
Bild: Blick über den Bremerhavener Weserdeich auf den Schornstein der Chemiefabrik Kronos-Titan. Dort wird Titandioxid hergestellt (IMAGO / Eckhard Stengel)
In abertausend Bücherschränken steht Rachel Carsons „Der stumme Frühling“. Dem Historiker Joachim Radkau gilt das Buch über die Folgen des Insektengiftes DDT für Mensch und Natur als „Ouvertüre der amerikanischen Umweltbewegung“, und auch in Europa und Deutschland hat es dem Unbehagen an und der Angst vor einer von Atomenergie und chemischer Industrie vergifteten Umwelt eine Sprache gegeben. 1962 erschienen, ist dieser Klassiker der Umweltliteratur gut gealtert. Der Inhalt – das Sterben von Insekten und Vögeln durch Insektizide – ist heute so aktuell wie damals. Doch unsere Wahrnehmung und unser Umgang mit der schleichenden Katastrophe hat sich verändert. Darüber gibt das Erscheinungsbild der deutschen Ausgabe Auskunft. Sie hat über die Jahrzehnte einen interessanten Wandel vollzogen: Das Cover der ersten ins Deutsche übersetzten Auflage von 1962 ziert ein warnendes rotes Kreuz. Auf der Taschenbuchauflage von 1971 sprüht ein Doppeldecker plakativ eine Gift(?)wolke auf die Erde, auf der von 1987 reckt sich anklagend ein toter Baum. Die jüngste Auflage von 2019 ist in sanftem Rosé gehalten, verziert mit einem fein gezeichneten Singvogel und einem Blatt.[1]
Etwa zehn lange Jahre brauchten die USA vom Erscheinen des Buches bis zum Verbot von DDT. Viele europäische Länder verboten Dichlordiphenyltrichlorethan ebenfalls im Laufe der 1970er Jahre, Deutschland 1977. Die Belastungen durch die Erzeugnisse der chemischen Industrie aber haben sich seitdem multipliziert: Sie reichen von Medikamentenrückständen im Grundwasser über Plastikmüll und Mikroplastik im Meer und in Böden bis hin zu per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS). Derzeit läuft eine öffentliche Konsultation der EU-Kommission zu ihrer Beschränkung, noch bis September können Kommentare eingereicht werden. PFAS durchsetzen den Alltag der Verbraucher:innen: Die Substanzen beschichten Pizzakartons, Bratpfannen, Regenjacken und Rohre, befinden sich in Löschschäumen, Medikamenten und Medizinprodukten. Sie werden so universell eingesetzt, weil sie sowohl fett- als auch wasserabweisend sowie extrem hitzebeständig sind. Was allerdings noch immer den wenigsten wirklich bewusst ist: Sie können Krankheiten an der Leber und der Schilddrüse auslösen, Krebs, Fettleibigkeit und Fruchtbarkeitsstörungen. Weil sie äußerst langlebig sind, reichern sie sich in der Umwelt und im menschlichen Körper an.
Im Februar veröffentlichten Journalist:innen eine Recherche über 17 000 Orte Europas, an denen sich PFAS im Boden befinden,[2] zwei Wochen nachdem die Europäische Chemikalienagentur ECHA vorgeschlagen hatte, die etwa 10 000 Chemikalien umfassende Stoffgruppe in den nächsten Jahren zu verbieten.[3] Denn die zuständigen nationalen und internationalen Institutionen und Behörden haben die schleichende Vergiftung von Mensch und Natur längst auf dem Schirm. So bemüht sich etwa die Europäische Union seit mehr als einem Jahrzehnt mit ihrer Richtlinie „REACH – Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien“ darum, ein einheitliches und umfassendes Regelwerk für Chemikalien aufzubauen.
Nach dem Grundsatz „Kein Markt ohne Daten“ muss jede Chemikalie, die verkauft oder verwendet wird, zuvor erfasst und bewertet werden. Vor Inkrafttreten von REACH sagte die Industrie lautstark ihr Ende in Europa voraus. Lobbyverbände und Großunternehmen fanden jedoch schnell heraus, dass sie mit der umfangreichen Regulierung ganz gut leben können, wenn sie ihr mit einer gewissen Zähigkeit und Sturheit begegnen. Sie liefern nur so viele Daten wie unbedingt nötig und verzögern Prozesse, wo sie können. Derzeit verwenden sie ihren großen Einfluss in Brüssel darauf, die notwendige REACH-Reform möglichst lange zu verschleppen.
In Kauf genommene Schadstoffkrise
Neben dieser Richtlinie existieren weitere – für Biozide, Chemikalien in Lebensmitteln, Kosmetika und Spielzeug. Auch auf Ebene der Vereinten Nationen gibt es verschiedene Verträge, um besonders giftige Stoffe einzuhegen. Inzwischen warnt das UN-Umweltprogramm UNEP vor einer dreifachen globalen Umweltkrise: Neben dem Klimawandel und dem Verlust der Biodiversität gehöre dazu die Umweltverschmutzung durch Chemikalien und deren Abfälle, stellte die Organisation 2019 in ihrem Umweltbericht fest.[4]
Obwohl die Verschmutzung einem breitem Publikum als ernstes Problem schon in den 1960er Jahren und somit weit vor den Gefahren der Erderhitzung oder gar des Artensterbens bekannt wurde, erregt es heute weniger Aufmerksamkeit. PFAS in der Bratpfanne, endokrine Disruptoren – also hormonwirksame Schadstoffe – in Babyfläschchen oder Schwermetalle in der Schokolade verursachen zwar regelmäßig kurzzeitig Aufregung, aber ein dauerhafter, öffentlich wahrnehmbarer Protest hat sich bislang gegen die Vergiftung nicht etabliert. Es gibt nicht einmal einen, an die Klima- oder Biodiversitätskrise angelehnten – Begriff für den Vorgang, etwa die „Verschmutzungskrise“. Die UN mag sie festgestellt haben – in der Öffentlichkeit rangiert sie unter ferner liefen.
Die zu Beginn skandalisierende und heute zurückhaltend-harmonische Gestaltung der Cover des „Stummen Frühlings“ verleiht dem ein Bild. Die andauernde, nicht zu umgehende und unserer Industrie- und Konsumgesellschaft immanent zugehörige Bedrohung durch giftige Chemikalien ertragen wir, indem wir sie kulturell vereinnahmen. Zumindest äußerlich wird aus der Anklage gegen Verschmutzung ein etwas melancholisch anmutendes „Nature Writing“, das sich angesichts der multiplen Krise der Natur noch immer verkauft wie warme Semmeln.
Warum ist das so? Protest und Engagement brauchen nicht nur ein klares Ziel, etwa „Stopp dem Klimawandel“ oder „Gerechtigkeit erreichen“. Sie brauchen auch lösbare Probleme, um nicht einzugehen. „Treibhausgase minimieren“ etwa, oder „Lohnsteigerungen durchsetzen“. Die Verschmutzungskrise jedoch teilt das Schicksal des Biodiversitätsverlustes: Für eine griffige, dauerhafte Kampagne sind beide zu komplex. Das Ziel ist jeweils einfach: „Weniger Gifte in der Umwelt“, „Artensterben stoppen“. Doch beim Artensterben ist die Problemlösung diffus. Um es zu stoppen, müssen wir andere Konsummuster durchsetzen, Land anders nutzen, Natur mehr Raum geben. Bei der Verschmutzungskrise ist es die Problemlage, die zerfasert. Hat der arme Laie verstanden, was „Endokrine Disruptoren“ sind – also Schadstoffe, die im Blutkreislauf kursieren und auf den Hormonhaushalt einwirken – kommen POP und PFAS auf die Tagesordnung, BPA, Titandioxid und Mikroplastik.
Zum Teil sind diese Chemikalien nur in bestimmten Anwendungen giftig – etwa wenn sie in Nanoform (also als sehr kleine Partikel) oder als Staub daherkommen. Einige sind ab bestimmten Grenzwerten gefährlich, andere auch in geringsten Mengen. Einige lagern sich in Böden ein, andere verteilen sich über den Erdball. Es gibt Chemikalien, die die menschliche Gesundheit gefährden, und solche, die Wasserorganismen töten. Als Reaktion darauf überlappen sich nationale, europäische und globale Gesetze und Regulierungen. Vorschriften zum Schutz der Luft, der Böden und Gewässer wie das Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSCHG), das Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen, die Gefahrschutzverordnung oder die Wasserrahmenrichtlinie betreffen die Herstellung, den Verkauf und die Verwendung von Chemikalien ebenso wie die schon erwähnten EU-Regularien REACH und die Kosmetik- und Spielzeugrichtlinien.
Für Laien ist die Regulierung häufig kaum nachvollziehbar – das Weißpigment Titandioxid ist hierfür ein Beispiel. Es färbt Farben, Lacke, Druckfarben und Kunststoffe weiß; als E 171 verleiht es Kaugummis oder Dragees einen appetitlichen weißen Glanz und als CI 77891 Zahnpasta ein klinisch weißes Äußeres. Als Nanopartikel in Sonnenmilch schließlich schützt es die Haut vor UV-Strahlung. Verbraucherschützern und Umweltmedizinerinnen ist Titandioxid seit Jahren nicht geheuer. So hat ein zuständiger EU-Ausschuss der Europäischen Chemikalienagentur TiO2 schon 2017 in Staubform als krebserregend eingeordnet. Maler:innen, die Wände abschleifen, müssen also entsprechende Schutzkleidung tragen; E 171 blieb in der EU aber noch bis August 2022 erlaubt, bis die Experten zu dem Ergebnis kamen, dass auch eine erbgutschädigende Wirkung nicht ausgeschlossen werden könne. Frankreich hatte das Pigment schon zwei Jahre früher aus Lebensmitteln verbannt und war von der chemischen Industrie in Deutschland dafür heftig kritisiert worden. In Kosmetika – und selbst Zahnpasta – gilt die Substanz hingegen noch immer als unbedenklich, allerdings nur dann, wenn sie nicht in die Lunge eingeatmet werden kann. Der Stoff ist also als Lebensmittelzusatz verboten, als Zahnpasta erlaubt; es sind unterschiedliche Richtlinien, Behörden und wissenschaftliche Ausschüsse zuständig.
Nötig, aber nicht umsetzbar: Eine Positivliste
Können Verbraucher:innen Produkte, die heute noch Titandioxid enthalten, denn nun ganz entspannt kaufen und nutzen? Keine Ahnung. Entgehen können sie ihnen auf jeden Fall kaum, wenn sie nicht auf Kosmetikprodukte, Wandfarben, Plastik, Textilien oder Backformen verzichten. Was bleibt, ist das Gefühl einer überbordenden Regulierung bei beschränkter Wirkung bis weitgehender Wirkungslosigkeit – je nach Stoff und Einsatzgebiet. Zumal die Industrie sehr erfolgreich damit verfährt, Kausalbeziehungen zu leugnen und die Öffentlichkeit zu verwirren: So verwiesen Lobbyisten im Fall der krebserregenden weißen Farbstäube an der Wand beispielsweise lange darauf, dass Stäube etwa aus Buchenholz viel krebserregender seien – diese, wenn gesägt oder geschmirgelt, auch als gefährlich gekennzeichnet sein müssten. Nachzuweisen, dass eine Krebserkrankung tatsächlich durch den Einfluss einer Chemikalie verursacht wurde – dieser Kampf David gegen Goliath ist nicht zufällig immer wieder ein Fall für Hollywood.[5] Aber es ist ja nicht so, dass die Bürger:innen nur hilflose Opfer einer über sie hinwegproduzierenden Industrie wären. Als Konsument:innen befeuern sie die Wachstumsraten der Chemiegiganten. Jahrelang war bekannt, wie gefährlich PFAS in der Umwelt sind; trotzdem erfreuten sich die bunten Regenjacken bekannter Outdoormarken weiterhin breitester Beliebtheit, weil sie auch bei einem kurzen Stadtspaziergang vor heftigen Regenfällen wie auf einer Bergwanderung schützten;[6] eine breite Boykottbewegung gegen PFAS-beschichtete Pizzakartons, damit deren feucht-fettiger Inhalt nicht durchsuppt, ist ebenfalls nicht aufgefallen. Das Verhältnis der Verbraucher:innen gegenüber Chemikalien gestaltet sich in etwa so wie gegenüber den globalen Tech-Konzernen – niemand mag Amazon oder Paypal, aber alle nutzen sie, weil sie praktisch sind und das Leben erleichtern. Nebenwirkungen werden buchstäblich in Kauf genommen. In anderen Anwendungsbereichen sind spezielle Chemikalien zudem schier unverzichtbar. Bestimmte industrielle Prozesse sind ohne poly- und perfluorierte Alkylverbindungen nicht möglich; und ein Flughafen, der große Mengen an Kerosin lagert, kann ohne PFAS-haltige Löschschäume nicht sicher betrieben werden. Unsere industrielle Konsum- und Warenwelt kommt ohne giftige Substanzen nicht aus.
Insofern ist das einzige Verfahren, dass unsere Körper und die Natur wirklich entgiften würde, derzeit denk-, aber nicht machbar: eine Positivliste. Hergestellt, verkauft, verwendet werden dürften nur solche Stoffe, die erwiesenermaßen unschädlich sind. Nicht die Behörden müssten der Industrie nachweisen, dass eine Chemikalie unter bestimmten Umständen gefährlich ist, sondern für eine Zulassung müssten die Unternehmen beweisen, dass ihr Produkt ohne Nebenwirkungen anwendbar ist.
Anstatt einer Positivliste bleibt der aufwändige wie verzweifelte Versuch, nur die größten Schäden zu vermeiden. Und so landet man am Ende etwas hilflos bei Verbrauchertipps: Um Kleinkinder nicht täglich Staub auszusetzen, der mit dem Abrieb von Weichmachern und Flammschutzmitteln vergiftetet ist, sollen Kitas gründlich putzen und öfter lüften. Kund:innen können mit Apps durch Drogerien streifen und ihre Artikel vor Erwerb auf endokrine Disruptoren scannen. Biolebensmittel und Ökokleidung hinterlassen bei ihrer Herstellung erwiesenermaßen weniger Gift in der Umwelt als ihre konventionellen Wettbewerber. Und so weiter und so weiter, es bleibt eine Entscheidung des Einzelnen, eine Paranoia zu entwickeln, abzustumpfen oder sich bei Gelegenheit (PFAS-Berichterstattung) auf- und dann wieder abzuregen.
Die Pionierin Rachel Carson hatte noch die Hoffnung, dass die erfinderische Menschheit nachhaltigere Lösungen als mörderische Gifte finden würde, um Probleme wie den Insektenbefall ihrer Felder zu lösen. Sie setzte auf die Gentechnik als giftfreie und also sanfte Methode. Heute sind „Gendrives“ anwendungsreif. Mit ihnen lassen sich einheitliche Nachkommen zeugen, die die Vererbungsregeln außer Kraft setzen. Es wären also alle Nachkommen eines so manipulierten Wildkrauts oder Insekts unfruchtbar. Somit könnte ein unerwünschtes Unkraut innerhalb weniger Generationen vom Erdboden verschwinden. Längst lassen diese Verfahren verheerende Nebenwirkungen für die Ökosysteme erahnen – man entfernt nicht ungestraft einen Teil aus einem Puzzle. Das Versprechen, nicht nur den Alltag angenehmer, bequemer und bunter zu machen, sondern auch ihre Produkte sicher, sind Wissenschaft und Industrie bis heute auf jeden Fall schuldig geblieben.
[1] Vgl. Rachel Carson, Der stumme Frühling, München 1962 (Biederstein), München 1971 (dtv), München 1978 (Beck’sche Reihe), München 2019 (C.H. Beck).
[2] Sarah Pilz u.a., Wo PFAS überall Deutschland verschmutzen, www.tagesschau.de, 23.2.2023.
[3] ECHA publishes PFAS restriction proposal, ESHA/NR/23/04, https://echa.europa.eu.
[4] Umweltprogramm der Vereinten Nationen, GEO 6. Sechster globaler Umweltbericht, https://wedocs.unep.org, 2019.
[5] Vgl. Vergiftete Wahrheit (Dark Waters), 2020.
[6] Heike Holdinghausen, Hormongift-Cocktail für Naturfreaks, www.taz.de, 29.10.2012.