
Bild: Der französische Präsident Emmanuel Macron und Italiens Premierministerin Giorgia Meloni in Borgo Egnazia beim G7-Gipfel, 13.6.2024 (IMAGO / ZUMA Press / Vannicelli / Grillotti)
Die Befürchtungen haben sich bestätigt, Europa ist nach rechts gerückt. Die Ergebnisse der Europawahlen vom 6. bis 9. Juni sprechen eine klare, mancherorts überdeutliche Sprache: Fast 37 Prozent holten die zwei Parteien der extremen Rechten in Frankreich und provozierten Präsident Emmanuel Macron damit zu seiner hochriskanten Neuwahlentscheidung.[1] Auch in Italien stimmte mehr als jeder Dritte für ultrarechte Kräfte, in Österreich jeder Vierte. Und in Deutschland wurde die AfD zweitstärkste Kraft, obwohl ihr Spitzenkandidat im Wahlkampf die SS verharmlost hatte und unter dem Verdacht steht, Geld aus Moskau angenommen zu haben.
Auf den zweiten Blick verändert sich das Bild jedoch. Die Zugewinne für die Ultrarechten resultieren ganz wesentlich aus ihrer Stärke in den großen, bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten. Hingegen trotzten der Norden und – entgegen manchen Klischees – auch der Osten Europas diesem Trend. Dort blieben die Rechtsaußen hinter ihren Erwartungen zurück, auch weil Gegenkräfte erstarkt waren: In Ungarn büßte die Fidesz um den völkisch-nationalistischen Premier Viktor Orbán Stimmen ein, während die neue Partei seines konservativen Herausforderers Péter Magyar aus dem Stand gut 30 Prozent erhielt. In Polen gewann die Bürgerplattform um den konservativen Premier Donald Tusk knapp gegen die rechtsautoritäre PiS, die vor fünf Jahren noch auf Platz eins stand. Auch in Schweden und Finnland schrumpften die Rechtspopulisten, während gleichzeitig Sozialdemokraten, Grüne oder Linke zulegten. Die Ultrarechten sind also stark wie nie – aber auch alles andere als unbesiegbar.
Für die proeuropäischen Kräfte bedeutet das zweierlei: Erstens müssen sie sich von den Ultrarechten nicht lähmen lassen. Im Europaparlament verfügen Konservative, Sozialdemokraten und Liberale gemeinsam mit den Grünen über genügend Stimmen, um Ursula von der Leyen Mitte Juli zu einer zweiten Amtszeit als Kommissionspräsidentin zu verhelfen. Trotz der zu erwartenden Abweichler in den eigenen Reihen muss die CDU-Politikerin also nicht das befürchtete Bündnis mit den postfaschistischen Fratelli d‘Italia eingehen. Ein solches hat die konservative Europäische Volkspartei – wohl auch auf Druck von Sozialdemokraten und Liberalen – schon kurz nach der Wahl ausgeschlossen, sich eine punktuelle Zusammenarbeit aber offengehalten. Schwieriger gestaltet sich die Lage im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs. Dort droht der Ausfall des deutsch-französischen Motors, weil Macron und Kanzler Olaf Scholz nach der Europawahl innenpolitisch massiv unter Druck stehen, während Italiens postfaschistische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nach ihrem Wahlsieg mit neuem Selbstbewusstsein auftritt.
Die proeuropäischen Kräfte müssen daher, zweitens, alles daransetzen, auch einander nicht zu lähmen. Denn gerade jetzt ist die EU gefordert wie wohl noch nie in ihrer Geschichte. Eine ganze Reihe von Krisen und Schreckensszenarien verlangt nach umfassenden Antworten, und das möglichst schnell: Sollte Donald Trump im November zum US-Präsidenten gewählt werden, verlören die EU-Staaten wohl ihren wichtigsten Verbündeten bei der Unterstützung der Ukraine und der Abschreckung Russlands. Das rauere globale Umfeld hat aber auch die wirtschaftliche Konkurrenz härter werden lassen, insbesondere mit China und den USA, die grüne und digitale Zukunftstechnologien stärker fördern und gegenüber Wettbewerbern härter schützen.
Längst zirkulieren in Brüssel ambitionierte Reformpapiere, darunter eines, das der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, im Auftrag von der Leyens verfasst hat. Dort konstatiert Draghi, die „Organisation, Entscheidungsfindung und Finanzierung“ der EU seien für „,die Welt von gestern‘ entworfen worden – prä-Covid, prä-Ukraine, vor dem Flächenbrand im Nahen Osten und vor der Rückkehr der Großmachtrivalität“. Angesichts dessen fordert Draghi nicht zuletzt gemeinsame europäische Investitionen in Klimaschutz und Verteidigung. Es brauche nichts weniger als einen „radikalen Wandel“.[2]
Nimmt man die Reaktionen nach der Europawahl als Indiz, so scheinen viele EU-Politiker den Ernst der Lage verstanden zu haben. Denn anders als noch vor fünf Jahren verzichteten die Staats- und Regierungschefs dieses Jahr, auch im Schatten eines drohenden Wahlsiegs der extremen Rechten in Frankreich, auf ein allzu langes Ringen um die Spitzenpositionen. Das befürchtete „Kungeln in Brüssel, während Charkiw und unser Planet brennen“[3] blieb weitgehend aus. Stattdessen standen bald drei zentrale Personalentscheidungen mehr oder weniger fest: von der Leyen als neu-alte Kommissionspräsidentin, Portugals ehemaliger sozialistischer Premier António Costa als neuer Ratspräsident und die liberale estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas als neue EU-Außenbeauftragte. Damit würden alle drei Posten mit hochrangigen Kandidaten besetzt – die zugleich symbolisch für drei der drängendsten Aufgaben und Debatten in der EU stehen: Klimaschutz, gemeinsame Wirtschaftspolitik und die geopolitische Herausforderung durch Russland.
Nach der grünen Welle
Mit Ursula von der Leyen, über deren angeblich geplante Ausbootung zuletzt zahllose Gerüchte kursierten,[4] stünde nach ihrer für den 18. Juli geplanten Wahl erneut eine machtbewusste Politikerin an der Spitze der EU-Kommission. Das unterscheidet sie etwa von ihrem Vorvorgänger José Manuel Barroso, den die Staats- und Regierungschefs auch deshalb schätzten, weil er ihnen nicht gefährlich werden wollte. Und Durchsetzungsstärke wird von der Leyen benötigen, sollte sie das größte Vorhaben ihrer ersten Amtszeit retten und vertiefen wollen: den Green Deal.[5] Denn gerade in den Reihen der Konservativen wurden sofort nach der Wahl Forderungen laut, den Klimaschutz teilweise wieder zurückzunehmen. Insbesondere das Verbrenner-Aus wollen CDU/CSU kippen und sie können dabei auf Unterstützung von Rechtsaußen hoffen.
Dabei sehen die Konservativen ein Momentum auf ihrer Seite und interpretieren die starken Verluste der europäischen Grünen als Absage an einen angeblich zu strengen Klimaschutz. Und in der Tat ist der Kontrast zur vorigen Europawahl markant: Noch 2019 schien eine „grüne Welle“ Europa erfasst zu haben. Mit dem Rückenwind einer internationalen Klimabewegung erzielten beispielsweise die deutschen Grünen ein Rekordergebnis von über 20 Prozent und avancierten hierzulande zur zweitstärksten Kraft. In Frankreich eroberten sie überraschend den dritten Platz. Plötzlich erschienen in Frankreich und Deutschland ein grüner Präsident oder eine grüne Kanzlerin denkbar. Nun aber haben beide Parteien massiv verloren. Insgesamt schrumpften nur die Liberalen im Europaparlament in ähnlichem Maß wie Europas Grüne.[6]
Entscheidend ist aber: Die Grünen sind kleiner als ihr Thema. Denn trotz allen Gegenwindes und anderer, scheinbar drängenderer Krisen, sehen viele Europäerinnen und Europäer immer noch die Notwendigkeit, mehr gegen die Erderwärmung zu unternehmen. Laut einer jüngsten Umfrage befürwortet mehr als jeder Zweite in Frankreich, Polen und Deutschland einen deutlich konsequenteren Klimaschutz – bei den Mitte-rechts-Wählern sind es teils sogar noch mehr: 62 Prozent bei den Tusk-Anhängern in Polen, 57 Prozent bei den Macron-Wählern und immerhin noch 47 Prozent bei den Unionswählern in der Bundesrepublik.[7]Klimafreundliche Haltungen schlagen sich also nicht zwangsläufig in der Wahl grüner Parteien nieder, sondern sind längst breiter in den europäischen Gesellschaften verankert.
Dazu kommt eine Machtfrage: Da aus dem proeuropäischen Lager die Ersten bereits erklärt haben, von der Leyen nicht wählen zu wollen, darunter die französischen Konservativen und die tschechischen Liberalen, dürften die Grünen für eine informelle Koalition gebraucht werden und könnten auf diese Weise Einfluss nehmen. Dennoch wird der Klimaschutz weit umkämpfter sein als noch vor fünf Jahren.
Die Renaissance des Staates
So wie von der Leyen für eine Transformation zum grünen Kapitalismus steht, verkörpert António Costa einen zweiten entscheidenden Wandel in Europa: die vorsichtige Abkehr vom Neoliberalismus und die Renaissance des Staates. Costa war in seiner Regierungszeit in Portugal graduell vom Austeritätskurs der Eurokrisenjahre abgerückt und damit auch wirtschaftlich erfolgreich. Da er zugleich die offene Konfrontation mit der EU-Kommission vermied, die bei seinem Amtsantritt 2015 noch stark auf Sparpolitik gedrängt hatte, wuchs der Einfluss des Sozialisten in Brüssel und zeitgleich auch der seiner ähnlich orientierten spanischen Genossen.
Spätestens in der Pandemie setzte auch in anderen politischen Lagern in Europa die Rückbesinnung auf staatliche Investitionspolitik ein. Dafür steht die zweite große Leistung der EU-Kommission unter von der Leyen: der Corona-Wiederaufbaufonds. Nicht zuletzt auf Drängen Frankreichs nahm die EU erstmals gemeinsam Schulden auf, um Mitgliedstaaten, deren Wirtschaft durch die Lockdowns besonders geschädigt wurde, mit milliardenschweren Zuschüssen und Darlehen wieder auf die Beine zu helfen. Zugleich betrieb Brüssel Investitionssteuerung und knüpfte die Auszahlung der Gelder an die Bedingung, sie für die digitale und grüne Erneuerung zu verwenden. Etwas Ähnliches fordern Spaniens regierende Sozialisten nun mit Blick auf den Ukrainekrieg: Die EU solle erneut Schulden aufnehmen, um damit nicht zuletzt gemeinsame Rüstungsprojekte zu finanzieren und so die Abhängigkeit von Waffenimporten zu reduzieren.[8] Diese Idee aus Madrid ist deshalb wichtig, da die Schuldenregeln der EU es den Mitgliedstaaten teils schwermachen, höhere Verteidigungsausgaben zu stemmen. Selbst Frankreich, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Union, müsste angesichts seines Schuldenstandes eine stärkere Unterstützung Kiews mit verschärfter Austeritätspolitik im Inland kompensieren. Das würde nicht nur die starke Ungleichheit im Land verschärfen, sondern wäre auch eine Steilvorlage für die erstarkte kremlnahe Opposition, allen voran Marine Le Pen.
Sympathien für ein solches Vorgehen – das auch bei Investitionen in Klimaschutz und Infrastruktur angezeigt wäre –, gibt es in diesem Fall auch jenseits des linken Lagers, etwa von belgischen und estnischen Liberalen. Keine Unterstützung für diesen Vorstoß kommt bislang jedoch aus dem Bundeskanzleramt. Ausgerechnet die zwei größten noch von sozialdemokratischen Regierungschefs geführten Länder sprechen damit in einer zentralen Frage nicht mit einer Stimme. Europas Sozialdemokratie, das illustriert dieses Beispiel, fehlt ein strategisches Zentrum.
Ein solches benötigt aber nicht nur die Sozialdemokratie, sondern vor allem die EU insgesamt. Der Wiederaufbaufonds nach der Pandemie wäre ohne einen Kompromiss zwischen Macron und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht denkbar gewesen, nur gemeinsam konnten sie die widerstreitenden Vorstellungen in der EU ausgleichen.[9] Heute aber, da Scholz und Macron innenpolitisch massiv angeschlagen sind, stellt sich die Frage: Wer in der EU ist noch in der Lage, einen breiten politischen Konsens zu organisieren, wenn der Krisendruck wächst und „radikaler Wandel“ (Draghi) geboten ist?
Ein entschlossenes Europa?
Das gilt auch und gerade in geopolitischer Hinsicht. Je näher der 5. November, der Tag der US-Präsidentschaftswahl, rückt, desto drängender wird eine europäische Strategie für den Fall, dass Trump ins Weiße Haus zurückkehrt. Die designierte EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas steht in dieser Lage für zwei Orientierungen: Einerseits ist die estnische Liberale klar transatlantisch orientiert und setzt zur Verteidigung ihres Landes auf die Nato. Andererseits gehört sie innerhalb der EU schon lange zu jenen, die auf eine stärkere Unterstützung der Ukraine, gerade auch in militärischer Hinsicht, und einen schärferen Kurs gegenüber Russland drängen. Sehr zum Unmut vieler mittelosteuropäischer Politiker galt sie damit als zu konfrontativ für die Nachfolge von Jens Stoltenberg als Nato-Generalsekretär; nicht zuletzt Washington und Berlin haben sich stattdessen auf den ehemaligen niederländischen Premier Mark Rutte festgelegt.
Ihre Ernennung zur EU-Chefdiplomatin ist aber mehr als eine Kompensationsentscheidung. Denn mit Kallas übernähme erstmals eine ehemalige Regierungschefin diesen Posten und würde ihn damit enorm aufwerten. Und auch gegenüber Russland wäre das Signal deutlich: Wenn die EU ausgerechnet Kallas zu ihrer Stimme in der Welt macht, dann soll das den Willen bekunden, in der Unterstützung der Ukraine nicht nachzulassen.
Ob das mehr als ein Symbol bleibt und ob sich die EU – in dieser wie in anderen Krisen – tatsächlich entschlossen und trotz erstarkter Nationalisten handlungsfähig zeigen wird, das müssen die kommenden Jahre erweisen. Sicher ist nur eines: Es stand lange nicht mehr so viel auf dem Spiel wie heute.
[1] Vgl. den Beitrag von Felix Heidenreich in dieser Ausgabe.
[2] Mario Draghi, Radical Change – Is What Is Needed, geopolitique.eu, 16.4.2024.
[3] Timothy Garton Ash, Wake up! After these elections, Europe is again in danger, theguardian.com, 10.6.2024.
[4] Vgl. etwa Barbara Moens, Nicholas Vinocur und Jakob Hanke Vela, Who could take on von der Leyen for Commission president?, politico.eu, 25.4.2024.
[5] Steffen Vogel, Europawahl: Mit rechts gegen den Klimaschutz, in: „Blätter“, 6/2024, S. 9-12.
[6] Ein Großteil der grünen Verluste entfällt allerdings auf Deutschland und Frankreich. Zugleich konnten die Grünen in Regionen zulegen, in denen sie bislang eher schwach vertreten waren – dem Süden und Osten der EU, etwa in Litauen, Slowenien und Italien.
[7] Tarik Abou-Chadi, Jannik Jansen, Markus Kollberg und Nils Redeker, Debunking the Backlash. Uncovering European Voters’ Climate Preferences, „Jacques Delors Centre Policy Brief“, 7.3.2024.
[8] Jan Strupczewski, EU should consider joint borrowing for defence, economic security - Spain, reuters.com, 12.3.2024.
[9] Steffen Vogel, Merkels Wende: Europas letzte Chance?, in: „Blätter“, 7/2020, S. 5-8.