Ausgabe Februar 2024

Kunstfreiheit und Antisemitismus

Für eine Kultur der Kritik, nicht des Verbots

Ein Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit eindeutig antisemitischen Darstellungen wird auf der documenta fifteen in Kassel verhüllt, 20.6.2022 (IMAGO / Hartenfelser)

Bild: Ein Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit eindeutig antisemitischen Darstellungen wird auf der documenta fifteen in Kassel verhüllt, 20.6.2022 (IMAGO / Hartenfelser)

Am 19. Oktober 2023 erschien auf mehreren einflussreichen Plattformen – unter anderem auf der Website des US-Magazins „Artforum“ – ein offener Brief an Kulturorganisationen.[1] 8000 Menschen aus der Kunstwelt haben ihn unterzeichnet, darunter Nan Goldin, Peter Doig und Kara Walker. Der Text thematisiert das Leid in Gaza und verurteilt Israel für das, was seine Verfasser einen „eskalierenden Genozid“ nennen. Man sucht im Brief vergeblich die Erwähnung des Massakers der Hamas an 1200 Menschen, die Folterungen und Vergewaltigungen, die Geiselnahme von Kindern, Frauen und alten Menschen.

Vier Tage später – am 23. Oktober – wurde in der israelischen Kunstzeitschrift „Erev Rav“ ein weiterer offener Brief veröffentlicht. Unterschrieben haben 2500 Menschen aus der Kunstszene, darunter Hito Steyerl, Ron Arad und Tal R. Sie kritisierten den ersten Brief scharf: „Was am meisten empört, ist das völlige Fehlen jeglicher Erwähnung der über 200 entführten Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, darunter Babys, Kinder, alte und kranke Menschen“, steht darin. „Diejenigen, die den Brief unterzeichnet haben, fordern einen Waffenstillstand aus humanitären Gründen. Aber in dem Brief sind die Geiseln nicht Teil der Menschheit, an deren Menschlichkeit sie appellieren.“[2]

Aufgrund der Kritik haben mehrere Unterzeichner des ersten Briefes, darunter Peter Doig, Joan Jonas und Katharina Grosse, ihre Unterschrift zurückgezogen. Später hat „Artforum“ seinen Chefredaktor, David Velasco, wegen der Veröffentlichung des Briefes entlassen und einen Nachtrag abgedruckt, in dem das Massaker vom 7. Oktober verurteilt wurde. Aber eben erst nachträglich und infolge des öffentlichen Drucks.

Im Laufe der Zeit wurde die Kritik lauter. Am 27.10. veröffentlichten rund 1000 Autoren das Statement „Literaturbetrieb, jetzt!“ – darunter Herta Müller, Durs Grünbein und Sibylle Berg. Darin wurde auch das bisherige Schweigen des Literaturbetriebs kritisiert: „Nach dem Angriff der terroristischen Hamas auf Menschen, die nichts anderes zu Opfern von Folter, Vergewaltigung, Entführung und Mord machte, als dass sie jüdische Israelis sind, verharrt der Literaturbetrieb in einem an Bräsigkeit nicht zu überbietenden Schweigen.“

Das sind nur einige Beispiele. Inzwischen habe ich den Überblick verloren, welche Stellungnahmen und Gegenstellungnahmen seit dem 7. Oktober 2023 kursieren. Diese Inflation ist nur eine Facette des bitteren Kampfes, der die Kunst- und Kulturwelt beim Thema Israel und dem Krieg in Gaza spaltet. Kein anderes Thema sorgt und sorgte in der Vergangenheit bereits für derartige Kontroversen und Emotionen wie das Verhältnis zu Israel – und manche würden sagen: das Verhältnis zu Juden. Andere politische Ereignisse wurden in der Kunst- und Kulturwelt Europas und der USA – vielleicht kann man hier von „dem Westen“ sprechen – einhellig verurteilt, in der Regel sind die Sympathien und Solidarisierungen schnell klar und es gibt kaum politische Kontroversen: Denken wir an George Floyd, der im Mai 2020 von Polizeibeamten getötet wurde. Die anschließenden Proteste – erst in den USA, sehr schnell aber auch in zahlreichen anderen Ländern – unter dem Slogan „Black Lives Matter“ – das ist eine bereits 2013 initiierte Bewegung gegen rassistische Gewalt – wurden breit getragen. Es gab Kritik an dem Slogan, nicht aber aus den Reihen der Kunst- und Kulturwelt. Die hat sich vielmehr dem Anliegen – nämlich Antirassismus und Antidiskriminierung – unwidersprochen angeschlossen. Der Gegenslogan „All Lives Matter“ – der die Spezifika der Gewalt gegen schwarze Menschen relativierte –, wurde in der Kulturszene einhellig abgelehnt.

Ebenso weht bis heute an vielen Opernhäusern, Theatern und Museen die Flagge der Ukraine. Natürlich: Die konkrete Frage, wie mit russischsprachigen Theaterstücken umzugehen ist, ob man das Konzert mit einem russischen Opernstar absagt oder im Programm belässt, das sind Kontroversen und Herausforderungen, die es jeweils zu lösen galt und noch gilt. Ein unüberwindbar tiefer Graben hat sich hier aber nicht aufgetan.

Im Fall von Israel aber zerreißt der Konflikt die Szene. Boykotte und Gegenboykotte, Rücknahme von Preisen, Absagen von Ausstellungen und Aufführungen summieren sich. Allein das Wort „Israel“ kann schon triggern. Einige vermeiden es, den Namen des Staates auszusprechen, oder setzen ihn in Anführungszeichen. Es läuft ein tiefer Graben mitten durch die Kulturszene: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sich mit Israel solidarisch zeigen, auf der anderen Seite diejenigen, die sich mit den Palästinensern solidarisieren. Brücken scheint es keine zu geben, allenfalls fragile, wackelige und provisorische Hängebrücken.

Es gibt sicherlich mehr als einen Grund, warum ausgerechnet über Israel und den Nahostkonflikt so hart gestritten wird. Meine Beobachtung ist, dass die Gründe weniger mit der Situation dort, sondern zum einen mit der Natur des Feldes und zum anderen mit der europäischen Geschichte und Gegenwart – mit der Aufarbeitung der Kolonialzeit und des Holocaust – zu tun haben. Israelis und Palästinenser dienen als Projektionsfläche für Europäer (und US-Amerikaner). Als ob es den Streitenden vielmehr darum geht, sich symbolisch auf die absolut moralisch gute Seite zu stellen, als sich mit einem 100 Jahre alten komplexen Konflikt auseinanderzusetzen.

Einen als links-progressiv getarnten Israelhass findet man nicht nur in der Kunstwelt. Dennoch tritt er gerade dort besonders deutlich in Erscheinung. Die Szene hat, pauschal gesprochen, eine gewisse Anfälligkeit für linke Radikalität: aktuell liegen identitätspolitische und postkoloniale Ideen im Trend. Kunstschaffende sind meistens keine Historiker oder Politikwissenschaftler. Und politische Kunst neigt zu Vereinfachungen, Komplexitätsreduzierung und einer simplifizierten Darstellung von Gut und Böse. Das Anliegen, Marginalisierten eine Stimme zu geben, gegen Kolonialismus und Unterdrückung zu stehen, sind wichtige Anliegen, für die sich aber wieder häufiger aggressiv, undifferenziert und vulgär eingesetzt wird. Und es ist kein Zufall, dass in der linken woken Szene Juden tendenziell schlechte Karten haben. Der britische Comedian und Autor David Baddiel hat ein ganzes Buch über dieses Thema geschrieben, mit dem Titel „Jews don’t count“ (Juden zählen nicht). Der Autor gibt Beispiele für ein Ranking der Diskriminierungen, in dem Juden schlechter abschneiden: Juden gelten als weiß, als privilegiert, nicht mehr als Minderheit; Antisemitismus wird lediglich als eine Unterkategorie von Rassismus begriffen. Als die Trennlinie gilt aber die „colorline“, also die zwischen „Weißen“ und „Nichtweißen“.

Rassismus wird gegen Antisemitismus ausgespielt

Egal ob man auf der Seite Israels oder auf der Seite der Palästinenser steht, häufig geht es eigentlich um eine Selbstbestätigung dafür, dass man aus der Geschichte gelernt hätte. Da stehen wechselweise mal die Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus, mal mit dem Holocaust im Vordergrund. Vereinfacht gesagt: Hier stehen sich zwei Gebote scheinbar unversöhnlich gegenüber, nämlich „nie wieder Holocaust“ versus „nie wieder Kolonialismus“. Nach der ersten Sichtweise wird Israel primär als der Zufluchtsort der verfolgten Juden gesehen. In der anderen Erzählung wird Israel als weißer, kolonialer Vorposten des Westens mitten im „Globalen Süden“ gesehen.

Diese Metanarrative bleiben nicht nur ein theoretischer Diskurs. Sie äußern sich in Kontroversen, die öffentlich ausgetragen werden. Eine solche Kontroverse war die „Mbembe-Debatte“ 2020. Es ging um den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe, der als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale eingeladen war. Mbembe ist einer der internationalen Philosophie-Superstars und so glaubte man, mit ihm als Eröffnungsredner einen Coup gelandet zu haben. Die Begeisterung wurde jedoch nicht von allen geteilt. So forderte der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, mit Verweis auf als antisemitisch gelesene Passagen in Texten des Philosophen dessen Ausladung. Die Debatte nahm ihren erhitzten Lauf: Die Verteidiger Mbembes und dieser selbst interpretierten das Geschehen als rassistische Kampagne gegen ihn, gegen die Postcolonial Studies und gegen alles Außereuropäische; seine Kritiker wiederum fürchteten eine Verharmlosung des Antisemitismus, unangemessene Kritik an oder Hetze gegen Israel und einen Angriff auf die etablierte Erinnerungskultur. Letztlich hielt Achille Mbembe keine Eröffnungsrede, obwohl er nicht ausgeladen worden war: Die Coronapandemie führte 2020 zur Absage der Ruhrtriennale. Das hier erkennbare Muster ist das einer nicht unmittelbar plausiblen Konfrontation: Diejenigen, die wesentlich gegen Rassismus engagiert sind, stehen denjenigen gegenüber, die sich gegen Antisemitismus einsetzen.

Der Konflikt um die Ruhrtriennale 2020 war nicht der letzte seiner Art. Im Dezember desselben Jahres veröffentlichte eine Reihe großer deutscher Kulturinstitutionen – darunter das Humboldtforum, das Zentrum für Antisemitismusforschung, das Goethe-Institut – das „Plädoyer der ‚Initiative GG 5.3 Weltoffenheit‘“. Die Verfasser schreiben darin, dass es „unproduktiv und für eine demokratische Öffentlichkeit abträglich [sei], wenn wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen, wie im Falle der Debatte um Achille Mbembe zu beobachten war. Die historische Verantwortung Deutschlands darf nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren.“ Die implizite Kritik an den Äußerungen von Felix Klein ist nicht zu überlesen.

Nach zwei Jahren der Covid-Pandemie sind die zwei Lager wieder aufeinandergestoßen, dieses Mal mit noch größerer Vehemenz und unter den Augen der kulturell interessierten Weltöffentlichkeit. Die Arena war die internationale Kunstausstellung Documenta Fifteen in Kassel 2022. Was zu einer Art Sommermärchen für Kunstbegeisterte werden sollte („Make Friends, Not Art“), geriet zu einem der größten öffentlichen Skandale in der Geschichte des deutschen Kulturbetriebs. Im Zentrum der Kritik stand die Entscheidung der Findungskommission, dem indonesischen Kollektiv Ruangrupa die künstlerische Leitung der Documenta anzuvertrauen. Unter anderem wurde einem Mitglied des Kollektivs vorgehalten, dass es den antiisraelischen Brief „Letter Against Apartheid“ unterschrieben habe. Auch hier standen schnell den Antisemitismusvorwürfen (gegen das Kollektiv) die Rassismusvorwürfe (gegen die Kritikerinnen und Kritiker) gegenüber.

Das eine Lager sah in den Antisemitismusvorwürfen Belege für einen strukturellen Rassismus in der deutschen Gesellschaft und in der Kritik an der Documenta den Versuch, hausgemachten Antisemitismus auf andere abzuwälzen – und zwar ausgerechnet auf Menschen aus dem sogenannten Globalen Süden, vor allem aus islamisch geprägten Ländern. Die Schriftstellerin Eva Menasse etwa beklagte, dass man sich in Deutschland über antisemitische „Wandteppiche aus Indonesien“ aufrege, während gleichzeitig die Statistik belege, wie viele antisemitische Straftaten Neonazis verübten. Auch das Künstlerkollektiv Ruangrupa selbst sah sich als Opfer einer „rassistischen Verleumdungskampagne“. Vom anderen Lager wurden die umstrittenen Kunstwerke als Beweise dafür angeführt, dass im Globalen Süden Israelhass und Antisemitismus allgegenwärtig seien. In der „Süddeutschen Zeitung“ wurde über die „Fetischisierung“ des Globalen Südens geraunt. Die FAZ warf der Documenta „Dekolonisierungskunst“ vor, sie arbeite „mit der Moral – und als Reich des Bösen hat sie Israel identifiziert“. Während sich die einen als Antirassisten verstanden, vertraten die anderen die Auffassung, es gehe hier um die letzte Verteidigungslinie vor dem eliminatorischen Antisemitismus, der den gesamten Kulturbetrieb zu dominieren drohe. Wie der Journalist Richard C. Schneider schrieb: „Solche ‚Kunst‘ kann töten. Sie hat getötet.“

Die Unfähigkeit zum Dialog

Man kann über die Argumente der beiden Seiten diskutieren. Aber kaum jemand versuchte, die Perspektive und die Sorge des anderen Lagers emphatisch zu verstehen. Das konnte ich persönlich beobachten, als ich im vorletzten Sommer einige Tage und Wochen in Kassel verbrachte und mit vielen Künstlern, Besuchern und Kritikern der documenta sprach. Jedes Lager sah und sieht sich selbst absolut im Recht und als Vertreter des Guten und einzig Richtigen. Wer diese Annahme hat, braucht gar nicht erst zu versuchen, die andere zu verstehen.

Auch wenn der Streit über Antisemitismus und Rassismus im Allgemeinen und über die Positionierung zum Nahostkonflikt im Besonderen aktuell überall geführt wird: Es gibt dennoch einen gesonderten Diskussionsstrang, der in der Kunst- und Kulturwelt stattfindet, innerhalb des „Kommunikationssystems Kunst“, wie es Niklas Luhmann nennt. Der Konflikt zwischen den beiden Lagern, wie er seit der Mbembe-Debatte deutlich zu sehen ist, spielt sich vor dem Hintergrund einer viel älteren Diskussion ab: der um das Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Kunstfreiheit auf der einen Seite und den Schutz von Minderheiten auf der anderen Seite. Die Forderung, die Kunstfreiheit zu begrenzen, um Antisemitismus und Rassismus zu bekämpfen, wird lauter. Als in Kassel antisemitische Motive im Werk „People‘s Justice“ von Taring Padi zu sehen waren, wandte sich der Zentralrat der Juden an Kulturstaatsministerin Claudia Roth und bat sie zu intervenieren. Im Kulturausschuss des Bundestags forderte der Zentralrat, dass der Bund und das Land Hessen ein „Zugriffsrecht auf die handelnden Akteure“ der documenta bekommen sollten.

Einige Monate später wurde wieder die Forderung zur Sanktionierung einer Kulturinstitution aufgrund von Antisemitismusvorwürfen laut. Es ging um das Münchener Theater Metropol und seine Aufführung des Stücks „Vögel“ des libanesisch-kanadischen Autors Wajdi Mouawad. In seinem Stück geht es um mehrere Generationen einer jüdischen Familie, die sich in Israel treffen, und um die Beziehung zwischen einem Juden und einer Palästinenserin, die um ihre Liebe kämpfen müssen. Kritik daran kam vom Verband jüdischer Studenten in Bayern und der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) in einem offenen Brief, nachdem vier ihrer Mitglieder eine Aufführung in München besucht hatten. Die Vorsitzende der JSUD formulierte ihr Anliegen in einem Gastbeitrag in der „Welt“ so: „Jüdische Studierende fühlten sich nach dem Gesehenen betroffen. [...] Wenn auch nur eine jüdische Person etwas als grenzüberschreitend, relativierend oder beleidigend empfindet, muss das ausreichen, um es ernst zu nehmen.“ Die Verbände forderten nicht nur die sofortige Absetzung des Stücks, sondern sogar die Streichung städtischer Gelder für das Münchener Theater. Nach gescheiterten Vermittlungsbemühungen nahm das betroffene Metropoltheater das Stück schließlich vom Spielplan.

Die jüdischen Studierenden waren fest der Meinung, dass es sich hier zweifellos um ein antisemitisches Stück handele. Dagegen lässt sich einwenden, dass „Vögel“ seit der Pariser Uraufführung 2017 Hunderte Male auf Bühnen zu sehen war, das Stück im deutschsprachigen Raum auf mehr als zwanzig Bühnen gezeigt wurde und selbst in Israel von Kritikern und Publikum vielfach gelobt wurde, als es 2018 am renommierten Cameri-Theater in Tel Aviv aufgeführt wurde. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch, wie schwer es oft fällt, zwischen der subjektiven Wahrnehmung von Betroffenen und Artikulation von Antisemitismus nach objektiven Maßstäben zu unterscheiden.

Es ist auch exemplarisch, dass die Studierenden gleich die Forderung gestellt haben, die Finanzierung des Theaters solle gestoppt werden. Genau an dieser Stelle fand die aktuelle Debatte über die Einführung einer sogenannten Antidiskriminierungsklausel in Berlin statt. Der Initiator der Klausel, Joe Chialo, Berliner Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, wollte damit verhindern, dass antisemitische, rassistische oder queerfeindliche Kunst durch das Land Berlin gefördert wird. Das klingt erstmal nicht nur plausibel, sondern sogar notwendig. Denn die letzte Eskalation in Israel und Gaza verursachte einen starken Anstieg von antisemitischen Vorfällen hierzulande. Laut der Meldestelle RIAS sind es seit dem 7. Oktober durchschnittlich 29 judenfeindliche Fälle pro Tag. Auch antimuslimische Vorfälle sind gestiegen, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß. Einige, wie der „Zeit“-Journalist Thomas E. Schmidt, sprachen sich dafür aus, dass Berlin für andere Bundesländer zum Modell werden solle. „Kunst ist frei! Aber nicht regellos“, befand Kultursenator Chialo. In der Pressemitteilung der Berliner Senatsverwaltung von Anfang Januar hieß es: „So tragen die Kulturinstitutionen sowie fördernde Stellen Verantwortung dafür, dass mit öffentlichen Geldern keine rassistischen, antisemitischen, queerfeindlichen oder anderweitig ausgrenzenden Ausdrucksweisen gefördert werden.“

Das alles klingt vielleicht nach einer guten Lösung, ist es meines Erachtens aber nicht. Denn der Versuch der Politik, die Kunst gegen Diskriminierung zu erziehen, ist ein schwieriges Unterfangen. Vor die Frage gestellt, „sind Sie für Rassismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit oder andere Formen der Ausgrenzung?“, würde kaum jemand mit „Ja“ antworten. Dennoch, wenn ich Ihre Meinung über ein bestimmtes Kunstwerk, sei es ein Gemälde, eine Installation oder ein Theaterstück erfrage, ob es rassistisch, antisemitisch, querfeindlich etc. ist, werde ich vermutlich unterschiedliche Antworten bekommen. So wie es beispielsweise in der Diskussion um „Vögel“ der Fall war. Denn genau über die Grenze, wo Ausgrenzung beginnt, wo Kunst verletzend sein kann, wird heftig gestritten. Dass die Kulturverwaltung, egal ob in Berlin oder woanders, die richtige Instanz ist, dies zu beurteilen, das bezweifle ich – nicht die gute Intention von Chialo. Aufgrund juristischer Bedenken zog er seinen Vorschlag am 22. Januar zurück.

Für eine Kultur der Kritik

Nach dem Documenta-Skandal hat der Verfassungsrechtler Christoph Möllers ein Gutachten zu den Grenzen der staatlichen Kulturförderung im Auftrag von Kulturstaatsministerin Roth erstellt. Sein Fazit ist eindeutig: „Die durch die staatliche Förderung der Kunst und die aus ihr folgende Erweiterung der Kunstfreiheit ermöglichten Widersprüche werden sich nicht durch große Lösungen auflösen lassen. Dass sich künstlerische Praktiken in Widerspruch auch zu konsentierten politischen und moralischen Normen setzen können, ist als Form des künstlerischen Skandals nichts Neues, sondern Teil einer eingeübten Praxis der Kunstfreiheit.“

Möllers argumentiert, dass das Recht auf Meinungsfreiheit sogar antisemitische und rassistische Äußerungen schützt (solange sie nicht unter den Strafbestand der Volksverhetzung fallen). Und das Recht auf Kunstfreiheit schützt dementsprechend auch antisemitische und rassistische Kunstwerke. „Das wirkt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wie ein Skandal, aber es ist der Skandal einer liberalen Ordnung, die nicht alles rechtlich sanktioniert, was sie politisch verurteilt“, so Möllers. Daraus leitet er ab, dass der Staat den Kulturinstitutionen keine Inhalte vorschreiben darf. Staatliche Stellen „dürfen nicht entscheiden, welche Stücke gespielt, welche Schauspieler besetzt, welche Personen zu Vorträgen eingeladen oder wessen Kunstwerke ausgestellt werden. Der Staat hat die öffentliche Einrichtung und deren Verfahren so auszugestalten, dass Kunstfreiheit in ihnen real ermöglicht wird.“ Die Auflage, eine Antidiskriminierungsklausel zu unterschreiben, um staatliche Förderung zu erhalten, ist da ein Signal in die falsche Richtung.

Gerade Minderheiten profitieren von den Freiheiten, die unsere liberale Demokratie garantiert. Der Preis dafür ist, dass wir als Individuen oder in unserer Zugehörigkeit zu (marginalisierten) Gruppen auch mit Sprache und Kunst konfrontiert werden können, die wir möglicherweise als verletzend empfinden. Heißt das nun, dass wir als Gesellschaft es einfach stillschweigend hinnehmen müssen, wenn verletzende, ausgrenzende und menschenverachtende Kunst öffentlich gezeigt wird? Keinesfalls! Natürlich hat jede Person oder Gruppe das Recht, gegen Kulturveranstaltungen oder Kunstwerke zu protestieren, die sie als anstößig empfindet. Das gehört genauso zur Meinungsfreiheit wie die Freiheit, anstößige Theaterstücke spielen zu dürfen. Und Kunst – gerade politische oder politisierte Kunst – ist niemals vor Kritik oder Protest gefeit. Künstlerinnen und Künstler, die mit ihren Werken Botschaften senden, sollten sich nicht wundern, wenn die Empfängerinnen und Empfänger (also die Medien, das Publikum oder andere Künstler) darauf nicht nur mit Jubel oder Gleichgültigkeit reagieren. Oft wird vergessen, dass Kritik ebenfalls ein Teil der Kunstfreiheit ist. Es gibt keine liberale Demokratie ohne eine lebendige Kultur der Kritik.

Da ich aus Frankfurt komme, ist mein Lieblingsbeispiel für eine lebendige Kritikkultur die Bühnenbesetzung bei der Uraufführung des Theaterstücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder im Oktober 1985. Damals haben vor allem Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt die Bühne des Frankfurter Kammerspiels besetzt und dadurch die Aufführung verhindert. Ihre Kritik richtete sich gegen die Hauptfigur des Stücks, die Fassbinder unverblümt als „den reichen Juden“ mit plakativen antisemitischen Klischees ausgestattet hatte: Ein jüdischer Immobilienspekulant, skrupellos, hinterlistig, sexbesessen, machtgierig. Fassbinder reproduzierte dadurch gleich mehrere der wirkmächtigsten und langlebigsten Vorurteile gegen Juden. Viele meinten, der Theaterregisseur habe Ignatz Bubis gemeint, den späteren Präsidenten des Zentralrats der Juden. Die Juden in Frankfurt schrieben sich mit dieser Protestaktion in die Geschichte der Stadt ein: Es war das erste Mal, dass sie öffentlich protestierten. Sie erhoben ihre Stimme laut und deutlich und kämpften gegen etwas, das sie zum „subventionierten Antisemitismus“ erklärten.

Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt war mit ihrer Protestaktion erfolgreich. Diejenigen, die ihr damals Zensur vorgeworfen hatten, lagen falsch. Bis heute scheinen viele Kunstschaffende den Unterschied zwischen Kritik und Zensur nicht begriffen zu haben: Allzu oft beklagen sie „Zensur“, wo lediglich Kritik an ihren Kunstwerken geäußert wird. Insofern waren die Proteste gegen die Aufführung von Fassbinders Stück richtig. Die Forderung, die Finanzierung des Theaters Metropol, weil es das Stück „Vögel“ zeigte, zu stoppen, ist aber falsch. Eine solche Sanktion käme der realen Einschränkung der Kunstfreiheit gefährlich nahe.

Wir halten fest: Kritik an Kunst ist immer erlaubt und legitim, sie gehört zur Kunst dazu. Dennoch ist die Forderung falsch, dass der Staat Kunst verhindert, die von jemandem als anstößig empfunden wird. Der Forderung, jeden Trigger, alles, was irritierend oder schmerzhaft sein könnte, möglichst aus der Kunst, Kultur und der öffentlichen Kommunikation zu verbannen, kann vom Staat nicht erfüllt werden. Er sollte es auch nicht. Die Betonung der Differenzen, der Marginalisierung der eigenen Position und der Status als Opfer (oder dessen Anwalt), darf nicht in selbstgerechten Forderungen nach Zensur und Sanktionen münden.

Wir sollten eines nicht vergessen: In Zeiten, in denen die AfD in Geheimtreffen schon Pläne für die Phase nach der Machtübernahme schmiedet, ist die Gefahr für die Kunstfreiheit nicht nur eine Spekulation. Wer dem Kulturbetrieb schaden will, dem kann die Praxis von Gesinnungsprüfungen und die Logik des Generalverdachts besonders nützlich sein. Wer sich zur liberalen Demokratie bekennt, soll sich für die Freiheit der Kunst und gegen Antisemitismus und Rassismus stellen. Kunst ist „nicht nur nicht lenkbar, sondern sie ist auch nicht ablenkbar“, hat schon 1975 der Auschwitz-Überlebende und Psychiater Viktor E. Frankl verstanden. Alles andere ist laut Frankl keine Ästhetik, sondern nur Kosmetik.

Der Text beruht auf einem Festvortrag, den der Autor am 16.1.2024 auf der „Martin und Herriet Roth Lecture“ der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gehalten hat.

[1] An Open Letter from the Art Community to Cultural Oranizations, 19.10.2023, artforum.com.

[2] Both Should Come Together, 22.10.2023, erev-rav.com. Im englischen Original wird auf die Doppelbedeutung von „humanity“ als Menschlichkeit und Menschheit angespielt. Das lässt sich nur unvollkommen übersetzen.

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