
Bild: Symbolbild: Wir scheinen uns in einer Dauerkrise zu befinden. Was kann die Sozialdemokratie dem entgegensetzen? (IMAGO / Zoonar)
Die einzige Konstante unserer Gegenwart scheint die permanente Krise zu sein: Erderhitzung, Corona, steigende Lebenshaltungskosten, Kriege. Wir spüren die Folgen einer durch neoliberale Umgestaltung, Deregulierung und Privatisierung immer krisenanfälligeren Wirtschaftsweise. Ihre Integrationskraft schwindet für immer größere Teile der Gesellschaft, sie befeuert die soziale Ungleichheit, befördert den politischen Vertrauensverlust und untergräbt die natürlichen Lebensgrundlagen. Die multiplen Krisen unserer Zeit stellen uns vor neue Herausforderungen: Sie verlangen es erstens, dass die Politik die Krisen als solche zur Kenntnis nimmt, ihre Zusammenhänge versteht und sich dafür zuständig fühlt. Zweitens geht es darum, eine wünschenswerte Zukunft für die Gesellschaft zu entwerfen, und drittens, dazu konkrete Vorschläge vorzulegen und umzusetzen.
Den Übergang der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in eine dauerhafte Unordnung hatte Wolfgang Streeck schon vor knapp zehn Jahren befürchtet. Mit der Aufkündigung des „demokratischen Kapitalismus“ der Nachkriegszeit hätten die Kapitalbesitzenden ihre Verteilungs- und Machtposition so weit gestärkt, dass sie sich gegen jeden demokratischen Zugriff immunisieren könnten. Gleichzeitig sah er die Integrationskraft und politische Durchsetzungsfähigkeit des Neoliberalismus schwinden – jedoch ohne dass die Organisationen der arbeitenden Menschen die notwendige Stärke hätten, den lähmenden Zustand der Dauerkrise zu überwinden.[1]
Vor diesem Hintergrund erscheinen die vergangenen 20 Jahre als Aneinanderreihung von Finanzmarkt- und Bankenkrisen, Konsolidierungsschocks, einer beispiellosen globalen Gesundheitskrise und geopolitischen Erschütterungen. Die Inflationskrise, die durch die Übergewinne von Banken und Energiekonzernen noch weiter verschärft wurde, bedroht den Wohlstand in Österreich und weiten Teilen Europas. All das wird von einer Klimakrise überschattet, in deren Folge unumkehrbare Kipppunkte erreicht zu werden drohen. Doch die Politik reagiert immer nur auf die Krisen und deren Folgen, sie beschränkt sich darauf, unkoordiniert Feuer zu löschen – Hans-Jürgen Urban nennt es „Not-Pragmatismus“. Das müssen wir beenden. Stattdessen brauchen wir endlich eine bewusste, demokratische Gestaltung unserer Zukunft. Es ist die Aufgabe der Sozialdemokratie, aus der Defensive zu kommen und zu einer Kraft zu werden, die Colin Crouch einmal als „durchsetzungsfähige Sozialdemokratie“[2] bezeichnet hat – eine Sozialdemokratie, die sich vor nichts und niemandem fürchtet.
Die Krise unserer Demokratie besteht im Kern im Ausschluss immer weiterer Teile der arbeitenden Klassen aus der politischen Debatte.[3] Weiter verstärkt wird dies durch eine von Rechtsextremen und auf ihren Spuren wandelnden konservativen Parteien betriebene Politik der Spaltung, der Hetze und der Angst. Das trägt dazu bei, die Hoffnung auf eine positive Gestaltbarkeit einer gemeinsamen Zukunft zu untergraben. Demokratische Politik ist aber dadurch geprägt, alle Schichten und Klassen in den politischen Diskurs einzubeziehen und Politik als Mittel zur Gestaltung der eigenen Lebensumstände erlebbar zu machen.
Und es sind gerade die arbeitenden Menschen, die in den vergangenen Monaten ihre Gestaltungsfähigkeit eindrucksvoll demonstriert haben: Während Österreichs schwarz-grüne Regierung die Teuerungswelle ohne nachhaltig wirksame Gegenmaßnahmen durchs Land rauschen ließ, haben die Gewerkschaften die Kaufkraft der Beschäftigten gegenüber den zum Teil sehr aggressiv auftretenden Arbeitgeberverbänden gesichert. In zwei für Österreich ungewohnt konfrontativen Lohnrunden setzten sie trotz Rekordinflation Abschlüsse über der Teuerungsrate durch. Es ist die Aufgabe der Sozialdemokratie, die Stimme der arbeitenden Menschen – der Pflegekraft, der Supermarktkassiererin, des Schichtarbeiters genauso wie der kleinen Gewerbetreibenden – wieder ins Zentrum der politischen Debatte zu rücken.
Es liegt in der Natur der Sache, dass ich für diesen politischen Ansatz von Wirtschaftsvertreter:innen und Medien viel Kritik erfahre. Forderungen, die der Mehrheit der Bevölkerung zugutekommen würden, werden gerne als „unrealistisch“ abgetan. Die Finanzierbarkeit jeder noch so kleinen Verbesserung für arbeitende Menschen und ihre Familien wird in Abrede gestellt. Hingegen werden Wirtschaftsförderpakete und Steuersenkungen für Großkonzerne in zweistelliger Milliardenhöhe ohne große Diskussion beschlossen. Gleichzeitig wird die auf der Hand liegende und von der Sozialdemokratie konkret ausgearbeitete Finanzierungsalternative – die stärkere Beteiligung der rasant wachsenden Millionenvermögen an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben – heftig bekämpft. Der Furor der veröffentlichten Meinung gegen Millionärssteuern ist Ausdruck einer durch Überreichtum verzerrten Debatte. Dabei ist die wachsende Ungleichheit unserer Gesellschaft nicht nur ein demokratiepolitisches Problem, sondern sie gefährdet auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aus Studien wissen wir schon lange: Wo die Ungleichheit groß ist, sind die Menschen physisch wie psychisch ungesünder, sie leben kürzer und die Kriminalität ist höher.[4]
Häufig wird (bewusst) missverstanden, dass die von der Sozialdemokratie aufgezeigten politischen Alternativen keinem abstrakten Ideal folgen, sondern der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung entspringen. Sie sind ein hoch realistischer Lösungsweg für die drängenden Probleme unserer Zeit. So ist ein offensiv von der öffentlichen Hand gestalteter sozial-ökologischer Umbau unserer Wirtschaft nicht nur erforderlich, um die profitgetriebene Erderhitzung zu stoppen, sondern auch die Grundvoraussetzung für den Erhalt unserer Industrien und die Schaffung gut bezahlter und sicherer Arbeitsplätze. Eingriffe in den die Inflation treibenden Wohnungsmarkt wiederum sind die Grundlage für eine Stabilisierung wachsender Lohnkosten und den Erhalt der Konsumnachfrage. Bessere Arbeitsbedingungen und eine schrittweise Arbeitszeitverkürzung sind gerade in besonders schweren Berufen wie der Pflege eine Notwendigkeit, um die Arbeitskräfteknappheit zu lösen. Die Beseitigung von Kinderarmut, gute Kinderbetreuung und ein inklusives Schulsystem folgen nicht nur dem moralischen Imperativ, allen Kindern gleiche Chancen zu geben, sondern sie sind – ebenso wie die Beseitigung der Lohnschere zwischen Männern und Frauen – auch unverzichtbar, um die demographische Wende am Arbeitsmarkt zu bewältigen. Und in der Mi-
grationspolitik mit einer humanistischen Grundhaltung staatliche Ordnungsaufgaben wahrzunehmen, statt Angst und Spaltung zu produzieren, ist das Gebot der Stunde, um Sicherheit zu geben und Gerechtigkeit zu schaffen.
Für einen Infrastrukturstaat
Um zukunftsfähige Politik zu gestalten, braucht es belastbare öffentliche Kapazitäten und Instrumente. Es zählt zur DNA der Sozialdemokratie, den Staat nicht in Gegensatz zum Markt zu stellen, so als ob Märkte ohne einen regulierenden und intervenierenden Staat quasi von alleine existieren würden. Die marktfundamentale Ideologie möchte mit ihrer Staatskritik all jene Vorschläge abtun, die sich nicht dem Primat der Mächtigen in Konzernen und auf den Finanzmärkten unterwerfen. Gleichzeitig ist der heftig beklagte Verlust an industrieller Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber den USA und China auch Ausdruck fehlender demokratisch gesteuerter Infrastruktur- und Industriepolitik. Die Auswirkungen der durch Privatisierungen und Vermarktlichung ausgehöhlten öffentlichen Dienstleistungen zeigen sich in vielen Bereichen, vor allem in der Gesundheitsversorgung, der Pflege[5] oder der Mobilität. Eines ist klar: Sektoren, die direkt für die Lebensgrundlagen zuständig sind, tragen umso mehr zum gesellschaftlichen Wohlstand bei, je weniger sie nach der Profitlogik funktionieren.[6] Kurz: Wir brauchen einen Infrastrukturstaat, der die allgemeinen Lebensgrundlagen sicherstellt.
Das gilt auch mit Blick auf die Erderhitzung. Denn das Nebeneinander von Problemleugnung und moralischer Belehrung wird der Dringlichkeit des Problems schon lange in keiner Weise mehr gerecht. Die Klimakrise ist bereits jetzt eine zutiefst soziale Frage und die Art, wie sie bearbeitet wird, verstärkt das noch. Rechtsextreme und konservative Parteien wie die ÖVP versuchen fossilen Populismus zum Teil eines Kulturkampfes zu machen, im Zuge dessen in ähnlicher Ernsthaftigkeit der Kampf gegen das Gendern und eine skurrile „Leitkulturdebatte“ geführt werden. Gleichzeitig dominieren noch immer Vorschläge die klimapolitische Debatte, die vor allem auf individuelle Verhaltenssteuerung setzen.
Tatsächlich braucht es aber nachhaltige Strukturveränderungen durch aktive Steuerung und strategische Eingriffe. Aus diesem Grund fordert die SPÖ einen Österreich-Transformationsfonds in Höhe von 20 Mrd. Euro oder vier Prozent der Wirtschaftsleistung. Er soll den ökologischen Umbau der Wirtschaft, den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Förderung von Zukunftstechnologien anstoßen. Dazu soll die Österreichische Beteiligungs AG (ÖBAG), die die Anteile der Republik Österreich an börsennotierten Unternehmen verwaltet, zu einer staatlichen Beteiligungs- und Energiewendeholding ausgebaut werden, in der Klima- und Transformationsförderungen unter einem Dach organisiert werden. Ein solcher Fonds soll etwa durch die Zweckwidmung der jährlichen Einnahmen aus Dividendenerlösen der öffentlichen Hand und durch langfristige Mittel der Österreichischen Bundesfinanzierungsagentur (ÖBFA) finanziert werden. Mit diesen Geldern kann sich der Staat direkt an Firmen beteiligen und an künftigen Gewinnen teilhaben; die Einnahmen und Erträge fließen in den Fonds zurück und sollen reinvestiert werden.[7] Dieses Instrument soll es ermöglichen, der Transformation Leitlinien zu geben. Diese müssen darin bestehen, krisenhafte Bedingungen unserer Lebensweise zu reduzieren und öffentliche Infrastruktur zu schaffen, sozusagen eine „solidarische Resilienz“[8] zu entwickeln.
Die Transformation muss dabei auch die Sozialpartner:innen einbinden. So sollte die Stärke Österreichs auf dem Eisenbahnsektor in zweierlei Hinsicht ausgebaut werden: Erstens gilt es, mit der gezielten Stärkung der in Österreich bereits vorhandenen Bahnindustrie die sozial-ökologische Transformation der Industrie voranzutreiben. Und zweitens schaffen wir mit dem Anschluss jeder Bezirkshauptstadt an ein höherrangiges Eisenbahnnetz oder eine Schnellbuslinie und dem Ausbau eines öffentlichen Mikro-Nahverkehrs – im Sinne einer starken Alltagsökonomie – Bedingungen für eine ökologische Mobilitätswende, für regionale Wertschöpfung und grüne Arbeitsplätze.
Gerade im Bereich der Alltagsökonomie sind unsere Vorschläge vielfach keine neuen Erfindungen, sondern knüpfen bewusst in modernisierter Form an stolze Traditionen und Stärken Österreichs an: Der relative Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten in unserem Land etwa basierte lange Jahre auch auf einem europaweit beispielhaften Modell der Wohnraumversorgung: Ein starker öffentlicher Wohnungssektor, ergänzt um einen preisregulierten privaten Wohnungsmarkt, sorgte jahrzehntelang für maßvolle Wohnkosten und qualitativen Wohnraum für die Menschen. Dieses Modell wird jedoch seit Jahren ausgehöhlt: Österreichs Überinflation resultierte maßgeblich auch aus fehlenden Preisregulierungen am Wohnungsmarkt. Gleichzeitig fehlen der öffentlichen Wohnbauförderung dringend benötigte Mittel, um den Wohnbausektor mit Sanierung und sozialem Wohnungsbau in den Dienst des sozial-ökologischen Wandels zu stellen – und den maßlosen Bodenverbrauch zu stoppen. In diesem Sinne sollte auf die verstärkte Sanierung von Stadt- und Ortskernen gesetzt werden sowie auf eine neuerliche Ausdehnung des sozialen Wohnungsbaus, wie Wien es seit Jahrzehnten vorlebt und wodurch Österreichs Hauptstadt zu einer der lebenswertesten Städte der Welt geworden ist.
Eine gesunde Vollzeit von 32 Stunden
Auch in der Arbeitswelt schaffen neue Rechte die Grundlage zur Lösung bestehender Probleme, wozu es immer auch ein Bewusstsein für Arbeitsbedingungen braucht.[9] Unser Modell einer Arbeitszeitverkürzung sieht daher eine schrittweise Senkung auf 32 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich vor. Den Anfang sollen besonders belastende Berufe machen, etwa im Gesundheits- und Pflegebereich, wobei in Abstimmung mit den Sozialpartner:innen auf Besonderheiten in Branchen Rücksicht zu nehmen ist. Diese Arbeitszeitverkürzung zielt auf eine neue gesunde Vollzeit mit mehr Erholungsphasen und mehr Lebensqualität ab – und ist notwendig, um wichtige Bereiche der Alltagsökonomie überhaupt aufrechterhalten zu können. Österreichs Vollzeitbeschäftigte arbeiten heute deutlich länger als der europäische Durchschnitt.
Wenn Konzernlobbyisten das unter rechnerischer Einbeziehung der Teilzeitbeschäftigten zu relativieren versuchen, dann ist das gerade im Gesundheits- und Sozialbereich ein Ausdruck der beschriebenen Probleme: Arbeitsbedingungen werden als derart belastend empfunden, dass immer mehr Menschen den Beruf verlassen oder ihre Arbeitszeiten individuell durch Teilzeitbeschäftigung verkürzen, um der Belastung standhalten zu können. Das verschärft den Arbeitsdruck noch weiter, die Berufe werden immer unattraktiver. Bessere Arbeitsbedingungen sind daher auch eine Antwort auf den demographisch bedingt steigenden Arbeitskräftebedarf und die Herausforderungen der Digitalisierung.
In den vergangenen Monaten wurden teilzeitbeschäftigte Frauen in Österreich immer wieder zur Zielscheibe konzernfreundlicher Polemiken, die ihnen – obwohl sie nach wie vor die Hauptlast unbezahlter Pflege- und Erziehungsarbeit tragen –, in zynischer Weise fehlende Arbeitsbereitschaft unterstellten. Das ging sogar so weit, dass Bundeskanzler Karl Nehammer ihnen bei einer Veranstaltung seiner konservativen ÖVP ausrichtete, wenn sie arm seien, sollten sie doch länger arbeiten – und wenn ihre Kinder eine warme Mahlzeit brauchen, so sollten sie doch bei McDonald’s Burger essen. Was Nehammer und andere übersehen: Eine neue, gesunde Vollzeit ist nicht nur ein Instrument für höhere Erwerbseinkommen von Frauen, sondern birgt in Kombination mit dem Ausbau kindgerechter Betreuungs- und altersgerechter Pflegedienstleistungen auch enorme Arbeitskräftepotenziale.
Das gilt auch für unseren Vorschlag einer Beschäftigungsgarantie für Langzeitarbeitslose: Statt weiterhin Arbeitslosigkeit zu finanzieren, wollen wir Menschen ihre Würde wiedergeben und allen Langzeitarbeitslosen kollektivvertraglich entlohnte Jobangebote unterbreiten. Zehntausende Menschen könnten so in den Arbeitsmarkt reintegriert werden, während gleichzeitig gemeinnützige Strukturen gestärkt würden. Auch hier gehen soziale Verantwortung und wirtschaftliche Vernunft Hand in Hand.
Das gilt auch mit Blick auf Ungleichheiten. Denn dabei geht es neben dem wachsenden Überreichtum noch um viele weitere Dimensionen. Dazu zählt etwa die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern, was sich auch bei den Pensionen niederschlägt: Frauen erhalten für gleichwertige Arbeit im Schnitt um ein Fünftel weniger Einkommen. In vielen Unternehmen bleibt diese Ungerechtigkeit jedoch verborgen. Um die Einkommen von Frauen an die der Männer anzugleichen, bedarf es besserer Arbeitsbedingungen in weiblich dominierten Branchen wie den Gesundheitsberufen oder der Elementarpädagogik und mehr Lohntransparenz. Auch der Ausbau von Pflege- und Betreuungseinrichtungen, ein neues Modell der Familienarbeitszeit und eine neue gesunde Vollzeit sind Mittel, unbezahlte Sorgearbeit und bezahlte Erwerbsarbeit gerechter zwischen Männern und Frauen aufzuteilen.
Von Ungleichheit sind auch Kinder betroffen. So sind in Österreich 23 Prozent der Kinder von Armut oder Ausgrenzung bedroht. Das ist ein unerträglicher Skandal. Daher benötigen wir eine kindbezogene öffentliche Infrastruktur, etwa durch kostenlose, flächendeckende und qualitativ hochwertige Bildungseinrichtungen ab dem Kindergarten mit gesundem Essen. Zusätzlich tritt die SPÖ auch für eine Kindergrundsicherung in bedarfsorientierter Höhe ein, die allen Kindern zugutekommt und ihnen nicht nur eine formale, sondern reale gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.
Um all diese drängenden Fragen nicht diskutieren zu müssen, rücken rechte Parteien gerne jene Probleme in den Mittelpunkt, die sie durch ihre (Un-)Tätigkeit erst in ihrer aktuellen Dimension haben entstehen lassen: Seit einem Vierteljahrhundert trägt die ÖVP in der Regierung die Verantwortung für Asyl- und Fremdenrecht und Integration, zwei Jahre lang überantwortete sie dem jetzigen FPÖ-Chef Herbert Kickl das Innenministerium. Seit einem Vierteljahrhundert ist die ÖVP nicht in der Lage, ankommende Menschen regional vernünftig aufzuteilen, unterzubringen und für jene mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit eine rasche Integration in den Arbeitsmarkt zu organisieren. Statt Menschen, die schon im Land sind, ihren Lebensunterhalt in gewerkschaftlich geschützten Berufen selbst verdienen zu lassen, schließt sie jedes zweite Jahr ebenso PR-trächtige wie wirkungslose Abkommen mit Ländern wie Indien und Indonesien, um Fachkräfte anzuwerben, und schiebt zeitgleich bestens integrierte Familien ab. Es ist höchste Zeit, Probleme zu lösen, statt Eskalation zuzulassen und diese dann populistisch zu verwerten. Keine Miete wird niedriger und das Gesundheitssystem nicht besser, wenn man schutzsuchende Menschen zum Feindbild erklärt. Dabei gilt auch, dass Lösungen bei Asyl, Migration und Integration eines funktionstüchtigen Staatsapparats und starker sozialstaatlicher Strukturen bedürfen, nicht deren Unterminierung. Sozialdemokrat:innen werden es nicht zulassen, dass Grundrechte und sozialstaatliche Leistungen für alle eingeschränkt werden, um strukturelle Politikmängel zu übertünchen.
Ein Europa der sozialen Rechte
Gerade mit Blick auf die Ergebnisse der Europawahl zeigt sich zudem erneut, wie wichtig es ist, die europäische Dimension der aufgezeigten Probleme und das Ringen um eine zukunftsfähige Politik gegen den Aufstieg rechter Kräfte auf dem Kontinent zu betonen. Rechte Politik beutet die verbreitete Wahrnehmung der EU als bloßer Wirtschafts- und Währungsunion aus, die jene wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse festschreibt, in denen die Lebensrealität vieler Menschen kaum Beachtung findet. Hierfür gibt es reale Grundlagen: Während viel Aufmerksamkeit und Ressourcen aufgewandt wurden, um die Banken- und Eurokrise zu lösen, fallen soziale Probleme und steigende Lebenshaltungskosten oft unter den Tisch. Ein Gegenmodell zu rechter Politik kann sich daher nicht darin erschöpfen, die EU als Binnenmarkt und Friedensprojekt zu verteidigen oder die europäische Zusammenarbeit in ihrer gegenwärtigen Form abstrakt zu loben. Vielmehr muss es darin bestehen, den Umbau der EU zu einer Union der sozialen Gerechtigkeit, der sozialen Mindeststandards, der Rechte der Beschäftigten und des guten Lebens zu forcieren.
Bei allen Unterschieden zwischen den Ländern ist eine Besonderheit des europäischen Kontinents das Modell des Sozial- und Wohlfahrtsstaats. Doch diese Besonderheit ist durch eine immer noch unentwickelte soziale Säule der EU bislang nicht ausreichend abgesichert. Im Gegenteil: Sie erodiert auch noch durch die Verankerung von Kapitalinteressen als Grundfreiheiten. Eine Union, die ein gutes Leben für alle in ihren rechtlichen und institutionellen Grundlagen festschreibt, ist ein attraktives Projekt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Instrumente dafür sind soziale Grundrechte, steuerliche und soziale Mindeststandards, aber auch die Ergänzung der EU-Verträge nach den Maßstäben des sozialen Fortschrittsprotokolls.
Es geht um eine Richtungsentscheidung: In Österreich droht eine Regierung aus FPÖ und ÖVP, die nur die Sozialdemokratie verhindern kann. Einer rechten Politik der Spaltung und der Zukunftsvergessenheit müssen wir eine solidarische Alternative gegenüberstellen: eine Politik grundlegender sozialökologischer und demokratischer Reformen, die Lösungen für die multiplen Krisen unserer Zeit miteinander verbindet. Es gibt eine politische Alternative zur Dauerkrise – machen wir sie sichtbar.
Der Autor ist Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Österreichs.
[1] Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013; Ders., Wie wird der Kapitalismus enden?, in: „Blätter“, 3/2015, S. 99-111.
[2] Colin Crouch, Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit, Wien 2013.
[3] Demokratie in stürmischen Zeiten. Erste Ergebnisse Demokratie Monitor 2023, demokratiemonitor.at, 28.11.2023.
[4] Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014 sowie Kate Picket und Richard Wilkinson, Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2010.
[5] Emma Dowling, The Care Crisis. What Caused It and How Can We End It?, London 2021.
[6] Foundational Economy Collective, Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Berlin 2019.
[7] Marina Mazzucato, Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum, Frankfurt a. M. 2015.
[8] Ulrich Brand und Markus Wissen, Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven, München 2024.
[9] Barbara Prainsack, Wofür wir arbeiten, Wien 2023.