Ausgabe Oktober 2023

Gleichheit und Ressentiment

Cynthia Fleury, Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung, Suhrkamp Verlag

Bild: Cynthia Fleury, Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung, Suhrkamp Verlag

Was haben die Mutter, das Bittere und das Meer gemeinsam? Im Deutschen nicht viel, im Französischen schon: „la mère“, die Mutter, „l’amer“, das Bittere, und „la mer“, das Meer. Für Cynthia Fleury ist das nicht nur ein Wortspiel, sondern es beschreibt nichts weniger als das Drama des menschlichen Daseins. Mit der Geburt erlebt das Kind die Trennung von der symbiotischen Einheit mit seiner Mutter: eine bittere Erfahrung, die durch nichts wieder rückgängig zu machen und damit kaum zu ertragen ist. Wäre da nicht das Meer, Sinnbild für Weite und Offenheit, die es dem Menschen ermöglicht, sich selbst zu entwerfen. Individuation durch Sublimierung, also künstlerisch-schöpferische Umwandlung der eigenen Triebenergie lautet das Ideal, das das ganze Buch von Cynthia Fleury durchzieht: „Die Sublimierung ist die Fähigkeit, mit den Trieben etwas anderes zu machen als eine regressive Triebbefriedigung, sie auf ein Jenseits von sich selbst auszurichten, die kreative Energie, die sie durchströmt, sinnvoll zu nutzen.“

Diese psychoanalytische Sprache in „Hier liegt Bitterkeit begraben“ ist manchmal schwer zu verstehen – und zu ertragen –, aber es lohnt, das Buch nicht zur Seite zu legen. Denn Fleurys scharfsinnige Überlegungen bieten tiefe Einblicke in das Wesen und die Gefahr von Verbitterung und Ressentiments.

»Blätter«-Ausgabe 10/2023

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In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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