Ausgabe Juni 2023

Sudan: Der Machtkampf der Generäle

Kämpfe in Khartum, der Hauptstadt des Sudan, 15.4.2023 (IMAGO / Xinhua)

Bild: Kämpfe in Khartum, der Hauptstadt des Sudan, 15.4.2023 (IMAGO / Xinhua)

„Wenn zwei Elefanten sich streiten, leidet das Gras“, so lautet ein bekanntes afrikanischen Sprichwort. Es lässt sich auf viele Konflikte in Afrika anwenden. Zuletzt auch auf den Ausbruch der Kämpfe in einem der größten Länder des Kontinents: dem Sudan. Seit Mitte April liefern sich dort zwei rivalisierende Generäle – der ehemalige Armee chef Abdel al-Burhan sowie der Befehlshaber der sogenannten Schnellen Eingreiftruppe (RSF), Mohamed Hamdan Dagalo – erbitterte Schlachten, vor allem innerhalb der Millionenstadt Khartum, mittlerweile aber auch in anderen Landesteilen. Rund 550 zivile Todesopfer und 4926 Verletzte haben die Kämpfe den Vereinten Nationen zufolge bislang gefordert.[1] Tatsächlich aber dürften diese, auf den Angaben des sudanesischen Gesundheitsministeriums basierenden Zahlen noch weit höher liegen, schätzen Menschenrechtsorganisationen. Denn das Ministerium erfasst nur diejenigen, die in Krankenhäusern sterben oder eingeliefert werden. Viele Augenzeugen aus dem Sudan berichten jedoch, dass vor allem in der Hauptstadt Khartum unzählige Leichen auf den Straßen liegen.

Nach den wochenlangen Kämpfen schlittert der Sudan geradewegs in eine humanitäre Katastrophe: Die Wirtschaft liegt am Boden, Transportrouten sind blockiert und die Infrastruktur ist vielerorts zusammengebrochen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt bereits davor, dass in naher Zukunft mehr Zivilisten aufgrund des Mangels an grundlegender Versorgung und des Ausbruchs von Krankheiten sterben könnten als durch die Kämpfe selbst. So befürchten Ärzte, dass die zurückgelassenen Leichen Wasserquellen verunreinigen und Seuchen auslösen könnten. Ohnehin ist der Zugang zu Wasser durch die Kämpfe erheblich beeinträchtigt, sind Wasservorräte beschädigt und fehlen Reinigungsgeräte und Treibstoff für den Transport. Der Preis für sämtliche Grundnahrungsmittel ist inzwischen um rund 50 Prozent gestiegen.[2] Zwei Drittel der Krankenhäuser sind nicht mehr funktionsfähig, die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist oft nicht gewährleistet. Und in den meisten Regionen ist die Stromversorgung zusammengebrochen, Internet und Telefon funktionieren nicht mehr.

Wer kann und die finanziellen Mittel dazu hat, verlässt angesichts dessen das Land. Doch während ein Großteil der im Sudan befindlichen Ausländer direkt nach Ausbruch der Kämpfe im April und meist unter Einsatz ihrer jeweiligen Sicherheitskräfte evakuiert wurde – allein die Bundeswehr hat nach eigenen Angaben mehr als 700 Personen, darunter rund 200 Deutsche, aus dem Bürgerkriegsland ausgeflogen –, bleiben die Sudanesen ihrem Schicksal überlassen.

Und dieses ist alles andere als einfach: Aus der umkämpften Hauptstadt Khartum im Herzen des riesigen Landes zu fliehen, ist überaus gefährlich. Für viele Fluchtwillige stellt sich die Frage, in welche Richtung sie eine solch waghalsige Reise antreten können. Wer aus Khartum hinausfährt, findet sich bald in der Wüste wieder. Nur wenige Straßen führen durch die Sahara gen Norden, nach Ägypten. Und in fast allen Nachbarländern Sudans ist die Lage ähnlich prekär: Auch in Eritrea, Äthiopien und dem Südsudan herrscht Bürgerkrieg, Leid und Hunger bestimmen dort die Tagesordnung. Dennoch sind laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR mittlerweile rund 100 000 Menschen aus dem Sudan geflohen, zumeist nach Ägypten – und es werden täglich mehr. Hinzu kommen etwa 330 000 Menschen, die innerhalb des Sudans aus ihren Häusern vertrieben wurden und nun anderswo im Land Schutz suchen.

Viele Sudanesen zeigen sich von den westlichen Staaten enttäuscht: „Als sie ihre Diplomaten herausholten, schickten sie eine Botschaft an die Menschen im Sudan“, so Hatim Elyas, Mitbegründer der Nichtregierungsorganisation Popular Initiative to Stop the War in Sudan. Er betont: „Wir sind von ihrer Haltung enttäuscht, insbesondere nach der Evakuierung ihrer Bürger aus dem Sudan im Hollywood-Stil.“ Die Sudanesen hatten sich von westlichen Diplomaten erhofft, dass sie die kämpfenden Generäle mit Sanktionen unter Druck setzen und sie dazu bewegen würden, sich wieder an den Verhandlungstisch zu begeben. Stattdessen können diese nun, weitgehend unbehelligt von der Weltöffentlichkeit, ihre Kämpfe schonungslos fortführen. Und bei diesen geht es allein um eines: Macht.

Diktator Bashirs blutiges Erbe

Seit der übermächtige Diktator Omar al-Bashir 2019 nach 30 Jahren Alleinherrschaft von der Zivilgesellschaft und dem Militär aus dem Amt gehievt wurde, befindet sich das Land in einer extrem fragilen Übergangsphase.[3] Dass diese nach heftigen Machtkämpfen nun in einem blutigen Bürgerkrieg endet, haben viele Experten bereits befürchtet. Dabei hatten die Sudanesen so viel Hoffnung. Nach Jahrzehnten der Terrorherrschaft unter einem mit Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesuchten Herrscher wie Bashir sowie dem Joch jahrzehntelanger internationaler Wirtschaftssanktionen hatten sich die Menschen 2019 auf die Straße getraut – zum Protest. Der Grund: Die Infla tion und damit die Lebensmittelpreise waren ins Unermessliche gestiegen. Kaum jemand konnte sich mehr ein Stück Brot leisten.

Erstmals begannen sich Zivilgesellschaft und Opposition zu organisieren: Sie kamen in der Hauptstadt regelmäßig in Nachbarschaftskomitees und zu Protestaktionen zusammen, denen sich immer mehr Menschen anschlossen. Am 19. April 2019 versammelten sich Zehntausende zu einem Sitzstreik vor dem Armeehauptquartier in Khartum – die Streitkräfte sind eine der zentralen Säulen der Macht im Land. Die Demonstrierenden riefen die Generäle auf, Bashir zu stürzen, was sie letztlich auch taten. Der Diktator landete im Hochsicherheitsgefängnis und die Generäle verhängten einen dreimonatigen Ausnahmezustand.

Von da an stand die Frage im Raum, wer das Land künftig regieren würde und welche Richtung dabei eingeschlagen werden sollte: eine Hinwendung zur Demokratie oder eine neue Militärherrschaft? Zunächst einigten sich die Generäle mit den Vertretern der Zivilgesellschaft auf eine Machtteilung. Ein gemeinsamer „Rat“ aus Militärs und Zivilisten wurde eingesetzt, der für eine Übergangszeit das höchste Organ der Staatsgewalt darstellen sollte – bis eine neue Verfassung ausgearbeitet, Wahlen abgehalten und neue Institutionen gegründet würden. Doch so weit kam es nicht. Als sich die Zivilgesellschaft noch vor Ablauf des dreimonatigen Ausnahmezustands zu einem weiteren Sitzstreik vor dem Armeehauptquartier versammelte, zückten die Generäle die Waffen: Über 100 Menschen starben im Kugelhagel, unzählige wurden verletzt, mehr als 70 Frauen von Soldaten vergewaltigt. Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte am 3. Juni 2019 ging unter dem Begriff „Khartum Massaker“ in die Geschichtsbücher ein.

Rivalität im Sicherheitsapparat

Was die Ereignisse jener Tage deutlich zeigten, war die interne Spaltung von Sudans enormem Sicherheitsapparat, auf den sich Bashirs uneingeschränkte Macht 30 Jahre lang gestützt hatte. Nach dem Prinzip „teile und herrsche“ hatte der Diktator innerhalb seiner Sicherheitsorgane rivalisierende Institutionen etabliert, die sich gegenseitig in Schach hielten. Eine wesentliche Gruppe war die sogenannte Schnelle Eingreiftruppe (RSF) unter General Mohamed Hamdan Dagalo, besser bekannt unter seinem Kriegsnamen Hametti.

Als Neffe eines führenden Clanchefs aus der abgelegenen Bürgerkriegsregion Darfur, wo Kamelhirten und Händler bewaffnet unterwegs sind, wurde seine auch als „Janjaweed“ (übersetzt: die Teufel auf Pferden) bekannte Reitermiliz 2003 von Präsident Bashir als Stoßtrupp aufgestellt, um in Sudans Peripherie, wo Bashirs Macht nur begrenzt hinreichte, Rebellen zu bekämpfen. Hametti wurde zum Handlanger des Präsidenten und erledigte für diesen fortan die Drecksarbeit, wofür er später grausamer Verbrechen bezichtigt wurde. Im Jahr 2009 erließ der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl gegen Sudans Präsident Bashir. Darin ist auch Hametti als ausführender Befehlshaber erwähnt. Der Vorwurf: Völkermord in Darfur.

Hamettis RSF war in den letzten Jahren von Bashirs Herrschaft sehr mächtig geworden. Sie unterstand direkt dem Präsidenten, außerhalb der Befehlsstruktur der Armee. Im Zuge der europäischen Migrationspolitik gegenüber Afrika avancierte er im Sudan zu einem entscheidenden Akteur, denn Bashir übergab der RSF die Aufgabe, Sudans lange Grenzen in der Wüste zu überwachen. „Also arbeiten wir stellvertretend für Europa“, hatte Sudans oberster Grenzschützer 2016 bei einer Pressekonferenz in Khartum geprahlt und 800 festgenommene illegale Migranten präsentiert. Spätestens da war der Kamelhirte aus der Provinz in den höchsten Machtzirkeln Khartums angekommen.

Seitdem war seine RSF in der Hierarchie aufgestiegen, bekam ausreichend Ausrüstung und Soldaten unter sein Kommando. Bashir verließ sich im Machtgefüge immer mehr auf Hametti, der den direkten Zugang zum Präsidenten genoss. Als der Präsident dann im April 2019 von Sudans Generalstab verhaftet wurde, ging es für Hametti um alles oder nichts. Klar war: Sollte Bashir an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgeliefert werden, was die Zivilgesellschaft in ihren Sitzstreiks immer wieder forderte, wäre Hametti mit dran. Als Vize-Vorsitzender des Übergangsrates konnte er dies nicht zulassen. Er schickte seine RSF-Truppen los, um gegen die Protestierenden vorzugehen. Die RSF schoss beim Khartum-Massaker brutal in die Menschenmenge und machte sich über die Frauen her.

Seitdem stehen sich Hametti und General Abdel al-Burhan als direkte Rivalen gegenüber. Burhan, unter Bashir Generalinspekteur der Armee, stand nach der Revolution im April 2019 dem Übergangsrat vor, den er nach langen Machtkämpfen mit den Vertretern der Zivilgesellschaft im Oktober 2021 letztlich auflöste und sich selbst zum Vorsitzenden eines neuen, ihm loyalen Rates an die Macht putschte. Seitdem galt er als oberster Herrscher des Landes, Hametti nur als sein Vize. Burhan versicherte zwar, dass er die Herrschaft nach für Juli 2023 anberaumten Wahlen einer Zivilregierung übergeben würde. Doch soweit sollte es nicht kommen. Als Hametti in den frühen Morgenstunden des 15. April 2023 seine Truppen in Khartum losschickte, um den Flughafen und andere strategisch wichtige Einrichtungen unter Kontrolle zu bekommen, brach der Machtkampf unter den sogenannten Elefanten offen aus. Jetzt leidet das Gras.

Die Zeit für Hilfe drängt

Angesichts der drohenden humanitären Katastrophe versuchen verschiedene UN-Agenturen derweil, Hilfsgüter ins Land zu bekommen. Das allerdings ist kompliziert: Laut WHO liegen 80 Tonnen medizinischer Ausrüstung in Containern im Hafen von Port Sudan am Roten Meer und warten auf die Freigabe durch den Zoll.[4] Und die Lieferung ins Landesinnere sowie in die verschiedenen Regionen des großen Landes ist gefährlich. Sechs Lastwagen mit Hilfsgütern seien bereits geplündert worden, klagt UN-Hilfschef Martin Griffiths und fordert die Konfliktparteien auf, den Hilfstransporten freie Passagen zu ermöglichen. Die Zeit ist knapp, warnen die Hilfsagenturen: Die Waren müssen vor Beginn der Regenzeit im Juni verteilt werden, weil dann viele Straßen und Transportwege unpassierbar werden.

Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR setzt derzeit einen Notfallplan auf. Es rechnet mit rund 860 000 Menschen, die in naher Zukunft aus dem Sudan fliehen werden, darunter 580 000 Sudanesen sowie Menschen, die zuvor selbst Flüchtlinge im Sudan waren. Bis zum Ausbruch des Krieges beherbergte das Land mehr als eine Million Geflüchtete aus verschiedenen Krisengebieten Afrikas, vor allem aus Eritrea, Äthiopien und dem Südsudan. All diese Menschen fliehen jetzt erneut und müssen weiter versorgt werden. Es sei davon auszugehen, dass die meisten in Ägypten Schutz suchen werden, vermutet das UNHCR. Viele Südsudanesen würden dagegen vermutlich in ihr Heimatland zurückkehren. Um diese zu versorgen, benötige das Flüchtlingshilfswerk bis Oktober umgerechnet rund 400 Mio. Euro.[5] „Die humanitäre Lage im und um den Sudan ist tragisch“, appelliert Raouf Mazou, stellvertretender Hoher Kommissar des UNHCR an die Weltgemeinschaft und betont: „Dies ist nur ein Anfang. Weitere Hilfe wird dringend benötigt.“

Umso wichtiger sind die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, auf ein Ende des Konflikts im Sudan hinzuwirken. Doch dass dieser bald vorbei ist, davon ist derzeit nicht auszugehen. Zwar bemühen sich die Nachbarländer sowie internationale Institutionen um Friedensverhandlungen. Die Arabische Liga, deren Mitglied Sudan ist, hielt bereits mehrfach Gespräche mit den rivalisierenden Konfliktparteien in Ägyptens Hauptstadt Kairo ab. Auch Saudi-Arabien bietet sich gemeinsam mit den USA als Vermittler an. Dort treffen sich nun Delegationen beider Seiten zu Gesprächen. Im Schulterschluss mit der Afrikanischen Union boten sich auch die regionalen Staatschefs von Kenia, dem Südsudan und Dschibouti an, in Südsudans Hauptstadt Gespräche mit den rivalisierenden Generälen anzuberaumen. Doch zumindest bislang scheiterten alle Gesprächsversuche an der Nichteinhaltung eines Waffenstillstandes in Khartum und den anderen umkämpften Regionen – zu verhärtet sind die Fronten und zu groß die Hoffnungen beider Seiten, den jeweiligen Gegner doch noch besiegen zu können. Mittlerweile breiten sich die Kämpfe immer weiter aus, auch auf abgelegene Regionen wie Darfur. Wie sich die aufgehetzten Elefanten nun wieder beruhigen lassen – das ist aktuell nicht abzusehen.

[1] Vgl. Sudan: „Secure and immediate access“ needed for lifesaving aid, urges Guterres, www.news.un.org, 3.5.2023.

[2] Vgl. UNICEF Sudan Humanitarian Situation Report No.1 (SAF-RSF Clashes), www.reliefweb.int, 25.4.2023.

[3] Vgl. auch Jörg Armbruster, Demokratie versus Despotie: Sudans Ringen um seine Zukunft, in: „Blätter“, 2/2022, S. 101-108.

[4] Vgl. WHO Eastern Mediterranean Regional Office (EMRO) @WHOEMRO, www.twitter.com, 2.5.2023.

[5] UNHCR: Sudan refugee response will need $445 million for rising numbers fleeing Sudan, www.unhcr.org 4.5.2023.

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