
Bild: Aktivist:innen der Letzten Generation überschütten ein Gemälde von Gustav Klimt mit Öl, Wien, 15.11.2022 (IMAGO / aal.photo)
Wenn gegenwärtig den Klimaprotesten der Letzten Generation, aber auch den Aktivist:innen in Lützerath der Vorwurf gemacht wird, sie seien zu radikal, sagt dies weit weniger über die Akteure aus als über unsere Gesellschaft, die sich bisher als in nur sehr begrenztem Maße willens oder fähig erwiesen hat, auf die Klimakrise in adäquater Weise zu reagieren. Sich angesichts der global evidenten und auch hierzulande immer schwerer zu verdrängenden katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise für seine Überzeugungen auf die Straße zu setzen und festzukleben oder eine Menschenkette auf einem Feld zu bilden und sich von der Polizei umrennen zu lassen, ist vielleicht radikal im Vergleich zu dem, was die meisten Menschen in Deutschland gewöhnt sind oder was sie erwarten. Platziert man die Proteste in einem größeren internationalen und historischen Kontext, so müssen die allermeisten Mittel, zu denen die unterschiedlichen Stränge der Klimabewegung greifen, aber noch als ziemlich gemäßigt gelten – und das umfasst durchaus auch die sogenannten radikaleren Teile, also Ende Gelände und Letzte Generation.
Sich auf der Straße festzukleben und den Verkehr zu blockieren, in ein Unternehmensareal einzudringen und Hausfriedensbruch zu begehen, sich an einem Ministerium festzuketten – all das sind Praktiken des Protests, zu denen soziale Bewegungen in allen möglichen Kontexten, auch in Demokratien, immer wieder gegriffen und auf diese Weise demokratischen Fortschritt bewirkt haben. Insofern können Protestbewegungen, die diese Mittel einsetzen, durchaus Legitimität für sich beanspruchen. Das allerdings bedeutet noch lange nicht, dass einzelne Aktionen wie etwa Straßenblockaden im Berufsverkehr in allen Fällen gerechtfertigt oder auch nur das effektivste Mittel sind, um die Ziele der Bewegung zu erreichen. Aber dieser Einwand – eine bestimmte Aktion erscheint in einem konkreten Kontext als nicht gerechtfertigt oder nicht besonders effektiv – hat nichts damit zu tun, dass sie tatsächlich zu radikal wäre. Dass sich ein Protestmittel als ineffektiv erweist, hat häufig mehr mit der Skandalisierungslogik der gegnerischen Seite zu tun, die die öffentliche Diskussion auf eine schiefe Ebene lenkt, als mit übermäßiger Radikalität. Zur Erinnerung: Schon als Fridays for Future 2019 große Massen von Schüler:innen auf die Straße brachte, wurde beklagt, dass zu Schulzeiten zu protestieren zu radikal sei.
Dass der Streit um die Effektivität und Rechtfertigung von einzelnen Protestaktionen heute mit einer grundsätzlichen Delegitimierung der Klimaproteste oder gar von Protest als solchem einhergeht, ist intellektuell und politisch besorgniserregend. Häufig wird diese Art von Kurzschluss mit dem Argument vorgebracht, die Protestaktionen seien nicht legal und bereits aus diesem Grund illegitim. Natürlich sind Straßenblockaden als gezielte Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung und das Eindringen auf ein Firmengelände als Hausfriedensbruch illegal. Aber sie sind deswegen – anders als anscheinend auch Bundesjustizminister Marco Buschmann meint – noch lange nicht illegitim. Das sollte man sich eigentlich schnell vor Augen führen können: Ziviler Ungehorsam ist per definitionem nicht legal – und dennoch in einer Demokratie wie der unsrigen durchaus zulässig, ja mehr noch, unter Umständen auch politisch und moralisch gefordert. Dabei handelt es sich um Protest, der aufgrund der Dringlichkeit seines Anliegens bewusst gegen bestehende Gesetze – wie die Straßenverkehrsordnung – verstößt, sich dabei aber auf grundlegende Prinzipien – wie Gerechtigkeit, Demokratie und Verantwortung für zukünftige Generationen – bezieht und auf Gewalt gegen Menschen verzichtet. Ziviler Ungehorsam geht diesen entscheidenden Schritt des primär symbolischen Rechtsbruchs weiter, um zu signalisieren, dass das Anliegen der Protestierenden besonders dringlich, das Unrecht, gegen das sie sich wenden, besonders empörend und die ausbleibende oder mangelnde Reaktion des politischen Systems oder der Mehrheitsgesellschaft auf den Protest besonders problematisch ist.
Der Unterschied von Legalität und Legitimität
Eigentlich sollte es sich von selbst verstehen, aber in der gegenwärtigen öffentlichen Aufregung muss es wohl explizit betont werden: Das heißt natürlich nicht, dass nun alle einfach nach Belieben anfangen können, aufgrund ihrer privaten Überzeugungen und Meinungen aus Protest Gesetze zu brechen. Abgesehen davon, dass wir von einer solchen Situation der totalen Anarchie nun wirklich zu weit entfernt sind, als dass sie ein gutes Schreckgespenst abgeben würde, ist hier insbesondere entscheidend, dass sich die Protestierenden an ihren Rechtfertigungen und Argumenten selbst messen lassen müssen.
Genau weil der Klimaprotest sich neben wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen über die Klimakrise auch auf grundlegende Prinzipien der Demokratie wie die Einbeziehung der Betroffenen und die Verantwortung für zukünftige Generationen berufen kann (wie sie auch das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Klimaurteil der Regierung ins Stammbuch geschrieben hat), kann er Legitimität auch dann beanspruchen, wenn er punktuell, etwa in Form von Straßenblockaden, an der Grenze von Legalität und Illegalität operiert.
Führende Politiker wie der Bundesjustizminister und auch zahlreiche Medienvertreter scheinen allerdings nicht willens oder in der Lage, diese für die Geschichte und Gegenwart der Demokratie eigentlich grundlegende Unterscheidung von Legalität und Legitimität zu treffen. Das zeigt sich daran, dass immer wieder behauptet wird, Protest sei ja schön und gut und es sei ja durchaus zu begrüßen, dass sich die jungen Leute für ihre Zukunft engagieren, aber in der Demokratie solle doch bitte jeder Protest im Rahmen des Rechts stattfinden. Ein derart „autoritärer Legalismus“ (Jürgen Habermas) verkennt die fundamentale historische Wahrheit, dass es viele der für unsere Demokratie wichtigen demokratischen Errungenschaften – (einigermaßen) gleiche Rechte für Arbeiter:innen und Frauen, grundlegende, wenn auch noch immer eingeschränkte Rechte für Migrant:innen, Geflüchtete und LGBTQI-Personen – überhaupt nicht geben würde ohne vorausgegangene Protestbewegungen, die auch zum prinzipienbasierten Bruch geltenden Rechts im Namen von mehr Demokratie und Gerechtigkeit bereit waren.
Ohne den heute von so vielen selbstzufriedenen Verteidigern des Status quo verächtlich gemachten Protest wären wir von jenem demokratischen Rechtsstaat meilenweit entfernt, in dem wir trotz aller weiter bestehenden substantiellen Defizite das Glück haben zu leben. Und weil es naiv und gefährlich wäre, zu leugnen, dass es auch heute noch substantielle Defizite gibt, ist es so naiv und gefährlich, die enorm wichtige, aber stets im Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität angesiedelte Rolle von Protest für Gegenwart und Zukunft der Demokratie zu verkennen.
Protest zur Durchsetzung demokratischer Prinzipien und Werte
Diese demokratiefundierende Rolle von Protest anzuerkennen, ist eigentlich eine Minimalanforderung an eine demokratische politische Kultur und sollte auch Teil des Selbstverständnisses der gewählten Repräsentant:innen sowie der staatlichen Institutionen – inklusive Justiz und Polizei – sein. Das gilt es umso mehr in Erinnerung zu rufen, als die Regierung die von ihr selbst gesetzten Klimaziele, die ja weit mehr sind als unverbindliche Absichtserklärungen, offensichtlich klar verfehlt. Sogar der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages kommt zu dem Schluss, dass der Bundesverkehrsminister (ein Parteikollege des Bundesjustizministers) den klimafreundlichen Umbau des Verkehrssektors so massiv ausbremst, dass er gegen geltendes Recht verstößt. Umgekehrt gilt aber auch: Zu sagen, Protest ist grundsätzlich legitim, heißt noch lange nicht, dass er in jedem Einzelfall auch gerechtfertigt ist. Die Frage der Rechtfertigung ist ebenso wie die Frage der Effektivität von vielen Kontextfaktoren abhängig und kann letztendlich nur im Lichte der öffentlichen Debatte und das heißt in der demokratischen politischen Auseinandersetzung entschieden werden. Diese Debatte setzt aber voraus, dass Protest, und eben auch illegaler Protest, in einer Demokratie erst einmal als legitim anerkannt wird, wenn er sich auf die Prinzipien beziehen kann, die dem Legitimitätsanspruch eben dieser Demokratie zugrunde liegen – und wenn er sich selbst als Teil eben dieser Demokratie versteht, um deren Transformation es geht.
Daran, dass auch der Klimaprotest wesentlich zur Demokratie gehört und daher nicht zu ihrem Feind erklärt werden sollte, ändert auch die Tatsache nichts, dass von der Letzten Generation und anderen Teilen der Klimabewegung häufig die Forderung „System Change, Not Climate Change“ erhoben wird. Richtig verstanden ist ziviler Ungehorsam in einer Demokratie nicht auf rein systemimmanenten Protest reduzierbar. Anzunehmen, ziviler Ungehorsam dränge nur auf kleine Korrekturen oder Reformen hier und da, während das System als Ganzes akzeptiert werde, geht an seiner historischen und gegenwärtigen Rolle und an seinem demokratischen Transformationspotential vorbei. Die transformative Kraft des Ungehorsams ist viel grundlegender, ohne dass damit seine demokratische Legitimität in Frage steht. Das kann man sich schon an den einschlägigen historischen Beispielen klarmachen, die auch heute noch als Paradigmen des zivilen Ungehorsams gelten. Die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung – wie sie heute insbesondere mit dem Denken und Handeln von Martin Luther King, Jr. identifiziert wird – steht für Diskurs und Praxis des zivilen Ungehorsams, war aber zugleich äußerst radikal, gerade auch in ihrer Zielsetzung. Ihr ging es um deutlich mehr als eine kleine Änderung allein dieses oder jenes Gesetzes: Es ging um einen grundlegenden Wandel der US-amerikanischen Gesellschaft, nämlich ihrer politischen, ökonomischen und kulturellen Verfasstheit. Daran sieht man zunächst, dass man nicht einfach sagen kann: Der Protest fordert einen Systemwandel, also handelt es nicht um zivilen Ungehorsam. Das gilt insbesondere dann, wenn die Krise, auf die der Ungehorsam reagiert, von so grundlegender Art ist.
Die entscheidende Frage hinsichtlich der Legitimität zivilen Ungehorsams lautet daher: Welche Prinzipien oder Werte sollen den Systemwandel anleiten, für den sich die Protestbewegung einsetzt, in welche Richtung soll er gehen und auf welche Weise soll er stattfinden?
Wenn die dem Ungehorsam zugrundeliegenden Prinzipien oder Werte schon in der bestehenden Ordnung verankert sind und lediglich behauptet wird, ihre Realisierung weise über das hinaus, was im Grunde bereits anerkannt ist, dann ist die Bewegung im Lichte der dieser Ordnung zugrundeliegenden Prinzipien nicht einfach als illegitim zu bezeichnen – und damit zugleich zu diskreditieren. Schon die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung kontrastierte das Versprechen der Verfassung mit einer massiv defizitären Wirklichkeit, um den Einsatz für eine radikal andere Gesellschaft zu rechtfertigen. Das ist einerseits revolutionär – da ihre Forderungen auf eine radikal andere Gesellschaft zielen –, andererseits aber in der bestehenden Ordnung verankert, da die Gesellschaft die Prinzipien und Werte bereits anerkannt hatte, um die es der Bewegung ging.
Auch wenn sich die heutige Situation natürlich grundlegend unterscheidet und man die Klimabewegung nicht mit der Bürgerrechtsbewegung gleichsetzen sollte, kann man trotzdem erkennen, dass auch die radikaleren Tendenzen der Klimabewegung teilweise ganz ähnlich argumentieren, wenn sie echte Demokratie, echte Generationengerechtigkeit, echte Nachhaltigkeit fordern. Im Prinzip liegen diese Prinzipien und Werte der demokratischen Ordnung zugrunde und stehen mehr oder weniger explizit auch im Grundgesetz, etwa als Verpflichtung der Staatsgewalt zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung für künftige Generationen. Aber man kann wohl kaum behaupten, dass sie bereits umgesetzt sind oder dass wir kurz vor ihrer Realisierung stünden. Den mit diesen grundlegenden Prinzipien verbundenen Auftrag zu erfüllen, erfordert viel entschiedenere transformative Anstrengungen, als heute im politischen Mainstream akzeptiert und umgesetzt wird. In diesem Sinne ist der Klimaprotest sowohl radikal, weil er auf eine Veränderung des Systems abzielt, als auch systemimmanent, weil er die dem existierenden politischen System zugrundeliegenden Prinzipien in Anschlag bringt. Es sind diese Prinzipien, die – richtig verstanden – nach einer radikalen Transformation verlangen. Insofern streben große Teile der Klimabewegung nach einem Systemwandel, der eben nicht vollkommen mit dem System bricht. Im Gegenteil: Es geht ihnen sogar ganz im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021 gerade darum, dass auch zukünftige Generationen als einigermaßen Freie und Gleiche in einem demokratischen Rechtsstaat leben können.
Kein grundgesetzlicher Schutz des Kapitalismus
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus bemerkenswert, dass die Gruppe Ende Gelände in Berlin vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, dass auch andere Teile der Klimabewegung in die verfassungsfeindliche Ecke gestellt werden und dass gegen einen Teil der Letzten Generation inzwischen als angeblich „kriminelle Vereinigung“ ermittelt wird. Offenbar geht damit der Verdacht einher, dass Teile der Bewegung die demokratische Grundordnung in Frage stellen. Bei näherem Hinsehen ist das allerdings kaum nachvollziehbar: Ende Gelände ist zwar kapitalismuskritisch, aber das kapitalistische Wirtschaftssystem steht eben nicht unter dem Schutz des Grundgesetzes, weil es kein wesentlicher Teil jener freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, auf deren Verteidigung sich der Verfassungsschutz eigentlich beschränken sollte – zumal die letzten Monate wieder einmal deutlich gemacht haben, dass die ernstzunehmende Gefahr hier von rechts droht.
Das Grundgesetz lässt die Frage bewusst offen, wie genau die Wirtschaftsordnung auszugestalten ist. Zwar können bestimmte Aspekte der kapitalistischen Marktwirtschaft durchaus als in Grundrechten wie der Eigentumsgarantie oder der Berufsfreiheit angelegt verstanden werden, aber eine radikal andere Wirtschaftsordnung anzustreben ist möglich, ohne den Boden des Grundgesetzes zu verlassen. Radikale Kapitalismuskritik ist noch kein Schritt in die Verfassungsfeindlichkeit.
Vor diesem Hintergrund ist die von manchen Medien und Politiker:innen betriebene Verwischung der Grenze zwischen legitimem, wenn auch umstrittenem Protest, der für die Demokratie zentral ist und von einer Demokratie auch ausgehalten werden muss, auf der einen Seite und demokratiefeindlichem Protest oder gar Terrorismus auf der anderen Seite höchst problematisch und besorgniserregend. Die Grenze ist in diesem Fall wirklich sehr einfach zu ziehen: Sie verläuft zwischen einem aus prinzipiellen Gründen gewaltfreien Protest, der keine direkte Gewalt gegen Menschen einsetzt und das Risiko der indirekten Schädigung zu minimieren versucht, und dem gezielten und offensiven Einsatz von Gewalt gegen Menschen, zu dem keine der an der Klimabewegung im breiten Sinn beteiligten Gruppen bisher aufgerufen hat. Die aus politischem Kalkül betriebene Delegitimierung und Kriminalisierung von Protest ist eine viel größere Gefahr für die Demokratie als die Straßenblockaden der Letzen Generation oder die Proteste in Lützerath.
Was sind geeignete Mittel?
All diese Ausführungen zur Legitimität des zivilen Ungehorsams auch und gerade in einem demokratischen Rechtsstaat beantworten allerding noch nicht die Frage, welche Mittel letztlich zielführend sind. Selbst wenn man auch radikalen Protest im Lichte der ökologischen Krise für legitim hält, kann man etwa Zweifel an der politischen Sinnhaftigkeit einzelner Aktionen anmelden. So kann man mit guten Gründen bezweifeln, dass der Hungerstreik mit dem die Letzte Generation 2021 die politische Bühne betreten hat, ein adäquates Mittel war, wird es doch zumeist von Gruppen angewendet, die sich in einer unmittelbar asymmetrischen Gewaltsituation befinden – etwa weil der Staat sie wegsperrt, mundtot zu machen und auszulöschen droht. Ohne die berechtigten Ängste und die authentische Motivation der Letzten Generation herunterspielen zu wollen, stehen ihr doch andere Möglichkeiten offen, in die politische Öffentlichkeit zu intervenieren, wie sie die Gruppe dann ja auch ergriffen hat, etwa in Form von Straßenblockaden.
Gerade vor diesem Hintergrund ist dagegen die öffentliche Aufregung über das Festkleben an sicher verglasten Kunstwerken in Museen und die im Allgemeinen gut und risikominimierend vorbereiteten Blockaden im öffentlichen Raum ziemlich absurd und auch etwas heuchlerisch. Freilich stellen sich auch hier Fragen: Wer Straßen blockiert, setzt andere damit Unannehmlichkeiten und Risiken aus. Aber das tun so gut wie alle Formen des politischen Handelns, die außerhalb der institutionalisierten Routinen stattfinden – von Gipfeltreffen bis zu den unzähligen Demonstrationen, die in Berlin jede Woche stattfinden. Zudem: Wer Straßen blockiert, verletzt auch die Straßenverkehrsordnung, protestiert aber im Normalfall nicht gegen die Straßenverkehrsordnung. Deswegen ist ziviler Ungehorsam immer auch symbolisch und auf Vermittlungsschritte angewiesen: Wir blockieren hier die Straße, wollen damit aber auf dieses oder jenes Problem aufmerksam machen. In den letzten Monaten hat sich daher mehr und mehr die Frage gestellt, ob Straßenblockaden im Berufsverkehr überhaupt zielführend sind, weil man damit jedenfalls nicht in erster Instanz jene gesellschaftlichen Eliten trifft, die mit ihrer Lebensführung den größten Schaden anrichten oder mit ihrer sozialen und politischen Macht verhindern, dass genug getan wird, um den Schaden in Grenzen zu halten. Das spricht nicht per se gegen die Aktionsform der Straßenblockade, aber im Allgemeinen sind Protestbewegungen gut beraten, nach Interventionen zu suchen, die direkter sind, die dort intervenieren, wo der Zusammenhang zwischen Ziel und Mittel unmittelbarer vor Augen steht, und die auf diese Weise bei der Öffentlichkeit eher einen Erkenntniseffekt auslösen, der zum Umdenken zwingt.
Lernfähig bleiben! Kein Mittel ist immer gleichermaßen tauglich
Angesichts der Kontextabhängigkeit und Kontingenz politischen Handelns gilt jedoch generell: Welche Mittel und Aktionsformen tatsächlich angemessen und effektiv sind, kann man nicht abstrakt und auch nicht im Vorfeld sagen. Protestbewegungen müssen experimentell vorgehen, das heißt aber auch: Sie müssen lernfähig bleiben und unter Umständen auch schnell reagieren können, wenn sich herausstellt, dass ein bestimmter Weg in die Sackgasse führt. Und sei es auch eine Sackgasse, in die man ohne eigenes Verschulden geraten ist, etwa weil Medien die Diskussion durch Skandalisierung verzerren und von politischer Seite durch Forderungen nach Repression und strafrechtliche Verfolgung Druck aufgebaut wird. Wenn zum Beispiel erst einmal die Geschichte in der Öffentlichkeit zirkuliert, dass Krankenwagen wegen Autobahnblockaden nicht durchkommen oder – schlimmer noch – ein Mensch wegen einer Blockade nicht gerettet werden konnte, dann kommt man dagegen kaum mehr an, selbst wenn sich herausstellt, dass die unmittelbaren Berichte nicht der Wahrheit entsprachen und die Reaktionen überzogen waren.
Auch aus diesem Grund sollten sich Protestbewegungen nicht zu sehr an die gewählten Mittel binden. Mittel sind Mittel. Wenn sie sich als nicht effektiv herausstellen, muss man die Strategie anpassen. Nicht zurückstecken, sondern weiter experimentieren. Wichtig ist: Die Mittel müssen an den Zielen auch in dem Sinn ausgerichtet sein, dass sich die Ziele in den Mitteln widergespiegelt finden.
Ein trotz ihres oft behaupteten Scheiterns gelungenes Beispiel dafür ist die Occupy-Bewegung aus den Jahren 2011 und 2012. Sie hat bewusst versucht, im Zuge der Besetzungen öffentlichen Raums auch die Art von solidarischen, inklusiven und demokratischen sozialen Beziehungen experimentell vorzuleben, die sie erreichen wollte. Durch alternative interne Organisationsformen der Bewegung wurde versucht, der oft auch in Protestbewegungen zu beobachtenden Marginalisierung sowieso schon marginalisierter Gruppen entgegenzutreten, deren Mitgliedern gleichen Rederaum zu geben, und soziale Hierarchien und Machtverhältnisse nicht zu reproduzieren. Das wurde zum Teil belächelt und als Revolutionsromantik abgetan. Aber es war ein zentrales Merkmal von Occupy, das heute auch unter dem Begriff der Präfiguration diskutiert wird: Soziale Bewegungen müssen die in ihren Forderungen artikulierte politische Alternative glaubhaft verkörpern.
Auch wenn die Klimabewegung heute zum Teil sicher von Frustration und Wut angesichts der deprimierenden Klimabilanz einer immer wieder an ihren selbstgesetzten Klimazielen scheiternden Regierungspolitik angetrieben wird, gilt es doch festzuhalten, dass der Protest schon einiges erreicht hat. Fridays for Future und Extinction Rebellion haben es geschafft, den Diskurs über die Klimakrise nachhaltig zu verändern und in breiten sozialen Schichten zu verankern. Wenn die eigenen Kinder Klimagerechtigkeit einfordern, oder einfach nur eine minimal erträgliche Lebensperspektive, ist das nicht so schnell als unrealistischer Radikalismus der üblichen Verdächtigen abzutun. Viel spricht dafür, dass auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Jahr nicht in der Weise gefällt worden wäre, wenn es die Klimabewegung nicht gegeben hätte. Ende Gelände und die Letzte Generation sowie die Proteste in Lützerath sorgen dafür, dass eine Rückkehr zum business as usual nicht so einfach gelingt, wie manche sich das wünschen. Sie demonstrieren damit, dass es sich bei der Demokratie um ein komplexes Ökosystem handelt, zu dem radikale Veränderungen einfordernde soziale Bewegungen ebenso gehören wie höchste Gerichte und die Institutionen der repräsentativen Demokratie.
Für die Klimabewegung ist es im Lichte der ersten Erfolge ebenso wie angesichts der erwartbaren Hindernisse und Frustrationen ein großer Vorteil und gerade keine Schwäche, dass sie aus auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Strömungen besteht, die eine breite Palette von Taktiken und Strategien abdecken. Neben dem eher moderaten Strang, mit dem viele Menschen relativ einfach sympathisieren können, muss es auch weiterhin die eher radikalen Stränge geben, die anecken und sich nicht primär darum kümmern, ob sie auf Verständnis stoßen oder nicht, die auch mal die Konflikte zuspitzen. Gerade aufgrund dieser Diversität ist es weiterhin wichtig, dass sich die moderatere nicht gegen die radikalere Flanke ausspielen lässt und Fridays For Future, Ende Gelände oder auch die Letzte Generation immer wieder an einem Strang ziehen, wie zuletzt in Lützerath, wo sich der Konflikt zwischen Klimabewegung, mächtigen Energieunternehmen und Teilen des Staates bildhaft zugespitzt und verdichtet hat. Und trotz des sich zusammenziehenden Zeithorizonts, der ja bereits im Namen Letzte Generation aufscheint, muss die Klimabewegung sich auf eine längere Auseinandersetzung einstellen – gerade weil so viel auf dem Spiel steht und es auch um mächtige Interessen geht. Daher braucht sie neben den großen Mobilisierungen und der punktuellen Aufmerksamkeitsgenerierung durch spektakuläre Aktionen organisatorische Infrastrukturen und politische Perspektiven für den langen Atem und für die stärkere transnationale Vernetzung.
Letztlich kann es nur eine internationale, globale Antwort auf die Klimakrise geben, auch wenn besonders die Regierungen im globalen Norden in der historischen Verantwortung stehen, die Krise durch Nichthandeln und Obstruktion zumindest nicht noch zu verschärfen. Ob es zu der globalen Solidarität reicht, die notwendig wäre, um der sich heute abzeichnenden fatalen Logik des „Rette sich wer kann“ zu entkommen, hängt aber nicht zuletzt daran, ob die Klimabewegung diesen langen Atem haben wird.