Mit mehr sozialer Gerechtigkeit gegen das US-Strafsystem

Bild: Häftlinge in Florida beim Mittagessen, 17.8.2022 (IMAGO / ZUMA Wire / Carl Juste)
Es war ein mit harten Bandagen geführter Wahlkampf, dessen Ausgang zweifellos von historischer Bedeutung ist: Am 4. April dieses Jahres wurde der Demokrat Brandon Johnson zum Bürgermeister von Chicago gewählt. Der 47jährige Afroamerikaner, früher Lehrer an einer öffentlichen Schule und Gewerkschaftsaktivist, setzte sich gegen den 69jährigen Paul Vallas durch, der zwar ebenfalls als Demokrat angetreten war, aber aufgrund seiner Karriere als technokratisch-konservativer Schulreformer eine gänzlich konträre Vision verkörperte.
In seiner Siegesrede erinnerte Johnson daran, dass schon der Bürgerrechtler Martin Luther King in der Stadt am Michigansee für soziale Gerechtigkeit gekämpft hatte. Kings Traum sei es gewesen, dass „das Civil Rights Movement und die Arbeiterbewegung eines Tages zusammenfinden“. Dieser Traum“ sei nun, mit seiner Wahl, wahr geworden. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wird die drittgrößte Stadt der USA damit von einem demokratischen Linken geführt, der eine Abkehr von der neoliberalen Politik seiner Vorgänger angekündigt hat. So will Johnson Privatisierungen in der Bildung und im Gesundheitswesen beenden und verstärkt in öffentliche Infrastrukturen investieren, er will Tausende Lehrerinnen, Sozialarbeiter und Therapeutinnen einstellen, sowie neue Kliniken eröffnen – finanziert durch höhere Steuern für Reiche. Vor allem aber strebt Johnson einen radikalen Wandel im Umgang mit der hohen Kriminalität in Chicago an. Vallas’ Forderung, den Polizeiapparat weiter auszubauen, setzt Johnson die Idee entgegen, Gewalt durch soziale Programme präventiv vorzubeugen.
Öffentliche Sicherheit war das dominierende Thema dieser Wahl, was sich durch die Statistiken auch leicht erklären lässt: Allein im vergangenen Jahr wurden 695 Menschen in Chicago getötet, im Jahr davor sogar 804, so hoch waren die Zahlen zuletzt in den 1990er Jahren. Autodiebstähle und Schießereien gehören zum Alltag, besonders der Süden der Stadt ist betroffen.
Dass sich zwei Drittel der Einwohner:innen Chicagos laut Umfragen vor der Wahl unsicher fühlten, hatte allerdings noch einen anderen Grund. Es lag auch daran, dass rechte Politiker:innen, Wirtschaftsvertreter, die Polizeigewerkschaft und nicht zuletzt der unterlegene Kandidat Vallas diese Unsicherheit besonders geschürt haben. Als „Crime Panic“ bezeichnet man die Instrumentalisierung von Kriminalität, um die eigene repressive Agenda voranzutreiben. Der Zweck dieser geschürten Panik war offensichtlich: Verhindert werden sollte, dass ein Kandidat an die Macht kommt, der die Polizei kritisiert und eine Umverteilung von Ressourcen plant.
Der Erfolg Johnsons ist angesichts dieser Bedingungen umso bemerkenswerter. Und er spricht dafür, dass sich in den USA etwas Grundsätzliches verschoben hat: Der „autoritäre Konsens“ im Umgang mit Gewalt, dessen Entstehung der britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall vor einigen Jahrzehnten beschrieben hat, wird immer stärker angefochten – man könnte sogar sagen, dass er zum ersten Mal überhaupt substanziell herausgefordert wird.
Zwei Millionen Menschen in Haft
In seinen Buch „Policing the Crisis“ rekonstruierte Hall zusammen mit vier Forscherkollegen, wie die britische Politik, Medien und Justiz ab den 1960er Jahren eine rassistische Panik rund um das vermeintlich neue Phänomen des mugging (bewaffnete Raubüberfälle) erzeugten.[1] Statt sich mit den Ursachen von Kriminalität auseinanderzusetzen, insbesondere der grassierenden Armut und Unterbeschäftigung, hätte die Politik „muggers“ – womit von Beginn an Schwarze Jugendliche gemeint waren – als größte Gefahr für die soziale Ordnung bezeichnet und dadurch repressive Maßnahmen legitimiert. In dieser Panik, erklären die Autoren, hätten sich verschiedene Krisen des Kapitalismus und des Staates ausgedrückt, die man zusammengenommen als „Krise der Hegemonie“ deuten könne.
Die „Crime Panic“, die in „Policing the Crisis“ analysiert wird, ist in den vergangenen 50 Jahren zu einer Art Standardmethode des liberal-autoritären Regierens geworden – und das weit über Großbritannien hinaus. Wo soziale Krisen aufkommen, müssen sich Regierungen besonders behaupten. In keinem anderen Land dieser Welt haben die Logiken des Kontrollierens, Überwachens und Wegsperrens jedoch eine vergleichbare Situation geschaffen wie in den Vereinigten Staaten. Im reichsten Land der Welt befinden sich derzeit knapp zwei Millionen Menschen in Haft, das sind rund 500 Prozent mehr als noch vor 40 Jahren. Die USA stellen damit über 20 Prozent aller weltweiten Gefängnisinsassen, obwohl sie weniger als fünf Prozent der globalen Bevölkerung ausmachen. Überproportional vertreten sind arme und nicht-weiße Menschen.[2]
Die Krise des amerikanischen Strafjustizsystems ist nicht neu, ihre Wurzeln reichen tief in die Geschichte des Landes hinein. Neu ist allerdings die veränderte politische Dynamik, wie die jüngste Wahl in Chicago demonstriert. Einerseits ist in den vergangenen Jahren eine Gegenbewegung gewachsen, und zwar nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe, das heißt, immer mehr Menschen in den USA fordern die Abschaffung von Gefängnissen und Polizei und arbeiten dabei immer konkreter an Alternativen. Andererseits – und auch als Antwort auf jene linke Bewegung – ist eine erneuerte „Crime Panic“ entstanden, die derzeit zahlreiche Wahlkämpfe und politische Entscheidungen prägt. Beide Entwicklungen sind Ausdruck einer zugespitzten Legitimationskrise des Strafjustizsystems – eine Krise, die man auch daran erkennt, dass selbst Konservative heute für Reformen werben. Die einen wollen den „autoritären Konsens“ erhalten, die anderen einen Neuanfang. „Eiserne Zeiten“[3] in Form reaktionärer Maßnahmen zeichnen sich derzeit genauso ab wie revolutionäre Horizonte.
Mit »Null Toleranz« zu vollen Gefängnissen
Sowohl die Polizei als auch das Gefängnis kommen zwar ursprünglich aus Europa, haben sich in den USA aber auf spezifische Weise konstituiert. Während die ersten Gefängnisse auf amerikanischem Boden im Rahmen kolonialer Siedlungen errichtet wurden, wuchs die US-Polizei später aus den slave patrols, wie die Streifen genannt wurden, die flüchtende Sklav:innen wieder einfingen. Die Kontrolle und Bestrafung bestimmter Bevölkerungsgruppen – insbesondere indigener, Schwarzer und armer Menschen – war maßgebend für die Entwicklung beider Institutionen.
Das expansive Strafsystem von heute entstand allerdings erst in den zurückliegenden vier bis fünf Jahrzehnten und ist eng mit dem Aufstieg neoliberaler Politik verknüpft. Die Geographin Ruth Wilson Gilmore hat das am Beispiel Kaliforniens erläutert.[4] Sie nennt vier Kategorien des „Überschusses“, die zum Wachstum des Gefängnissystems ab etwa 1980 geführt haben. Es gab „überschüssiges Land“, das vor allem durch Dürre entstanden war, wodurch große Flächen nicht mehr für die Landwirtschaft gebraucht werden konnten; „überschüssige staatliche Kapazität“, die sich durch den Rückzug der Regierung aus bestimmten Bereichen und den Abbau von Sozialleistungen ergeben hatte; „überschüssiges Finanzkapital“, das gerade deshalb zur Verfügung stand, weil sich Investitionen in soziale Infrastrukturen wie die Bildung weniger lohnten; und es gab – in Folge der Deindustrialisierung und anderer Umwälzungen – „überschüssige Arbeitskräfte“, mit denen nun irgendetwas passieren musste. Dieses irgendetwas wurden zunehmend die Gefängnisse. Gilmores Analyse bezieht sich zwar speziell auf Kalifornien, lässt sich aber in den entscheidenden Dynamiken auf den Rest des Landes übertragen. Der Ausbau des Strafapparats in den USA vollzog sich in enger Wechselwirkung mit der Zerlegung des Sozialsystems. Statt in öffentliche Infrastrukturen zu investieren und sicherere Arbeitsplätze zu schaffen, ließ der Staat durch Privatisierungen und Deregulierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den informellen Jobsektor wachsen – und damit verbunden auch die „relative Überbevölkerung“, wie die Marxistin Gilmore es nennt. Das Gefängnis versprach nicht nur neue Jobs, sondern auch einen Ort für diejenigen, die für die Wirtschaft nicht mehr brauchbar waren.
Wo es Gefängnisse gibt, muss es auch Kriminelle geben. Unter anderem aus dieser Logik heraus haben Republikaner wie Demokraten über Jahrzehnte hinweg polizeiliche Kontrollmechanismen und Strafmaßen in den USA verschärft. Der ab den 1970er Jahren geführte „Krieg gegen Drogen“ wurde, wie ein Berater von Präsident Richard Nixon später zugab, in erster Linie geführt, um Afroamerikaner:innen und linke Kriegsgegner:innen zu kriminalisieren.[5] Die von Präsident Bill Clinton in den 1990er Jahren verabschiedete „Crime Bill“ sorgte dafür, dass Hunderttausende Menschen für minimale Vergehen im Gefängnis landeten. Um die Städte „sauberer“ und „sicherer“ zu machen, wurde in Städten wie New York zunehmend mit „Null-Toleranz-Strategien“ regiert. Das Ergebnis war, dass vor allem obdachlose Menschen und Sexarbeiter:innen von der Bildfläche verschwanden.
Der US-amerikanische Prison Industrial Complex nimmt mittlerweile monströse Ausmaße an. In den oft desolaten Einrichtungen sind die Gesundheitsversorgung und Ernährung kümmerlich, die Suizidraten hingegen hoch.[6] Folgt man den Einschätzungen der Vereinten Nationen, findet in US-Gefängnissen Folter statt, denn als solche wird dauerhafte Isolationshaft eingeordnet.[7] Hunderttausende sitzen unverurteilt ein, weil sie sich keine Kaution leisten können. Mindestens 79 Millionen Amerikaner:innen sind vorbestraft, was ihre Möglichkeiten, Arbeit oder eine Wohnung zu finden, begrenzt. Während die hohen Rückfallquoten ein Beweis für die geringe Rehabilitationswirkung der Haftanstalten sind, weisen die niedrigen Aufklärungsraten auf eine ineffektive Strafverfolgung hin. Die Hälfte aller Morde bleibt unaufgeklärt.[8] Und jeder zweite Entlassene landet nach ein paar Jahren wieder hinter Gittern.[9] Gefängnis-Kritiker:innen weisen unterdessen darauf hin, dass die Hauptursachen von Gewalt – Armut, Isolation, Scham und die eigene Erfahrung von Gewalt – im Gefängnis reproduziert werden.
Fast 100 Tote durch die Polizei – im Monat
Spiegelbildlich hat auch der Polizeiapparat in den USA gigantische Ausmaße erreicht. In vielen Städten verschlingen die Polizeibehörden mittlerweile den größten Posten im Haushalt.[10] In New York ist das Polizeibudget zwischen 1983 und 2023 von 864 Mio. Dollar auf 5,7 Mrd. gewachsen, was auch inflationsbereinigt einen enormen Sprung darstellt. Doch dass mehr Beamt:innen zu einem Rückgang von Kriminalität führen, steht keinesfalls fest: Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass es zwischen beidem keine klare Korrelation gibt.[11] Allerdings gehört massive Polizeigewalt unbestritten zum Alltag in den USA: Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 1186 Menschen von der Polizei getötet, also im Durchschnitt fast 100 Menschen pro Monat.[12]
Die Krise des amerikanischen Strafsystems verdichtet sich darin, dass viele amerikanische Gemeinden schlichtweg darauf angewiesen sind, über das Verhängen von Geldstrafen ihren Finanzhaushalt zu stemmen.[13] Auch in den vielen „Gefängnisstädten“ im ganzen Land drückt sich diese Abhängigkeit aus: So klagte die kalifornische Kleinstadt Susanville 2021 gegen die Schließung der ortsansässigen Haftanstalt, weil daran 45 Prozent aller lokalen Arbeitsplätze hingen. Anders als oft vermutet, zeichnet sich der Prison Industrial Complex jedoch nicht primär dadurch aus, dass viele Unternehmen beteiligt sind. Gerade einmal sieben Prozent aller Gefängnisinsassen sind in privaten Haftanstalten. Im Zentrum stehe, soRuth Wilson Gilmore, der Staat, der eine Politik der „organisierten Verwahrlosung“ betreibe.
Was aber ist mit der Vielzahl von Reformen, die in den vergangenen Jahren verfolgt wurden? Eine tatsächliche Verbesserung durch Dekriminalisierung fand beispielsweise in der Drogenpolitik statt. So ist der Konsum von Marihuana in großen Teilen der USA mittlerweile legal. Die Gefängnispopulation ist zwar immer noch enorm, aber sie ist auch wegen solcher Gesetzesänderungen zwischen 2008 und 2020 leicht gesunken. Im Schatten dieser positiven Entwicklung hat sich jedoch ein anderes Problem verschärft: Die Logiken des Gefängnisses wurden in weitere Gesellschaftsbereiche transportiert.
Wie die zwei Journalistinnen Maya Schenwar und Victoria Law erläutern, führten viele Reformen, mit denen die Zahl der Gefangenen verringert werden sollte, dazu, dass stattdessen Schulen, Gesundheitseinrichtungen, Nachbarschaften und oft auch die eigenen vier Wände stärker überwacht würden.[14] So seien Ärzt:innen, Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen zunehmend verpflichtet, Auffälligkeiten an die Polizei zu melden; Bewährungsauflagen sind zum Teil so streng, dass eine Resozialisierung geradezu verhindert wird. Über elektronische Fußfesseln und wachsende Datenbanken habe der Staat letztlich an Kontrolle hinzugewonnen.
Zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis kommt auch der Soziologe Alex Vitale, der die Polizeireformen der vergangenen Jahrzehnte untersucht hat. Viele der vermeintlichen Verbesserungen, wie beispielsweise mehr Personal und modernere Technik, hätten dazu geführt, dass der Überwachungsapparat weiter wachse. Das Kernproblem sieht Vitale, wie viele andere Expert:innen auch, in der zentralen Funktion der Strafinstitutionen. „Jedes Mal, wenn wir Polizei und Gefängnisse zur Lösung unserer Probleme heranziehen“, schreibt Vitale, werden die „miteinander verflochtenen Systeme der Unterdrückung“ verstärkt.[15]
Laut Umfragen findet längst auch ein Großteil der Bevölkerung, dass das System schlicht nicht funktioniert. Doch wirklich tiefgreifende Reformen werden trotz vieler Ankündigungen kaum umgesetzt. Exemplarisch dafür steht US-Präsident Joe Biden, der noch im Wahlkampf 2019/2020 versprach, die Gefängnispopulation um mehr als die Hälfte zu verringern, als Präsident nun aber genau das Gegenteil tut. Seit Biden im Weißen Haus sitzt, ist die Zahl der Insassen in staatlichen Gefängnissen sogar noch gewachsen. Im Sommer vergangenen Jahres präsentierte Biden den milliardenschweren „Safer America Plan“, der zwar auch Investitionen in Community-Programme vorsieht, aber unter dem Strich vor allem auf den Ausbau der Polizei setzt. 100 000 weitere Polizeistellen sind für die kommenden Jahre geplant. Sollte die Gesetzesinitiative an den Republikanern im Kongress scheitern, hätte das allein machtstrategische Gründe. Denn im Ruf nach mehr Beamt:innen auf den Straßen sind sich beide Parteien eigentlich einig.
Abolitionismus: Hin zu einer sozialen, demokratischen Gesellschaft
Oder funktioniert das System genau so, wie es funktionieren soll? Das zumindest glauben diejenigen, die die Institutionen Polizei und Gefängnis am radikalsten kritisieren. Aus der Überzeugung heraus, dass der Strafapparat nicht reformierbar sei, fordern sie eine Abolition – also die Abschaffung, beziehungsweise Überwindung – des jetzigen Systems.
Beim Abolitionismus, der seine Wurzeln im Kampf gegen die Sklaverei hat und als Begriff ab den 1970er Jahren von Schwarzen Linken wie Angela Davis wieder aufgenommen wurde, geht es jedoch nicht „einfach um die Abschaffung von Polizei, Gefängnissen, Grenzen oder Lagern“, wie die abolitionistische Theoretikerin Vanessa Thompson erklärt.[16] „Es geht vielmehr um die radikale Transformation gesellschaftlicher Re-Produktions- und Beziehungsweisen, die nicht nur die spezifische rassistische Gewalt angreift, sondern das Gesellschaftssystem, welches Versklavung, Kolonialismus, Ausbeutung und systematische Unterdrückung und Enteignung hervorgebracht hat und weiter hervorbringt.“ Der Frankfurter Wissenschaftler Daniel Loick bezeichnet den Abolitionismus daher auch als „doppelte Bewegung“, die gleichermaßen den Abbau bestrafender und den Aufbau sozialer und demokratischer Strukturen verfolgt.[17]
Die abolitionistische Bewegung hat mit dem Aufstieg von Black Lives Matter (BLM) seit 2013 neuen Auftrieb erhalten. Ging es zu Beginn von BLM jedoch primär um die kurzfristige Mobilisierung mittels Hashtags und Demonstrationen für reformistische Forderungen wie Körperkameras für Polizist:innen oder mehr Diversität in den Behörden, gibt es mittlerweile in jeder großen US-Stadt Kollektive, die sich der langfristigen Organisierung, also der Community-Arbeit und Vernetzung mit anderen Gruppen, angenommen haben und klare abolitionistische Ziele verfolgen. Vor allem seit den Massenprotesten und Ausschreitungen nach dem Mord an George Floyd im Sommer 2020 wirkt der Abolitionismus bis in den Mainstream hinein. So gab bei einer Gallup-Umfrage im August 2020 erstmals seit Erhebung mehr als die Hälfte der Befragten an, der Institution Polizei nicht mehr zu vertrauen. Mit Politiker:innen wie Rossana Rodriguez in Chicago, Robin Wonsley in Minneapolis oder Tiffany Caban in New York ist die Bewegung mittlerweile auch in manchen Parlamenten vertreten.
Der Abolitionismus ist bislang eine Minderheitenposition. Dass die Bewegung trotzdem an den Grundfesten der USA rüttelt, erkennt man vielleicht am stärksten an der extremen Gegenwehr, die sie erfährt. Wie schon in den 1960er und 70er Jahren, als auf das Civil Rights Movement eine weiße, reaktionäre Gegenbewegung folgte, haben liberal-konservative bis rechte Kräfte auch in den vergangenen Jahren ihre Law-and-Order-Politik spürbar verschärft. Einschneidendes Ereignis ist hier ebenso der Aufstand von 2020 infolge des Mordes an George Floyd, dem mit einer Vielzahl repressiver Maßnahmen begegnet wurde. Tag für Tag sah man damals Bilder von Polizisten, die mit Knüppeln, Gummigeschossen und Tränengas gegen die Demonstrierenden vorgingen. Überall im Land wurden Ausgangssperren verhängt und die Nationalgarde eingesetzt. Donald Trump bezeichnete die Demonstrierenden als „Terroristen“ und gab demokratischen Bürgermeister:innen die Schuld am Chaos in den Städten. Die meisten Demokraten wiederum wehrten den Vorwurf, zu milde zu sein, mit einer „tough on crime“-Politik ab. Die seither intensivierte „Crime Panic“ ist ein Zeichen dafür, dass die Hegemonie von Polizei und Gefängnissen zunehmend autoritär behauptet wird.
»Common justice«: Alternativen zum Gefängnis
Wie aber lässt sich die in den USA so tiefsitzende „Kultur der Kontrolle“ durchbrechen? Wie baut man verlässliche Sicherheitsstrukturen jenseits der bestehenden Institutionen auf? Wie schützt man Menschen, die Opfer von Gewaltverbrechen wurden? Will der Abolitionismus Mehrheiten gewinnen, muss er für diejenigen funktionieren, die primär unter Gewalt leiden: arme und nichtweiße Menschen, Frauen und Queers.
Die Bürgerrechtsanwältin Michelle Alexander merkte 2019 in einem Gastbeitrag in der „New York Times“ an, dass sich viele der Gefängnis-Reformer:innen in den vergangenen Jahren überwiegend für die Dekriminalisierung von Drogen und die Reduzierung von Strafen für kleinere Delikte eingesetzt hätten.[18] Das Problem der Gewalt sei dabei vermieden worden – oftmals um der rechten „Crime Panic“ kein Futter zu geben. Wer aber an einem Abbau des Strafsystems interessiert sei, müsse sich auch „mit der Gewalt in unseren Communities auseinandersetzen“. Dazu muss man wissen: Mehr als die Hälfte aller Gefängnisinsassen in den USA sind wegen „violent felonies“ verurteilt, wegen Taten also, die als „gewalttätig“ eingestuft wurden.[19]
Mit ihrer Kritik bezog sich Alexander auch auf sich selbst. In ihrem 2010 veröffentlichten Bestseller „The New Jim Crow“, in dem sie den Weg von der Sklaverei zur Masseninhaftierung nachzeichnet, geht es vor allem um die verheerenden Effekte des „War on Drugs“. Einen ähnlichen Fokus hat die preisgekrönte Dokumentation „13th“ von Filmemacherin Ava DuVernay, die 2016 in die Kinos kam und den Diskurs ebenso nachhaltig geprägt hat. Doch anstatt sich für die Masseninhaftierung von gewalttätigen Menschen auszusprechen, verweist Alexander in ihrem Gastbeitrag auf die Arbeit der Organisation „Common Justice“. Diese hat als erste in den USA ein Programm der „restaurativen Gerechtigkeit“ entwickelt, das nicht nur Jugendlichen, sondern auch erwachsenen Opfern und Tätern von Verbrechen angeboten wird und speziell schwere körperliche Gewalt adressiert.
»Restaurative Gerechtigkeit«: Konfrontation und Wiedergutmachung
Wie die Arbeit von „Common Justice“ konkret abläuft, beschreibt Gründerin Danielle Sered in ihrem Buch „Until We Reckon“. Voraussetzung sei dabei immer die Bereitschaft der survivors, wie Sered die Opfer und Überlebenden von Gewalttaten nennt. Nur wenn diese zustimmen, könne das 15 Monate dauernde Programm beginnen. Die survivors werden zunächst gebeten, ihre Forderungen zu nennen. Dann wird überlegt, wie diese umgesetzt werden können. So schreibt Sered, dass sich ein Teilnehmer, der Opfer einer Messerattacke geworden war, wünschte, dass die Täter ihn mehrere Male am Tatort treffen und dort respektvoll begrüßen. Auch Entschädigungszahlungen können eine Bedingung sein. In fast allen Fällen müssen die Täter eine Form von Community-Arbeit leisten. Feste Säulen des Programms sind zudem psychologische Betreuung und regelmäßige Gesprächskreise, in denen beide Seiten gemeinsam versuchen, die Tat und ihre Ursachen zu ergründen.
Beeindruckend sind Sereds Ausführungen auch deshalb, weil darin weder menschliche Gefühle idealisiert noch simple Lösungswege vorgegeben werden. Zu Wort kommen Menschen, die auf unterschiedliche Weise mit Gewalt in Berührung gekommen sind und ihre ambivalenten Gefühle reflektieren. Da ist zum Beispiel eine Mutter, die ihre Rachefantasien nicht ablegen kann, nachdem ihr Sohn schwer verprügelt und ausgeraubt worden ist, zugleich aber weiß, dass eine harte Strafe für den ebenfalls jungen Täter weder Gerechtigkeit noch Sicherheit bringen würde. An anderer Stelle erklärt ein Jugendlicher namens Pablo, warum er sich dafür eingesetzt hat, dass die Person, die ihn mit einer Pistole bedroht hat, aus dem Gefängnis entlassen wird: Als Bedingung konnte Pablo nämlich vom Täter einfordern, dass dessen Clique ihn künftig nicht mehr belästigen wird. Deutlich wird, dass fast alle Teilnehmenden am Anfang große Zweifel haben, am Ende aber auch ein tiefergehendes Gefühl von Gerechtigkeit verspüren. „Common Justice“ demonstriert, dass es längst nicht mehr nur theoretische, sondern praktische Alternativen zum jetzigen Strafsystem gibt. Von der Politik werden solche Ansätze allerdings bislang größtenteils ignoriert.
Damit wären wir wieder bei Brandon Johnson, dem neuen Bürgermeister von Chicago. Dessen Wahlsieg zeigt, dass der Weg zu einer Politik der Gewaltprävention auf progressive Bündnisse angewiesen ist. Johnson hatteim Wahlkampf nicht nur die mächtige Chicago Teachers Union hinter sich, sondern auch zahlreiche abolitionistische Gruppen, die sich deutlich radikaler als Johnson positionieren. Dieser wolle Polizei und Gefängnis zwar nicht abschaffen, so erklärt es die Abolitionistin Maya Schenwar, dafür aber kämpfe er umso überzeugender für den Ausbau sozialer Infrastrukturen und alternativer Formen der Justiz.[20] Möglich wurde Johnsons Erfolg also auch deshalb, weil es zumindest temporär eine progressive Einheit in Chicago gab.
Starke progressive Einheit in Chicago
Betrachtet man die gegenwärtige US-Linke als Ganzes, stellt sich die fehlende Einheit als eine der größten Herausforderungen dar.[21] Einerseits hat in den vergangenen Jahren eine Rehabilitierung des Sozialismus stattgefunden, die sich unter anderem in der Popularität von Bernie Sanders, dem Wachstum der Democratic Socialists of America und militanten Arbeitskämpfen ausdrückt. Andererseits ist mit Black Lives Matter eine neue antirassistische Bewegung gewachsen, die verstärkt die Ideen des Abolitionismus verbreitet.
Diese beiden Stränge entwickeln sich nicht getrennt voneinander, sie berühren und bereichern sich. Auffällig sind dennoch die Unterschiede, was Zusammensetzung, Methoden und Prioritäten betrifft: Während die sozialistische Bewegung – als weiß codiert – in erster Linie zwischen wahlpolitischer Arena und Gewerkschaften zu Stärke gekommen ist, hat sich die abolitionistische Kraft – Schwarz codiert – außerhalb der Institutionen geformt, durch Straßenproteste und in Community-Kollektiven. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Während die eine Bewegung Umverteilung vom Staat fordert, fordert die andere den Staat als solchen heraus.
Nur wenn sich diese beiden Stränge vereinen, wird die US-Linke auf lange Sicht aus ihrer Defensive herausfinden – davon sind auch Autor:innen wie Tobi Haslett, Kay Gabriel und Gabe Winant überzeugt.[22] Der Erfolg von Brandon Johnson in Chicago offenbart, dass die Trennung auch weder analytisch noch strategisch funktioniert. Wer ökonomische Ungerechtigkeit adressieren möchte, muss sich zwangsläufig mit der Rolle von Polizei und Gefängnissen beschäftigen. Und wer die Abhängigkeit von Polizei und Gefängnissen abbauen will, muss den Aufbau universeller Programme und öffentlicher Infrastrukturen vorantreiben. Sollte Johnson mit seinem Ansatz in Chicago erfolgreich sein, trotz aller konservativen Widerstände, könnte die Stadt zum Vorbild für eine Politik der Gewaltprävention werden – und damit für die US-Linke als Ganzes. Bis dahin ist es allerdings noch ein langer Weg.
[1] Stuart Hall u.a., Policing the Crisis, London 1978.
[2] Mass Incarceration: The Whole Pie 2023, www.prisonpolicy.org, 14.3.2023.
[3] Vgl. Hall, a.a.O.
[4] Ruth Wilson Gilmore, The Golden Gulag, Berkely, Los Angeles und London 2007.
[5] Dan Baum, Legalize It All, in „Harper’s”, April 2016.
[6] Vgl. Victoria Law, Health care in jails and prisons is terrible. The pandemic made it even worse, www.vox.com, 28.6.2022; Two Cups of Broth and Rotting Sandwiches: The Reality of Mealtime in Prisons and Jails, www.aclu.org, 23.11.2022 sowie Jails in Crisis: Study Identifies Those at Risk of Suicide Behind Bars, www.fau.edu, 24.2.2022.
[7] United States: prolonged solitary confinement amounts to psychological torture, says UN expert, www.ohchr.org, 28.2.2020.
[8] As Murders Spiked, Police Solved About Half in 2020, www.themarshallproject.org, 12.1.2022.
[9] Recidivism Imprisons American Progress, harvardpolitics.com, 8.8.2021.
[10] What Policing Costs, www.vera.org.
[11] Over the past 60 years, more spending on police hasn’t necessarily meant less crime, www.washingtonpost.com, 7.6.2020.
[13] The Demand for Money Behind Many Police Traffic Stops, www.nytimes.com, 31.10.2021.
[14] Victoria Law und Maya Schenwar, Prison by Any Other Name, New York und London 2020.
[15] Alex Vitale, The End of Policing, London und New York 2017.
[16] Vanessa Thompson, Von Black Lives Matter zu Abolitionismus, www.akweb.de, 25.5.2022.
[17] Was ist Abolitionismus, Herr Loick?, www.philomag.de, 15.7.2022.
[18] Rachel Kushner, Is Prison Necessary?, in: „New York Times Magazine“, 21.4.2019.
[19] Vgl. www.prisonpolicy.org.
[20] Im Gespräch mit dem Autor am 15.3.2023.
[21] Zur Lage der US-Linken siehe auch Lukas Hermsmeier, Uprising. Amerikas neue Linke, Stuttgart 2022.
[22] Vgl. Tobi Haslett, Magic Actions, www.nplusonemag.com, 2021; Kay Gabriel, Eric Adam’s Moral Panics, www.jewishcurrents.org, 19.4.2022 sowie Gabriel Winant, We Live in a Society, www.nplusonemag.com, 12.12.2020.