielt jüngere, von ihrem Ruhm geblendete und verletzliche Personen ins Visier nehmen, sondern auch, was jugendliche Weiblichkeit in unserer Gesellschaft darstellt: Eine für mächtige, alte Männer frei verfügbare Ressource, an der sie sich vampiresk wie an einem Jungbrunnen laben können.

Immer wieder wurde in den Diskussionen rund um die mutmaßlichen Lindemann-Übergriffe betont, dass es ihm offensichtlich wichtig sei, sich an diesem „Fleischmarkt“ gratis und ad infinitum bedienen zu können. Intern sollen die für Lindemann ausgewählten und ihm zugeführten Frauen „Schlampenparade“ genannt worden sein, die übrigen, die im regulären Partyraum der Crew verblieben, wurden „Resteficken“ tituliert.[17] Jugendliche Frauen(körper) werden fetischisiert und dabei warenförmig und identitätslos behandelt. Die Serialität des Fließbandsexes, den Lindemann angeblich in seiner unter der Bühne aufgebauten „Suckbox“ und an anderen Orten performt, wird so der ultimative Ausdruck des sexistischen Machtverhältnisses. „Das Mädchen ist wegwerfbar, der Mann nicht. Es ist eine sehr einfache Erklärung“, fasst in der Dokumentation „Look Away“ über Teen-Groupies eine weibliche Musikbusiness-Mitarbeiterin die Situation zusammen.[18]

Die Vielstimmigkeit der Opfer: Wider die männliche Verfügungsgewalt

Es bleibt also, neben den juristischen wie auch ethischen Fragen, der große soziale Komplex: Möchten wir in einer Gesellschaft leben, in der Kapitalismus und Patriarchat so verzahnt sind, dass mächtige, reiche Männer in der Lage sind, den vielleicht vulnerabelsten Teil unserer Gesellschaft als eigenschaftslose Verschiebemasse zu konsumieren (und wegzuwerfen)? Oder anders gefragt: Warum sind wir als Kollektiv so verliebt in das archaische Bild des mächtigen alten Mannes, dass wir trotz Hinweisen auf massives Fehlverhalten weiterhin seine Produkte konsumieren (kurz nach Beginn des Skandals belegten sechs Rammstein-Alben Plätze in den Top100-Albumcharts, manche kletterten deutlich nach oben)? Dass wir lieber an seine Unschuld glauben wie die Heerscharen von apologetischen Rammstein-Fans, als der Vielstimmigkeit der Opfer zuzuhören? Am 8. Juni, mitten im Auge des Skandal-Sturms, verabschiedete sich Till Lindemann mit den folgenden Worten von der Bühne des ausverkauften Münchener Olympiastadions: Wir hatten ein Riesenglück mit dem angekündigten Unwetter, glaubt mir, das andere wird auch vorbeiziehen“. Auch wenn er damit wahrscheinlich Recht haben wird, sollten wir diese Debatte dennoch zum Anlass nehmen, weiter dafür zu kämpfen, dass feministische Unwetter die Matrix aus männlicher Verfügungsgewalt und ökonomischer Macht dauerhaft ins Wanken bringen.

[2] Vgl. Anika Haider, Wir glauben euch, in: „an.schläge“, 5/2023, S. 5.

[3] Ebd. – Übersetzung durch die Verfasserin.

[6] Was wirklich bei Rammstein Afterpartys passiert, www.youtube.com/watch?v=9YLsMXyo3Uc, 5.6.2023.

[7] Till Lindemanns Anwälte bezeichnen diese Vorwürfe in einer Presseerklärung als „ausnahmslos unwahr“. Schertz Bergmann Rechtsanwälte, Presseerklärung zu Till Lindemann, www.presse-portal.de, 8.6.2023.

[8] Von ihr benannt werden beispielsweise der Drummer Joe Letz, der Security-Mitarbeiter Danny Uhlmann oder der Manager Anar Reiband. Vgl.www.instagram.com/shelbys69666.

[9] Rob Hughes, What really happened with Led Zeppelin and the mudshark?, www.loudersound.com, 9.6.2016.

[10] „BDSM“ bezeichnet eine Reihe sexueller oder sexualisierter Verhaltensweisen, die u.a. mit Dominanz und Unterwerfung, spielerischer Bestrafung sowie Lustschmerz oder Fesselspielen in Zusammenhang stehen.

[11] Juliane Löffler, Elisa von Hof, Jurek Skrobala u.a., Sex, Macht, Alkohol – Was die jungen Frauen aus der „Row Zero“ berichten, www.spiegel.de, 9.6.2023.

[12] Till Lindemann, Wenn du schläfst, www.lyricstranslate.com.

[13] Sable Starr, www.en.wikipedia.org.

[14] Pubali Dasgupta, The troubling life of Lori Maddox, the „baby groupie of the stars“, www.farout-magazine.co.uk.

[15] Manfred Sax, Bob Dylan et al. – Halbgötter & Baby Groupies, www.wiener-online.at, 2.11.2021.

[16] Marc Hogan, Arcade Fire’s Win Butler Accused of Sexual Misconduct by Multiple Women; Frontman Responds, www.pitchfork.com, 27.8.2022.

[17] Löffler/von Hof/Skrobala u.a., a.a.O.

[18] Look Away examines sexual abuse in the music business, www.ft.com, 10.9.2021.

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