
Bild: Ein Mann steht vor bemalten Wahlplakaten des Rassemblement National, Paris, 30.6.2024 (IMAGO / NurPhoto / Artur Widak)
Das Schlimmste ist Frankreich und Europa erspart geblieben – zumindest vorerst. Statt wie allgemein erwartet seinen Wahlsieg feiern zu können, musste sich der Rassemblement National (RN) am Abend des 7. Juli mit dem dritten Platz bescheiden. Das verdankt sich einmal mehr einer enormen Mobilisierung der demokratischen Kräfte: Über 200 linke und liberale Kandidaten verzichteten auf ihren erneuten Antritt in der Stichwahl, um den „politischen Gegner“ gegen den „Feind der Republik“ zu unterstützen. So hatte es treffend Albane Branlant, die Sprecherin der Macron-Jugend, formuliert,[1] als sie zugunsten des Linkspopulisten François Ruffin zurückzog, und so hielten es auch viele andere. An der Wahlurne stimmten Gewerkschafter für Neoliberale und Konservative für Linke. Auch die Wahlbeteiligung war mit 66,6 Prozent überdurchschnittlich hoch – Ausdruck eines enormen gesellschaftlichen Engagements gegen rechts, getragen von Basisaktivistinnen und globalen Fußballstars, von säkularen Intellektuellen und engagierten Christen.
Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Einerseits hat sich die sogenannte Republikanische Front erneut bewährt, wie zuvor schon in den Stichwahlen ums Präsidentenamt 2017 und 2022 sowie bei der Parlamentswahl 2022. Wenn es darauf ankommt, stehen noch immer genug Demokraten auf, um der extremen Rechten den Weg zur Macht zu versperren. Andererseits ist es ausgesprochen fraglich, ob sich diese Strategie noch lange fortsetzen lässt. Dauermobilisierungen ermüden, Bedrohungsszenarien verlieren mit der Zeit an Überzeugungskraft, und die Wahl des kleineren Übels erfolgt weniger selbstverständlich, wenn sie von der Ausnahme zur Regel wird.
Schon bei dieser Wahl war das Zustandekommen der Republikanischen Front angesichts der starken politischen Polarisierung alles andere als ausgemacht. Ohne das disziplinierte Handeln der Linken in der eigens gegründeten Neuen Volksfront[2], die ohne Vorbedingungen ihre weniger aussichtsreichen Kandidaten aus der Stichwahl abzog, hätte dieses informelle Bündnis auch scheitern können. Am Ende aber riss die Linke das strategisch paralysierte Macron-Lager mit.[3] Diesen Erfolg in letzter Minute, der Demokraten wie der Demokratie, brachte die linke Tageszeitung „Libération“ auf den Punkt: Am Tag nach der Parlamentswahl prangte auf ihrer Titelseite keine Siegesbotschaft, um den überraschenden ersten Platz der Neuen Volksfront zu feiern, sondern schlicht „C’est ouf“, sinngemäß: Uff, es ist gerade nochmal gutgegangen.
Da es kurzfristig nicht gelingen wird, den RN zu marginalisieren, bleibt Frankreich politisch dreigeteilt: in einen extrem rechten, einen linken und einen derzeit nicht sehr geeinten liberal-konservativen Block, auf die bei dieser Wahl je rund ein Drittel der Stimmen entfallen sind. Wenn Marine Le Pen nun von einem bloß aufgeschobenen Sieg spricht, mag das trotzig klingen, es ist aber leider alles andere als realitätsfremd: Die RN-Fraktion in der Nationalversammlung hat Rekordgröße erreicht, die regionale Verankerung der Partei ist stark und ihre Stammwählerschaft beträchtlich. Schon in drei Jahren, bei der Präsidentschaftswahl 2027 könnte Le Pens Saat aufgehen.
Zutiefst rassistisch
Als der RN 1972 gegründet wurde, damals noch unter den Namen Front National, hätte das wohl niemand für möglich gehalten. Damals sammelte die Partei vor allem den ultrarechten Rand ein. Zu ihren Gründern gehörten neben früheren Nazi-Kollaborateuren des Vichy-Regimes auch ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS und ein einstiger Angehöriger der OAS, einer rechtsterroristischen Organisation aus Kreisen des französischen Militärs, die in den 1960er Jahren mit einer blutigen Bombenkampagne und Attentaten auf den damaligen konservativen Präsidenten Charles de Gaulle versucht hatte, die algerische Unabhängigkeit zu verhindern. Dazu kamen notorische Antisemiten wie der langjährige Parteichef Jean-Marie Le Pen, der mehrfach wegen Holocaustleugnung verurteilt wurde.
Dagegen betreibt seine Tochter Marine seit Jahren die von ihr ausgerufene „Entdämonisierung“ der Partei, notfalls auch durch den Ausschluss ihres eigenen Vaters. Strategisch ist sie damit durchaus erfolgreich, wie die immer besseren Wahlergebnisse zeigen. Doch hinter der glattgebürsteten Fassade des RN verbirgt sich nach wie vor die altbekannte Menschenfeindlichkeit. So sagte ein vor der Wahl zu Le Pen übergelaufener konservativer Kandidat über Roma und Sinti: „Hitler hat vielleicht nicht genug von ihnen getötet.“ Eine RN-Kandidatin tat auf Facebook kund, einige Kulturen seien „in der Evolutionskette unterhalb der Bestialität stehengeblieben“.[4] Und eine wichtige Mitarbeiterin der Partei steht im Verdacht, für Russland zu spionieren.[5]
Das sind keine individuellen Entgleisungen, sondern ist die Methode einer Partei, die auf Spaltung und Verfeindung setzt und deren Programm zutiefst rassistisch ist. So will der RN unter dem Slogan der „nationalen Präferenz“ Ausländer bei Jobsuche und Wohnungsvergabe benachteiligen; Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft sollen von gehobenen Funktionen im öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden. In einem bewussten Bruch mit der republikanischen Tradition des Landes unterscheidet die Partei zwischen „echten Franzosen“ und „Papier-Franzosen“, Menschen mit Migrationsgeschichte sind für sie allenfalls Bürger zweiter Klasse.
Doch der RN geht noch weiter: Er will das ius solis abschaffen, wonach Franzose ist, wer im Land geboren wurde. Diese Rechtspraxis gilt in Frankreich seit 1515, sie anzutasten hat sich „selbst das Vichy-Regime nicht getraut“.[6] Könnte unter einer RN-Regierung also nur noch Staatsbürger sein, wer seine französische Abstammung über Generationen nachweist? Einer Partei, deren Chef Jordan Bardella die rassistische Verschwörungserzählung vom Großen Austausch propagiert – also behauptet, die Eliten wollten die weiße Bevölkerung systematisch durch Einwanderer ersetzen –, ist das durchaus zuzutrauen.[7]
Und der Angriff auf Minderheiten wäre nur ein Baustein auf dem Weg in einen autoritären Staat. Le Pen hegt wie viele in ihrer Partei Bewunderung für Wladimir Putin, selbst wenn sie dies aus wahltaktischen Gründen seit Beginn des Ukrainekriegs nicht mehr laut sagt. Und im Europaparlament ist ihre Partei soeben ein Bündnis mit der Fidesz von Viktor Orbán eingegangen. Diese Vorbilder zeigen, was mit dem RN an der Macht, also vielleicht schon nach den Wahlen 2027, droht[8]: ein Frankreich, das nicht wiederzuerkennen wäre – ein Ungarn an der Seine.
Letzte Chance der Demokraten?
Angesichts dessen müssen die republikanischen Kräfte nun zwei Aufgaben gleichzeitig bewältigen, die eigentlich im Widerspruch zueinander stehen: Erstens müssten sie die demokratische Polarisierung aufrechterhalten, da nur diese es den Wählern erlaubt, eine ungeliebte Regierung durch eine demokratische Alternative zu ersetzen. Gerade die Neue Volksfront hat enorme Hoffnungen geweckt: Endlich ist die Linke wieder als der Machtfaktor in Erscheinung getreten, der sie während der Macron-Jahre nur außerparlamentarisch war. Umso mehr werden von ihr jetzt Antworten auf die unübersehbar gewordene soziale Frage gefordert. Schließlich ist der Verlust an Kaufkraft für viele Wähler das wichtigste Problem. Ein Hashtag, der schon am Wahlabend auf X kursierte, bringt diese Erwartungen auf den Punkt: #NeNousTrahissezPas, verratet uns nicht! Jede Regierung unter linker Beteiligung, die nicht für mehr Gerechtigkeit sorgt, riskiert die politische Apathie linker Wählermilieus –, während die extreme Rechte ihre Anhänger auch weiterhin mit der Aussicht auf die Machtübernahme an die Urnen treiben kann.
Zweitens aber dürfen die republikanischen Kräfte gerade in dieser Zeit multipler Krisen nicht den Eindruck entstehen lassen, sie seien zerstritten, schwach und handlungsunfähig. Um dem vorzubeugen, müssten sie sich aber auf etwas einlassen, das es in Frankreich seit der Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958 noch nie gegeben hat: eine lagerübergreifende Koalition. Doch selbst wenn eine solche zustande käme, droht sie den Eindruck zu verfestigen, den Bardella schon im Augenblick seiner Niederlage am 7. Juli polemisch heraufbeschwor, nämlich den einer unheiligen Allianz von Trotzkisten bis Konservativen – eines angeblichen großen Blocks des Establishments zur Aussperrung der extremen Rechten.
Jenseits dieser bekannten rechtsextremen Opfermythen ist es bis zu einer „Koalition der Mitte“, die etwa Präsident Emmanuel Macron nach der Wahl heraufbeschwor, noch ein weiter Weg. Rein rechnerisch müsste sie neben Grünen, Sozialisten und eventuell den Kommunisten auch das Macron-Lager und die Konservativen umfassen – also alle relevanten Kräfte mit Ausnahme des RN und der Linkspopulisten. Das würde aber ein Maß an Kompromissbildung erfordern, das in der französischen Politik unbekannt und unerprobt ist.
Das hängt maßgeblich mit den Eigenheiten des zunehmend dysfunktional gewordenen politischen Systems zusammen. Das Mehrheitswahlrecht, das klare Verhältnisse und eindeutige Sieger schaffen soll, drängt die Parteien zur scharfen Abgrenzung gegenüber politischen Gegnern. Dies wiederum begünstigt den Aufstieg von charismatischen Anführerinnen und Anführern, die sich über die zerstrittenen Parteien erheben und Stärke versprechen. Das gilt nicht nur für Le Pen, sondern in gewisser Weise auch für Macron, der sich von Beginn an bewusst als disruptive Kraft in einem vermeintlich erstarrten Parteiensystem präsentiert hat. Zu welcher Hybris das verleiten kann, hat die übereilte Neuwahlentscheidung gezeigt, die der Präsident ohne Rücksprache mit seinen Ministern oder den Parteichefs seines Lagers getroffen hat.
Allerdings gerät, ungeachtet der berechtigten Kritik an Macrons riskantem Manöver, oft aus dem Blick, wie sehr er aus der Defensive agierte – auch aufgrund der starren europäischen Schuldenregeln und der Weigerung aus Berlin, größere Investitionen etwa in Klimaschutz und Verteidigung über gemeinsame europäische Investitionen zu stemmen. Konfrontiert mit einem Defizitverfahren der EU plante die französische Regierung einen Sparhaushalt, den sie kaum durchs Parlament bekommen hätte angesichts einer fehlenden absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung und eingedenk der Weigerung etwa der konservativen Opposition, das Minderheitskabinett wenigstens zu tolerieren. Im Herbst wäre es daher wohl ohnehin zu Neuwahlen gekommen. Statt also in einigen Monaten politisch bedrängt das Parlament aufzulösen, setzte Macron auf einen großen Befreiungsschlag – der ein historisches Scheitern zur Folge hatte.
Dieses trifft nun weniger ihn selbst als sein Lager, das in der Nationalversammlung empfindlich geschwächt wurde. So mancher mögliche Nachfolger für 2027 sieht sich nun um die Chance gebracht, aus der Regierung heraus eine Wahlkampagne zu entwickeln. Momentan ist selbst der Zerfall des Präsidentenlagers in einen eher konservativen und einen eher linksliberalen Flügel nicht ausgeschlossen.
Doch auch die Zukunft der Neuen Volksfront scheint weniger rosig, als es ihr Wahlsieg vermuten ließe. Eine lagerübergreifende Koalition ohne die Linkspopulisten, die selbst bei Sozialisten und Grünen nicht nur Fürsprecher hat, würde das Ende des Bündnisses bedeuten. Einer linken Minderheitsregierung wiederum müsste es nicht nur gelingen, die völlig konträren außenpolitischen Vorstellungen (Nahost, Ukraine) der beteiligten Parteien auszubalancieren, sondern auch für jedes Gesetz mehr als hundert Oppositionsabgeordnete zu gewinnen – insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik fast ein Akt der Unmöglichkeit.
Es geht ums Ganze
So steht zu befürchten, dass alle demokratischen Kräfte mittelfristig weiter geschwächt werden: Entweder sie einigen sich nicht und nach Monaten der Dauerblockade folgt die nächste Neuwahl tatsächlich schon im Juni 2025, wenn Macron nach einem Jahr erneut das Parlament auflösen darf. Oder es kommt zum historischen Novum einer ganz großen Koalition. Dann aber müssten Liberale, Konservative und Linke darauf hoffen, dass möglichst viele Wähler angesichts der historisch neuen Umstände bereit sind, die nötigen Kompromisse zu würdigen, so schmerzhaft oder ungenügend sie diese oft empfinden werden.
Die extreme Rechte kann indes weiterhin das tun, was sie am besten kann: aus der Fundamentalopposition heraus die demokratischen Kräfte des Landes verunglimpfen und das Traumbild eines Frankreichs beschwören, wie es einst gewesen sein soll, aber doch nie war. Denn der Traum der extremen Rechten ist ein Albtraum, genährt aus alten Revanchefantasien und neuen Verschwörungserzählungen.
Am 7. Juli konnte die Republik, konnten die Demokraten und bedrohten Minderheiten noch einmal befreit Atem holen. Doch die Gefahr durch die extreme Rechte ist nicht kleiner geworden. Bei der nächsten Wahl geht es erneut ums Ganze.
[1] Vgl. x.com/albaneblt, 30.6.2024.
[2] Ihr gehören u.a. die linkspopulistische LFI, Sozialisten, Grüne und Kommunisten an.
[3] Teile des Präsidentenlagers wollten zugleich gegen Rechtsextreme und Linkspopulisten Front machen. Dies hätte dem RN zahlreiche weitere Wahlkreise beschert und ist analytisch falsch: Frankreichs Linkspopulisten muss man vieles vorwerfen, aber Demokratiefeinde sind sie nicht.
[4] Jacques Pezet, Candidats RN accusés de racisme, homophobie ou antisémitisme: Jordan Bardella en flagrant déni, liberation.fr, 28.6.2024.
[5] Ingrid Gallois, Qui est Tamara Volokhova, conseillère du RN proche du Kremlin?, nouvelobs.com, 1.7.2024.
[6] So der Historiker Patrick Weil, vgl. Patrick Weil, historien: „Même Vichy n‘avait pas osé remettre en cause le droit du sol!“, nouvelobs.com, 17.6.2024.
[7] Nejma Brahim, Sur l’immigration, le RN cache son jeu mais est toujours aussi dangereux, mediapart.fr, 20.6.2024.
[8] Sophie Letellier, Les inspirations du RN, laregledujeu.org, 5.7.2024.