Indiens Weg in den Faschismus

Bild: Arundhati Roy bei einer Pressekonferenz in Neu-Delhi, 22.10.2020 (IMAGO / Hindustan Times / Mohd Zakir)
Ich danke der Charles-Veillon-Stiftung dafür, dass sie mir den europäischen Essay-Preis 2023 verliehen hat. Vielleicht erkennt man nicht gleich, wie erfreut ich darüber bin, diesen Preis zu bekommen. Möglicherweise bin ich sogar schadenfroh. Was mich am glücklichsten macht, ist, dass es ein Preis für Literatur ist. Nicht für Frieden. Nicht für Kultur oder kulturelle Freiheit, sondern für Literatur. Für das Schreiben. Und für das Schreiben der Art von Essays, die ich schreibe und in den vergangenen 25 Jahren geschrieben habe. Sie haben Schritt für Schritt Indiens Abstieg – obwohl manche es als Aufstieg betrachten – dokumentiert, zunächst in eine Tyrannei der Mehrheit und dann in einen vollständig entwickelten Faschismus. Ja, es gibt in Indien weiterhin Wahlen, und um sich eine verlässliche Basis zu sichern, verbreitet die regierende Bhartiya Janata Partei (BJP) ihre Botschaft von der Vorherrschaft der Hindus unermüdlich in der Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen. Deshalb sind Wahlen die Hauptzeit für Morde, Lynchjustiz und unterschwelligen Rassismus – die gefährlichste Zeit für Indiens Minderheiten, insbesondere für Muslime und Christen.
Wir müssen nicht länger nur unsere Anführer fürchten, sondern einen ganzen Teil der Bevölkerung. Die Banalität des Bösen, die Normalisierung des Bösen zeigt sich jetzt in unseren Straßen, in unseren Klassenzimmern, an sehr vielen öffentlichen Orten. Die Mainstream-Medien, die hunderte von 24-Stunden-Nachrichtensendern, werden für die Sache der faschistischen Tyrannei der Mehrheit eingespannt. Die indische Verfassung ist faktisch außer Kraft gesetzt worden. Gerade wird das indische Strafgesetzbuch neu geschrieben. Sollte das derzeitige Regime 2024 eine Mehrheit erhalten, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir auch eine neue Verfassung bekommen werden. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass der in Indien „Abgrenzung” genannte Prozess der Neuordnung der Wahlkreise – das, was in den USA „gerrymandering“ heißt – stattfinden wird, wodurch die Staaten in Nordindien, in denen Hindi gesprochen wird und die BJP eine Basis hat, mehr Parlamentssitze erhalten werden. Das wird in den südlichen Bundesstaaten zu großer Verbitterung führen und hat das Potenzial, Indien zu balkanisieren. Selbst im unwahrscheinlichen Fall einer Wahlniederlage, sitzt das Gift des Überlegenheitsdenkens tief und hat alle öffentlichen Institutionen, die die Gewaltenteilung beaufsichtigen sollen, geschwächt. Es gibt nun praktisch keine mehr, außer einem geschwächten und beschädigten Obersten Gerichtshof.
Lassen Sie mich Ihnen noch einmal für diesen sehr prestigeträchtigen Preis danken und für die Anerkennung meiner Arbeit – obwohl ich Ihnen sagen muss, dass man sich bei einer Auszeichnung für das Lebenswerk alt fühlt. Ich werde wohl damit aufhören müssen, so zu tun, als sei ich es nicht. Es liegt in gewisser Weise eine große Ironie darin, einen Preis für Schriften aus 25 Jahren zu bekommen – in denen ich vor der Richtung, in die wir unterwegs waren, gewarnt habe –, die aber nicht beachtet, sondern stattdessen oft verspottet und kritisiert worden sind, von Liberalen ebenso wie von jenen, die sich ebenfalls als „fortschrittlich“ betrachten. Aber nun ist die Zeit der Warnungen vorbei. Wir befinden uns in einer anderen Phase der Geschichte. Als Autorin kann ich nur hoffen, dass meine Schriften Zeugnis ablegen über dieses sehr dunkle Kapitel, das sich im Leben meines Landes gerade entfaltet. Und hoffentlich lebt auch das Werk von anderen wie mir fort, und es wird bekannt, dass nicht alle von uns mit dem, was passiert ist, einverstanden waren.
»Ich schrieb, um mein schreibendes Ich zu retten«
Mein Leben als Essayistin war nicht geplant. Es ist einfach passiert.
Mein erstes Buch war „Der Gott der kleinen Dinge“, ein im Jahr 1997 veröffentlichter Roman. Zeitgleich zu seinem Erscheinen jährte sich die indische Unabhängigkeit vom britischen Kolonialismus zum fünfzigsten Mal. Acht Jahre zuvor war der Kalte Krieg zu Ende gegangen und der Sowjetkommunismus war in den Trümmern des afghanisch-sowjetischen Krieges begraben worden. Es war der Beginn der von den USA dominierten unipolaren Welt, mit dem Kapitalismus als unangefochtenem Sieger. Indien richtete sich neu an den USA aus und öffnete seine Märkte für das Kapital der Konzerne. Privatisierung und Strukturanpassungen waren die Hymnen des freien Marktes. Indien nahm seinen Platz am Erwachsenentisch ein. Aber dann erlangte 1998 eine von der BJP geführte hindunationalistische Regierung die Macht. Das erste, was sie tat, war eine Reihe von Atomtests durchzuführen. Diese wurden von den meisten Menschen begrüßt, darunter auch Autoren, Künstler und Journalisten, und zwar in einer scharfen, nationalistisch-chauvinistischen Sprache. Was im öffentlichen Diskurs als angemessen angesehen wurde, änderte sich schlagartig.
Ich hatte gerade den Booker-Preis für meinen Roman erhalten und war ungewollt zu einer der kulturellen Botschafterinnen für dieses aggressive neue Indien geworden. Ich fand mich auf den Titelseiten großer Zeitschriften wieder. Ich wusste, wenn ich nichts sagen würde, nähme man an, dass ich all dem zustimmte. In diesem Moment verstand ich, dass Schweigen genauso politisch war, wie Stellung zu beziehen. Ich verstand, dass, wenn ich mich äußern würde, dies das Ende meiner Karriere als Märchenprinzessin der literarischen Welt bedeuten würde. Mehr noch aber verstand ich, dass, wenn ich nicht schriebe, was ich glaubte – unabhängig von den Konsequenzen – , ich selbst zu meinem schlimmsten Feind werden und möglicherweise nie mehr schreiben würde. Also schrieb ich, um mein schreibendes Ich zu retten. Mein erster Essay, „The End of Imagination”, wurde gleichzeitig in zwei großen Magazinen mit hohen Auflagen veröffentlicht – „Outlook“ und „Frontline“. Ich wurde sofort als antinationale Verräterin bezeichnet. Ich fasste diese Beleidigungen als Lorbeeren auf, nicht weniger prestigeträchtig als der Booker-Preis. Damit trat ich eine lange Reise des Schreibens über Staudämme, Flüsse, Vertreibung, Kasten, Bergbau, Bürgerkrieg an – eine Reise, die meine Einsichten vertieft und meine fiktionalen Werke und Sachbücher auf eine Weise miteinander verknüpft hat, die nicht mehr aufgelöst werden kann.
Der zerbrechliche, doch unzerstörbare Raum der Literatur
Ich werde einen kurzen Auszug aus einem der Essays in meinem Buch „Azadi heißt Freiheit“ vorlesen, in dem es darum geht, wie diese Essays in der Welt leben. Er heißt „Die Sprache der Literatur“.
„Als die Essays erstmals veröffentlicht wurden (zunächst in Zeitschriften mit Massenauflage, dann im Internet und schließlich als Bücher), wurden sie zumindest in einigen Kreisen mit unheilvollem Misstrauen beäugt, oft von denjenigen, die nicht mal unbedingt etwas gegen den politischen Gehalt der Essays einzuwenden hatten. Die Texte standen quer zu dem, was man gemeinhin unter Literatur versteht. Unheilvolles Misstrauen war eine verständliche Reaktion, insbesondere unter den Menschen mit Sinn für Taxonomien, da sie nicht genau entscheiden konnten, was genau diese Texte waren – Flugblatt oder Polemik, akademisches oder journalistisches Schreiben, Reisebericht oder einfach nur literarisches Abenteurertum? Für einige zählten sie einfach nicht als Schreiben: ‚Ach, warum haben Sie denn aufgehört zu schreiben? Wir warten auf Ihr nächstes Buch.‘ Andere malten sich aus, ich sei nichts anderes als eine ‚Auftragsautorin‘. Alle möglichen Angebote wurden an mich herangetragen: ‚Darling, ich fand den Text großartig, den du über die Dämme geschrieben hast. Könntest du für mich auch etwas über Kindesmissbrauch schreiben?‘ (Das passierte tatsächlich.) Streng wurde mir erklärt (meist von Männern der oberen Kasten), wie man schreibt, über welche Themen ich schreiben und welchen Ton ich dabei anschlagen sollte.
Doch an anderen Orten – nennen wir sie Orte ab vom Schuss – wurden die Aufsätze schnell in andere indische Sprachen übersetzt, als Flugblätter gedruckt, kostenlos in Wäldern und Flusstälern verteilt, in Dörfern, die attackiert wurden, auf Universitätsgeländen, wo die Studierenden die Lügen satthatten. Denn diese Lesenden da draußen an der Front, die bereits durch das sich ausbreitende Feuer versengt waren, hatten eine ganz andere Vorstellung davon, was Literatur ist oder sein sollte. Ich erwähne dies, weil es mich gelehrt hat, dass der Raum der Literatur von Schriftstellerinnen und Lesern geschaffen wird. In gewisser Weise ist es ein zerbrechlicher Raum, doch ein unzerstörbarer. Wenn er zerstört ist, erschaffen wir ihn neu. Denn wir brauchen einen Unterschlupf. Mir gefällt die Idee der Literatur, die gebraucht wird, sehr gut. Literatur, die Schutz bietet. Schutz aller Art.”[1] Heute ist es undenkbar, dass irgendein Mainstream-Medienhaus in Indien, die alle auf Unternehmensanzeigen angewiesen sind, Essays wie diesen veröffentlichen würden. In den letzten 20 Jahren haben der freie Markt, der Faschismus und die sogenannte freie Presse Indien gemeinsam an einen Punkt gebracht, an dem es keinesfalls mehr als eine Demokratie bezeichnet werden kann.
Der Angriff auf die »indischen Zwillingstürme«
Im Januar dieses Jahres sind zwei Dinge geschehen, die dies auf eine Weise illustrieren, wie es wahrscheinlich nichts anderes vermag. Die BBC sendete eine zweiteilige Dokumentation mit dem Titel „Indien: Die Modi-Frage“, und wenige Tage später veröffentlichte eine kleine amerikanische Firma mit dem Namen Hindenburg Research, die sich auf sogenannte aktivistische Leerverkäufe spezialisiert hat, einen detaillierten Bericht über das schockierende Fehlverhalten des größten indischen Unternehmens, der Adani-Gruppe.
Diese beiden Veröffentlichungen wurden von den indischen Medien als nichts weniger als ein Angriff auf die „indischen Zwillingstürme“ bezeichnet – gemeint sind Premierminister Narendra Modi und Indiens größter Industrieller, Gautam Adani, bis vor kurzem der drittreichste Mensch der Welt. Die gegen sie erhobenen Vorwürfe sind nicht gerade subtil. Der BBC-Film bringt Modi mit der Beihilfe zum Massenmord in Verbindung. Der Hindenburg-Bericht wirft Adani „den größten Betrug in der Unternehmensgeschichte“ vor. Am 30. August veröffentlichten der „Guardian“ und die „Financial Times“ Beiträge auf der Basis von belastenden Dokumenten, die das Organized Crime and Corruption Reporting Project beschafft hatte, und die den Hindenburg-Bericht weiter unterfütterten. Indische Untersuchungsbehörden und die meisten indischen Medien sind nicht dazu in der Lage, derartige Nachforschungen anzustellen oder vergleichbare Beiträge zu veröffentlichen. Tun es ausländische Medien, dann ist es in der derzeitigen Atmosphäre eines pseudohaften Hypernationalismus ein Leichtes, dies als einen Angriff auf die indische Souveränität darzustellen.
Die erste Episode des BBC-Films „Die Modi-Frage“ behandelt das antimuslimische Pogrom, das 2002 im Staat Gujarat wütete, nachdem Muslime für das Abbrennen eines Zugwaggons verantwortlich gemacht worden waren, bei dem 59 Hindu-Pilger bei lebendigem Leib verbrannten. Modi war nur wenige Monate vor dem Massaker zum Ministerpräsidenten des Bundesstaats ernannt – nicht gewählt – worden. Der Film erzählt nicht nur von den Morden, sondern auch von der 20 Jahre andauernden Reise einiger Opfer durch das labyrinthische indische Justizsystem, im Vertrauen und in der Hoffnung auf Gerechtigkeit und politische Rechenschaft. Er enthält Augenzeugenberichte, besonders bewegend der von Imtiyaz Pathan, der zehn Angehörige im sogenannten Gulbarg Society-Massaker verlor, bei dem 60 Menschen von einem Mob ermordet wurden, darunter der vormalige Parlamentsabgeordnete Ehsan Jaffri, der lebendig zerstückelt und verbrannt wurde. Jaffri war ein politischer Rivale von Modi und hatte bei einer kurz zuvor abgehaltenen Wahl gegen ihn kandidiert. Dies war nur eines von mehreren ähnlich grauenvollen Massakern, die sich innerhalb weniger Tage in Gujarat zutrugen. Ein weiteres dieser Massaker – das nicht im Film vorkommt – ist die Massenvergewaltigung der 19jährigen Bilkis Bano und der Mord an 14 ihrer Familienangehörigen, einschließlich ihrer dreijährigen Tochter.
Im letzten August, am Unabhängigkeitstag, während Modi in seiner Rede an die Nation vom hohen Stellenwert der Frauenrechte sprach, begnadigte seine Regierung – und zwar genau am gleichen Tag – die Vergewaltiger und Mörder von Bilkis und ihrer Familie, die zuvor zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren. Die meiste Zeit ihrer Haftstrafe war bereits auf Bewährung ausgesetzt worden. Nun aber sind sie freie Männer. Sie wurden vor dem Gefängnis mit Girlanden begrüßt und sind nun angesehene Mitglieder der Gesellschaft, die bei öffentlichen Veranstaltungen gemeinsam mit BJP-Politikern auf der Bühne stehen. Der BBC-Film enthüllte einen internen Bericht im Auftrag des britischen Außenministeriums vom April 2022, der bis dahin nicht öffentlich bekannt war. Dieser Untersuchungsbericht schätzte, dass „mindestens 2000“ Menschen ermordet worden waren. Er bezeichnete das Massaker als vorab geplantes Pogrom, das „alle Kennzeichen einer ethnischen Säuberung“ aufweise. Vertrauenswürdige Kontakte hätten zudem ausgesagt, die Polizei sei angewiesen worden, sich herauszuhalten. Der Bericht weist die Schuld eindeutig Modi zu. Nach dem Pogrom in Gujarat verweigerten die USA diesem ein Visum. Modi gewann danach drei Mal hintereinander die Wahlen und blieb bis 2014 Gujarats Ministerpräsident. Als er im selben Jahr Premierminister wurde, hoben die USA die Visumssperre wieder auf.
Die Regierung Modi hat den Film der BBC verboten. Alle Social-Media-Plattformen haben sich an das Verbot gehalten und alle Links und Verweise auf den Film aus ihren Netzwerken entfernt. Binnen Wochen nach der Erstausstrahlung wurden die Büros der BBC in Indien von der Polizei umstellt, Steuerbeamte führten eine Razzia durch.
Die Geburtsstunde des Gujarat-Modells der »Entwicklung«
Der Hindenburg-Bericht wiederum wirft der Adani-Gruppe vor, an einem „dreisten Aktienmanipulations- und Buchhaltungsbetrugsprogramm“ beteiligt gewesen zu sein. Mittels Offshore-Strohfirmen seien die wichtigsten börsennotierten Unternehmen des Konzerns künstlich überbewertet und so das Nettovermögen von dessen Vorsitzenden aufgebläht worden. Dem Bericht zufolge wurden sieben von Adanis börsennotierten Unternehmen um mehr als 85 Prozent überbewertet. Modi und Adani kennen sich seit Jahrzehnten. Ihre Freundschaft festigte sich nach dem Pogrom in Gujarat 2002. Zu dieser Zeit stand der größte Teil Indiens, einschließlich der Geschäftswelt, nach dem Horror und der offenen Abschlachtung und Massenvergewaltigung von Muslimen durch einen rachesuchenden, Selbstjustiz praktizierenden Hindu-Mob unter Schock. Gautam Adani aber stützte Modi. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Industriellen in Gujarat gründete er eine neue Plattform von Geschäftsleuten. Diese griffen Modis Kritiker an und unterstützten ihn bei seiner neuen politischen Karriere als „Hindu Hriday Samrat“, als Kaiser der Hindu-Herzen. Dies war die Geburtsstunde des Gujarat-Modells der „Entwicklung“: ein gewalttätiger Hindunationalismus, finanziell unterstützt mit bedeutenden Summen aus der Unternehmenswelt. Nach drei Amtsperioden als Gujarats Ministerpräsident wurde Modi 2014 zum Premierminister Indiens gewählt. Zu seiner Amtseinführung in Delhi flog er in einem Privatjet, auf dessen Rumpf Adanis Name prangte. In den neun Jahren, in denen Modi im Amt ist, wurde Adani zu einem der reichsten Männer der Welt. Sein Vermögen stieg von acht auf 137 Mrd. US-Dollar. Allein im Jahr 2022 verdiente er 72 Mrd. US-Dollar und damit mehr als die zusammengerechneten Verdienste der nächsten neun Milliardäre weltweit. Die Adani-Gruppe kontrolliert ein Dutzend Häfen, die 30 Prozent des indischen Frachtverkehrs abwickeln, sieben Flughäfen, die 23 Prozent der indischen Flugpassagiere befördern, und Lagerhäuser, in denen 30 Prozent des indischen Getreides lagern. Sie besitzt und betreibt Kraftwerke, die die größten privaten Stromerzeuger des Landes sind.
Gautam Adani ist sicherlich einer der reichsten Menschen der Welt, aber wenn man den Auftritt der BJP bei Wahlen betrachtet, dann ist sie nicht nur Indiens reichste Partei, sondern vielleicht sogar die reichste Partei der Welt. 2016 führte die BJP das Konzept der Wahlanleihen ein, das Unternehmen erlaubte, politische Parteien anonym zu finanzieren. Damit wurde die BJP zur Partei mit dem mit Abstand größten Anteil an Unternehmensfinanzierung. Es sieht sehr danach aus, dass die Zwillingstürme Indiens ein gemeinsames Fundament haben. So wie Adani zu Modi stand, als dieser dies brauchte, so hält die Regierung Modi zu Adani. Sie verweigert die Antwort auf jede Frage zu Adani, die Mitglieder der Opposition im Parlament stellen, und geht so weit, deren diesbezügliche Reden aus dem Protokoll des Parlaments zu streichen.
Während die BJP und Adani ihre Vermögen anhäuften, berichtete die internationale Nichtregierungsorganisation Oxfam in einer äußerst kritischen Studie, dass die obersten zehn Prozent der indischen Bevölkerung 77 Prozent des nationalen Vermögens besitzen. 73 Prozent des im Jahr 2017 erwirtschafteten Vermögens fiel dem reichsten Prozent der Inder zu, während das Vermögen der 670 Millionen Inder, die die ärmste Hälfte der Bevölkerung ausmachen, nur um ein Prozent wuchs. Obwohl Indien als Wirtschaftsmacht mit einem großen Markt gilt, lebt der größte Teil seiner Bevölkerung in erdrückender Armut. Millionen leben von Lebensmittelrationen, die sie in Paketen erhalten, auf die das Gesicht von Modi gedruckt ist. Indien ist ein sehr reiches Land mit sehr armen Menschen, eine der am wenigsten gleichen Gesellschaften der Welt. Für ihre Arbeit wurde Oxfam India ebenfalls mit einer Razzia überzogen. Und Amnesty International und viele weitere Nichtregierungsorganisationen, die in Indien Ärger machen, wurden unter Druck gesetzt, ihre Arbeit einzustellen.
Der Rassismus des Westens
Nichts davon fällt für die politischen Anführer der westlichen Demokratien irgendwie ins Gewicht. Binnen weniger Tage nach den Hindenburg-BBC-Veröffentlichungen gaben Premierminister Modi, US-Präsident Joe Biden und der französische Staatschef Emmanuel Macron nach „warmherzigen und produktiven“ Sitzungen bekannt, dass Indien 470 Flugzeuge von Boeing und Airbus kaufen würde. Biden betonte, dadurch würden über eine Million amerikanische Arbeitsplätze geschaffen. Die Airbus-Flugzeuge werden mit Rolls Royce-Turbinen angetrieben. „Der boomende Luftfahrtsektor Großbritanniens kann nach den Sternen greifen“, sagte Premierminister Rishi Sunak. Im Juli reiste Modi zu einem Staatsbesuch in die USA und dann nach Frankreich, als Hauptgast am französischen Nationalfeiertag. Können Sie sich das überhaupt vorstellen? Macron und Biden hofierten ihn auf denkbar peinlichste Weise, in vollem Wissen, dass Modi dies in pures Wahlkampfgold ummünzen wird, wenn er 2024 für eine dritte Amtszeit antritt. Dabei mussten die westlichen Anführer doch alles über den Mann wissen, den sie da umarmt haben.
Sie mussten von Herrn Modis Rolle beim Pogrom in Gujarat wissen. Sie mussten von der ekelhaften Regelmäßigkeit wissen, mit der Muslime öffentlich gelyncht werden, und dass einige der Täter von einem Mitglied aus Modis Kabinett mit Girlanden empfangen worden sind, und auch von dem beschleunigten Prozess der Segregation und Ghettoisierung der Muslime. Sie mussten wissen, dass selbsternannte Hindu-Bürgerwehren hunderte Kirchen niedergebrannt haben. Sie mussten von der Verfolgung von Oppositionspolitikern, Studierenden, Menschenrechtsaktivisten, Anwälten und Journalisten wissen, von denen manche zu langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, von den Angriffen der Polizei und mutmaßlichen Hindunationalisten auf Universitäten, von der Umschreibung von Geschichtsbüchern, vom Verbot von Filmen, von der erzwungenen Schließung von Amnesty International Indien, von der Razzia im indischen Büro der BBC, von den Aktivisten, Journalisten und Regierungskritikern, die auf geheimen Flugverbotslisten gelandet sind, und vom Druck auf Wissenschaftler, indischen wie ausländischen. Sie mussten wissen, dass Indien nun Platz 161 von 180 Ländern auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt, dass viele der besten indischen Journalisten aus den Mainstream-Medien gejagt wurden und dass Journalisten schon bald einem Zensurregime ausgesetzt sein könnten, bei dem ein von der Regierung ernanntes Gremium die Macht innehaben wird, darüber zu entscheiden, ob Medienberichte und Kommentare zur Regierung Fälschungen sind oder irreführend. Und von dem neuen IT-Gesetz, das darauf ausgerichtet ist, Gegenstimmen in den sozialen Medien auszuschalten.
Sie mussten von den schwertschwingenden, gewalttätigen Hindu-Mobs wissen, die regelmäßig und offen zur Vernichtung von Muslimen und zur Vergewaltigung muslimischer Frauen aufrufen. Sie mussten von der Lage in Kaschmir wissen, wo ab 2019 eine monatelange Nachrichtensperre verhängt wurde – die am längsten andauernde Internetsperre in einer Demokratie – und wo Journalisten belästigt, verhaftet und verhört werden. Niemand im 21. Jahrhundert sollte so leben müssen, mit einem Stiefel an der Kehle. Sie mussten vom 2019 verabschiedeten Gesetz zur Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts wissen, das unverhüllt Muslime diskriminiert, von den Massenprotesten dagegen und davon, dass diese Proteste erst endeten, nachdem im darauffolgenden Jahr in Delhi Dutzende Muslime von Hindu-Mobs getötet wurden (was übrigens zufällig zu jenem Zeitpunkt geschah, als der damalige US-Präsident Donald Trump zum Staatsbesuch in der Stadt war, worüber dieser aber kein Wort verlor). Sie mussten davon wissen, dass die Polizei in Delhi schwerverletzte junge muslimische Männer, die auf den Straßen lagen, mit Stößen und Tritten dazu zwang, die indische Nationalhymne zu singen. Einer von ihnen starb daraufhin. Sie mussten wissen, dass zur gleichen Zeit, als sie Modi feierten, Muslime aus einer Kleinstadt in Uttarakhand in Nordindien flohen, nachdem mit der BJP verbundene Hinduextremisten ihre Türen mit einem X markiert und sie zum Weggehen aufgefordert hatten. Es wird offen über ein „muslimfreies“ Uttarakhand gesprochen. Sie mussten wissen, dass der Staat Manipur im indischen Nordosten unter den Augen von Modi in einem barbarischen Bürgerkrieg versunken ist. Dort findet eine Art ethnische Säuberung statt. Die Zentralregierung ist beteiligt, die Regierung des Bundesstaats parteiisch, und die Sicherheitsbehörden sind zwischen Polizei und anderen Kräften gespalten, ohne dass es eine Befehlskette gäbe. Das Internet ist abgeschaltet. Nachrichten brauchen Wochen, um herauszukommen.
Dennoch entschieden die Mächtigen der Welt, Modi allen Sauerstoff zu geben, den er braucht, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Indien zu zerstören und das Land niederzubrennen. Für mich ist das eine Form von Rassismus. Sie behaupten, Demokraten zu sein, aber sie sind Rassisten. Sie glauben nicht, dass die Werte, zu denen sie sich bekennen, auch für nicht weiße Länder gelten sollen. Dies ist selbstverständlich eine alte Geschichte.
Am Ende werden wir unser Land zurückgewinnen
Es spielt keine Rolle. Wir werden unsere Schlachten selbst schlagen – und am Ende werden wir unser Land zurückgewinnen. Jedoch müssen sie tatsächlich an Wahnvorstellungen leiden, wenn sie glauben, dass der Zerfall der indischen Demokratie keine Auswirkungen auf die ganze Welt haben wird.
Für alle, die glauben, dass Indien immer noch eine Demokratie ist – hier sind einige der Ereignisse nur der letzten paar Monate. Dies meine ich, wenn ich sage, dass wir uns in einer anderen Phase befinden. Die Zeit der Warnungen ist vorbei, und wir müssen einen Teil der Bevölkerung so sehr fürchten wie unsere politischen Anführer: In Manipur, wo ein Bürgerkrieg wütet, übergab die vollständig parteiische Polizei zwei Frauen an einen Mob, der sie nackt durch ein Dorf trieb und dann einer Gruppenvergewaltigung aussetzte. Eine von ihnen musste ansehen, wie ihr jüngerer Bruder vor ihren Augen ermordet wurde. Frauen, die der gleichen Gemeinschaft angehören wie die Vergewaltiger, schauten zu und stachelten ihre Männer sogar zur Vergewaltigung an. In Maharashtra ging ein Beamter der Eisenbahnpolizei durch die Gänge eines Zuges und erschoss muslimische Reisende, wobei er die Mitreisenden zur Wahl von Modi aufforderte.
Ein äußerst beliebter selbsternannter Hindu-Ordnungshüter, der oft dabei fotografiert wird, wie er mit Spitzenpolitikern und Polizisten verkehrt, forderte Hindus zu einer religiösen Prozession durch eine dicht besiedelte, mehrheitlich von Muslimen bewohnte Siedlung auf. Er befand sich auf freiem Fuß, obwohl er der Hauptverdächtige in einem Mordfall an zwei jungen Muslimen ist, die im Februar an ein Fahrzeug gebunden und lebendig verbrannt worden sind. Die betroffene Ortschaft Nuh grenzt an Gurgaon, wo wichtige internationale Unternehmen ihre Büros haben. Die Hindus kamen mit Maschinengewehren und Schwertern zu der Prozession. Die Muslime verteidigten sich. Erwartungsgemäß endete der Marsch in Gewalt. Sechs Menschen wurden getötet. Ein 19jähriger Imam wurde in seinem Bett abgeschlachtet, seine Moschee wurde ausgeraubt und abgebrannt. Die Antwort des Staates war es, die Siedlungen der ärmsten Muslime mit Bulldozern zu zerstören und Hunderte Familien zu zwingen, um ihr Leben zu laufen. Über all dies verliert der Premierminister kein Wort. Es ist Wahlkampf. Im nächsten Mai findet die Parlamentswahl statt. Alles ist Teil der Wahlkampagne. Wir sind auf mehr Blutvergießen gefasst, auf Massentötungen, auf fingierte Angriffe, Scheinkriege und auf alles, was eine bereits polarisierte Bevölkerung noch weiter polarisiert.
Ich habe mir jüngst ein schreckliches Kurzvideo angeschaut, das in einem Klassenzimmer einer kleinen Schule aufgenommen wurde. Die Lehrerin verdonnert darin ein muslimisches Kind, sich an ihren Tisch zu stellen, und fordert den Rest der Schüler, allesamt Hindujungen, auf, nacheinander nach vorne zu kommen und ihn zu schlagen. Sie ermahnt diejenigen, die ihn nicht hart genug geschlagen haben. Die bislang erfolgte Reaktion auf das Ereignis besteht darin, dass die Hindus des Dorfes und die Polizei Druck auf die muslimische Familie ausübten, keine Anzeige zu erstatten. Zudem wurde das Schulgeld des muslimischen Jungen erstattet, und er hat die Schule verlassen.
Was in Indien geschieht, hat nichts mit einer lockeren Variante des Internetfaschismus zu tun. Es ist ernst. Wir sind zu Nazis geworden. Nicht nur unsere Anführer, nicht nur unsere Fernsehkanäle und Zeitungen, sondern auch weite Teile der Gesellschaft. Eine große Zahl von Menschen der indischen Hindubevölkerung in den USA, Europa und Südafrika unterstützt die Faschisten politisch und auch materiell. Um unser Seelenheil willen und das unserer Kinder und Enkel müssen wir uns erheben. Es kommt nicht darauf an, ob wir Erfolg haben oder scheitern. Diese Verantwortung liegt nicht nur bei uns in Indien. Schon bald, wenn Modi 2024 gewinnt, werden alle Wege des Widerspruchs verschlossen sein. Niemand unter Ihnen in diesem Saal darf vorgeben, nicht gewusst zu haben, was vor sich ging.
Mit Ihrer Erlaubnis werde ich damit enden, Ihnen eine Passage aus meinem ersten Essay, „The End of Imagination“, vorzulesen. Es handelt sich um eine Unterhaltung mit einer Freundin über das Scheitern – und um mein persönliches Manifest als Autorin.
»Wir müssen uns erheben«
„Ich sagte, ihre Betrachtungsweise sei jedenfalls rein äußerlich, diese Annahme, dass die Kurve des Glücks einer Person – oder sagen wir, die ihrer Erfüllung – einen Höhepunkt gehabt hätte (und jetzt absetzen musste), weil der Mensch zufällig auf ‚Erfolg‘ gestoßen war. Sie beruhte auf der phantasielosen Überzeugung, dass Reichtum und Ruhm der obligatorische Stoff für jedermanns Träume seien. Du lebst schon zu lange in New York, erklärte ich ihr. Es gibt noch andere Welten. Andere Arten von Träumen. Träume, in denen ein Scheitern denkbar ist. Ehrenvoll. Manchmal sogar erstrebenswert. Welten, in denen Anerkennung nicht das einzige Barometer für Brillanz oder menschlichen Wert ist. Es gibt viele Kämpfer, die ich kenne und liebe, Menschen, die weit wertvoller sind als ich, die jeden Tag in den Krieg ziehen und im Voraus wissen, dass sie scheitern werden. Sicher, sie sind weniger ‚erfolgreich‘ im vulgärsten Sinne des Wortes, aber keineswegs weniger erfüllt. Der einzige Traum, der sich lohnt, erklärte ich ihr, ist der Traum, dass man lebt, solange man am Leben ist, und erst dann stirbt, wenn man tot ist. (Eine Vorahnung? Vielleicht.) ‚Und was bedeutet das genau?‘ (Hochgezogene Augenbrauen, ein wenig verärgert.) Ich versuchte es ihr zu erklären, aber ich kam damit nicht sehr gut zurecht. Manchmal muss ich schreiben, um zu denken. So schrieb ich es ihr auf eine Papierserviette auf. Ich schrieb folgendes: ‚Lieben. Geliebt werden. Nie die eigene Bedeutungslosigkeit vergessen. Sich nie an die unaussprechliche Gewalt und an die vulgäre Ungleichheit des Lebens, die einen umgeben, gewöhnen. An den traurigsten Orten nach Freude suchen. Schönheit bis in ihre Höhle verfolgen. Niemals vereinfachen, was kompliziert ist, oder komplizieren, was einfach ist. Stärke respektieren, Macht niemals. Vor allem auf der Hut zu sein. Zu verstehen versuchen. Niemals wegschauen. Und nie, nie vergessen.‘“[2]
Lassen Sie mich Ihnen noch einmal für die Ehre dieses Preises danken. Ich liebe den Teil der Preisverleihungsbegründung, der lautet: „Arundhati Roy nutzt den Essay als eine Form des Kampfes.“ Es wäre anmaßend, arrogant und sogar ein wenig dumm, wenn eine Autorin glauben würde, sie könne die Welt mit ihren Schriften ändern. Aber es wäre erbärmlich, wenn sie es nicht wenigstens versuchen würde. Bevor ich ende, möchte ich noch dies sagen: Dieser Preis ist mit einer Menge Geld verbunden. Es wird nicht bei mir bleiben. Es wird mit den sehr vielen unvorstellbar mutigen Aktivisten, Journalisten, Anwälten, Filmemachern geteilt werden, die diesem Regime weiterhin fast ohne Ressourcen entgegentreten. Wie entsetzlich die Situation auch ist, seien Sie bitte versichert, dass es eine enorme Gegenwehr gibt. Vielen Dank.
Dankesrede der Autorin anlässlich der Verleihung des europäischen Essay-Preises 2023 durch die Charles-Veillon-Stiftung am 12. September 2023. Die Übersetzung stammt von Thomas Greven.
[1] Zit. nach: Arundhati Roy, Die Sprache der Literatur, in: dies., Azadi heißt Freiheit. Essays. Übersetzt von Jan Wilm, Frankfurt a. M. 2021, S. 78-95, hier: S. 82-84. Übersetzt von Martin Pfeiffer.
[2] Zit. nach: Arundhati Roy, Das Ende der Phantasie. Die indische Bombe und die Gefahr des Faschismus, in: „Lettre“, Herbst 1998, S. 72-77, hier: S. 74. Übersetzt von Martin Pfeiffer.