Wie die Ampelkoalition uns in die Krise spart

Bild: Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) beim Bürgerdialog in Lübeck, 6.2.2024 (IMAGO / photothek / Janine Schmitz)
Als Finanzminister Christian Lindner auf dem jüngsten World Economic Forum in Davos gefragt wurde, ob Deutschland ein kranker Mann sei, antwortete er: „Deutschland ist ein müder Mann nach einer kurzen Nacht.“[1] Die deutsche Wirtschaft nur etwas müde? Das klingt beruhigend, aber ist der Patient Deutschland bei Doktor Lindner wirklich in guten Händen?
Losgetreten wurde die Diskussion durch den „Economist“, der Deutschland bereits im vergangenen Sommer zum zweiten Mal nach 1999 zum „kranken Mann Europas“ erklärt hat. Ein von der Zeitschrift durchgeführtes Ranking, basierend auf Daten zu Inflation, Bruttoinlandsprodukt (BIP), Arbeitsmarkt und Aktienperformance für 35 vorwiegend wohlhabende Volkswirtschaften, verortet Deutschland auf Platz 27, während das von manchen deutschen Ökonomen schon totgesagte Griechenland es nun schon zum zweiten Mal hintereinander auf Platz 1 schaffte.[2] Manche sehen die Lage Deutschlands noch dramatischer: So zitierte die „Financial Times“ einen Chiphersteller mit den Worten: „Deutschland ist nicht nur der kranke Mann Europas, es stellt sich heraus, dass es auch der dumme Mann Europas ist.“[3] Das klingt übertrieben, aber tatsächlich ist das am 8. Januar von der Regierung angekündigte Sparpaket alles andere als kluge Politik. Erforderlich geworden war es durch das historische Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 15. November 2023, in dem das Gericht die geplante Finanzierung des sogenannten Klima- und Transformationsfonds mit ungenutzten Kreditermächtigungen aus dem Pandemiejahr 2021 für nichtig, da mit dem Grundgesetz unvereinbar, erklärt hat. Damit stand die Ampelkoalition finanzpolitisch faktisch blank da.
Der naheliegende – und notwendige – Ausweg aus dieser fatalen Situation wäre gewesen, für das Jahr 2024 die Notstandsklausel der Schuldenbremse in Anspruch zu nehmen, wie schon in den Jahren 2020 bis 2023. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse begrenzt das Haushaltsdefizit des Bundes auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; in Notsituationen kann sie jedoch mit der Mehrheit des Bundestages ausgesetzt werden. Doch in der Ampelkoalition wedelte wieder einmal der Schwanz mit dem Hund: Die FDP als Juniorpartner war nicht bereit, auf den Wunsch von Sozialdemokraten und Grünen zu einer Reform oder wenigstens Aussetzung der Schuldenbremse einzugehen. Die daraus resultierenden Maßnahmen sind in jeder Hinsicht kontraproduktiv. Denn Deutschland ist tatsächlich, jedenfalls ökonomisch betrachtet, ein kranker Mann.
Das BIP sank im vergangenen Jahr um 0,3 Prozent. Unsere Wirtschaft stagniert damit seit vier Jahren. Und daran dürfte sich auch nichts Grundlegendes ändern: Deutschland ist nach Argentinien das Land, dem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem ökonomischen Ausblick das geringste Wachstum für 2024 prognostiziert hat.[4]
Als Hauptverantwortlicher für die anhaltende ökonomische Leistungsschwäche wird in der öffentlichen Diskussion, vor allem seitens der FDP, regelmäßig die „überbordende Bürokratie“ ausgemacht – also der Staat. Auch wenn die deutsche Bürokratie tatsächlich oft langsam und ineffizient arbeitet, fragt sich, ob dies wirklich als die Erklärung für die schwache Wirtschaftsleistung herhalten kann. Das International Institute for Management Development erfasst die Effizienz staatlichen Handelns jedes Jahr in einem internationalen Ranking. 2023 belegt Deutschlands Bürokratie darin einen nicht gerade überragenden 27. Rang, aber die meisten Konkurrenten schneiden nicht viel besser ab: die USA belegen Rang 25, Großbritannien den 28. und China den 35. Platz. Japan, Frankreich, Spanien und Italien liegen sogar noch dahinter. Selbst wenn die zahllosen Auflagen in Deutschland ein Wachstumshemmnis sind, muss es also tiefer liegende Probleme für die anhaltende Schwäche geben. Diese sind auch leicht auszumachen, wenn man die Besonderheiten des „Geschäftsmodells“ der deutschen Wirtschaft unter die Lupe nimmt. Dieses Geschäftsmodell lässt sich, in Abgrenzung von denen der globalen Wettbewerber, in Form dreier konzentrischer Kreise beschreiben.
Der äußere Kreis ist die ausgeprägte Exportorientierung. Seit den 1990er Jahren hat sich die deutsche Exportquote (das Verhältnis der Ausfuhren zum BIP) nahezu verdoppelt. Mit 47 Prozent ist sie weitaus höher als in Frankreich und Großbritannien (29 Prozent), China (20 Prozent) und erst recht in den USA (elf Prozent). In den Zeiten der rasanten Globalisierung kurbelten die Exporte die deutsche Wirtschaft an und in den hohen Leistungsbilanzüberschüssen bildete sich zugleich die mangelnde Binnennachfrage ab. Aufgrund des zunehmenden Protektionismus – nicht nur in China, sondern besonders in den USA – fällt der Welthandel inzwischen als Wachstumsmotor aus. Deutschland kann sich also nicht mehr wie früher darauf verlassen, dass andere Länder seine Wirtschaft stimulieren.
Der mittlere Kreis des deutschen Wirtschaftsmodells ist die starke Fokussierung auf das gesamte verarbeitende Gewerbe: Dessen Anteil an der Wertschöpfung beträgt 19 Prozent und ist damit höher als in den USA (elf Prozent) und mehr als doppelt so hoch wie in Frankreich und Großbritannien (neun Prozent). Für Deutschland, das jahrzehntelang von seiner starken industriellen Basis profitiert hat, ist es jetzt viel schwerer, die hohen Energiepreise und die gebotene Dekarbonisierung der Wirtschaft zu verkraften als für Länder mit einem starken Dienstleistungssektor. Auf diesem Gebiet leidet Deutschland (ebenso wie die anderen europäischen Länder) daran, dass es kaum über digitale Plattformen verfügt. Eine Untersuchung zeigte unlängst, dass 80 Prozent des Weltmarktwertes dieser Plattformen auf die USA entfallen – auf China 17 Prozent und auf Europa insgesamt nur 2 Prozent.[5]
Der unerschütterliche Glaube an die »Ordnungspolitik«
Der innere Kreis des deutschen Geschäftsmodells ist schließlich ein spezieller und besonders wichtiger Teil des verarbeitenden Sektors, nämlich die deutsche Automobilbranche, die sich sehr stark auf China als Absatzmarkt konzentriert. Die Fahrzeugproduktion in Deutschland erreichte ihren Höhepunkt 2017 und liegt heute unter dem Niveau der Zeiten vor dem Finanzcrash von 2008. Die realen Schwierigkeiten, mit denen etwa Volkswagen auf dem chinesischen Markt zu kämpfen hat, offenbaren die tiefer liegenden Probleme der deutschen Autobauer. Sie haben nicht nur zu lange auf den Verbrennungsmotor gesetzt, sondern auch die Bedeutung digitaler Dienstleistungen unterschätzt. Dass Volkswagen auf ein relativ kleines chinesisches Unternehmen (XPENG) angewiesen ist, um die digitale Performance seiner Autos zu verbessern, zeigt, wie sehr die Zeiten sich wandeln: Früher belieferte Deutschland China mit Spitzentechnologien. Heute exportieren chinesische Batteriehersteller wie CATL Spitzentechnologien nach Deutschland.Daher geht der bei deutschen Medien (und deutschen Ökonomen) so beliebte Befund, die Bürokratie – und die damit zusammenhängenden hohen Steuern – seien Deutschlands Hauptproblem, am Kern der Sache vorbei. Das eigentliche Problem liegt tiefer: Deutschland ist mit einer fundamentalen Infragestellung seines Geschäftsmodells konfrontiert, der mit Deregulierung und Steuersenkungen nicht beizukommen ist. Was es braucht, ist eine umfassende Transformation – und die erfordert vor allem ein neues Wirtschaftsparadigma.
In der ökonomischen Debatte gibt allerdings nach wie vor der unerschütterliche Glaube führender Wirtschaftswissenschaftler an die Vorzüge des Marktes den Ton an. Der Schlachtruf der orthodoxen deutschen Ökonomen ist das unübersetzbare Wort Ordnungspolitik. Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, fasste dieses Credo kürzlich in wohlformulierte Worte: „Der Staat weiß nicht besser als die Wirtschaftsakteure, wo die zukünftigen Chancen liegen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Politik massiv von Interessengruppen beeinflusst wird. Und die kämpfen oft darum, das Bestehende zu bewahren oder das Tempo des Wandels zumindest einzubremsen.“
Die augenfälligste Konsequenz dieser – global völlig einzig-, um nicht zu sagen sonderwegsartigen – Ordnungspolitik ist die seit 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Sie schreibt faktisch ausgeglichene Haushalte vor. Dies bedeutet, dass weder die Bundesregierung noch die Regierungen der Bundesländer produktive staatliche Investitionen mit Schulden finanzieren dürfen. Diese Regel, die es tatsächlich in keinem anderen größeren Land gibt, erhebt die Staatsverschuldung implizit zum wichtigsten Anliegen und ordnet ihm alle anderen wirtschaftspolitischen Anliegen unter. Dabei hat Deutschland von allen G7-Staaten mit Abstand die niedrigste Schuldenquote (Verhältnis der Staatsverschuldung zum BIP) – mit der Schuldenbremse macht es also das am wenigsten dringliche Problem zur obersten Priorität.
Unter diesen Umständen wird der Umbau seiner Wirtschaft für Deutschland ein sehr schwieriges Unterfangen. Die Verschuldungsgrenzen verhindern staatliche Investitionen und schränken die fiskalischen Spielräume für Maßnahmen zur Ankurbelung der Binnennachfrage ein. Dabei wäre die deutliche Abschwächung der Bautätigkeit infolge der hohen Zinsen eine ideale Gelegenheit für Investitionen in den sozialen Wohnungsbau. Auch infolge der Migration ist es in Deutschland sehr schwer bis unmöglich geworden, in größeren Städten Wohnraum zu zumutbaren Preisen zu finden. Doch beim Sondergipfel zum Thema Wohnungsbau, den die Bundesregierung im vergangenen Jahr organisierte, war die Bauministerin Klara Geywitz nicht gewillt oder nicht in der Lage, mehr als die ausgesprochen geringe Summe von 1,3 Mrd. Euro für 2023 und 1,6 Mrd. Euro für dieses Jahr bereitzustellen.
Auch die notwendige Neuausrichtung der deutschen Industrie auf neue Technologien und Dienstleistungen ist ein Opfer der Schuldenbremse geworden. Diese Neuausrichtung muss im großen Stil durch Forschungsaktivitäten unterstützt werden, aber die Staatsausgaben in diesem Bereich befinden sich im freien Fall. Das ist umso beunruhigender, als Deutschland in der Hightechforschung schon jetzt keine dominierende Rolle spielt. Ein kürzlich vom Australian Strategic Policy Institute veröffentlichtes Ranking der Forschungsaktivitäten mit Blick auf 64 innovative Technologien zeigt, dass China auf diesem Gebiet mit Abstand am aktivsten ist, gefolgt von den USA. Deutschland rangiert hinter Indien, Südkorea und Großbritannien.
Die mangelnden Staatsausgaben sind aber nicht der einzige Faktor, der die Transformation der deutschen Wirtschaft ausbremst. Während in China und den USA, aber auch in vielen kleineren Ländern der Staat eine maßgebliche Rolle übernimmt, wenn es um die Ausgestaltung des Ökosystems für neue Technologien geht, lehnen viele deutsche Ökonomen angebliche „Subventionswettläufe“ vehement und grundsätzlich ab. Im April 2023 empfahlen die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute in ihrer Gemeinschaftsdiagnose: „Standort- statt Industriepolitik, Subventionswettläufe anderen überlassen.“ Eine Folge dieses passiven Denkens ist, dass deutsche Autobauer wie Mercedes und Volkswagen inzwischen ihre Elektrofahrzeugproduktion nach Nordamerika verlagern, weil sie dort in den Genuss der großzügigen Subventionen im Rahmen des amerikanischen Inflation Reduction Act oder der entsprechenden kanadischen Regelungen kommen.
Angesichts dieser fatalen Lage wäre es nicht nur hilfreich, sondern dringend geboten gewesen, wenn die Regierung die Wirtschaft mit expansiven Maßnahmen angekurbelt hätte. Stattdessen sorgt das Sparpaket nun für einen negativen fiskalischen Impuls von rund 30 Mrd. Euro. Auch wenn die Lage nicht direkt vergleichbar ist, erinnert es doch an die prozyklische Politik, die Reichskanzler Heinrich Brüning zwischen 1930 und 1932 betrieb und damit den Weg in den Nationalsozialismus ebnete. Auch unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Bekämpfung der Inflation sind die beschlossenen Maßnahmen problematisch. Der Preis pro Tonne Kohlendioxid wurde von 30 auf 45 Euro angehoben, während zugleich ein geplanter staatlicher Zuschuss in Höhe von 5,5 Mrd. Euro für die Übertragungsnetzentgelte gestrichen wurde, was zu einer Erhöhung der Stromnetzentgelte für Privatkunden um rund 25 Prozent geführt hat. Diese Maßnahmen werden von weiteren Erhöhungen der indirekten Steuern im Jahr 2024 begleitet: So wurde beispielsweise der Mehrwertsteuersatz für Gas- und Gaststättenleistungen, der auf 7 Prozent gesenkt worden war, wieder auf 19 Prozent angehoben. Im Ergebnis übt die Steuerpolitik einen massiven Aufwärtsdruck auf die Inflation aus. In einem Wettbewerberumfeld, in dem sie ansonsten allmählich zurückgeht, sind solche Maßnahmen kontraproduktiv. Sie erschweren das, was Isabel Schnabel vom Direktorium der Europäischen Zentralbank die „letzte Meile“ auf dem Weg zur Preisstabilität nennt. Dabei hat der Internationale Währungsfonds im vergangenen Jahr das Konzept der „unkonventionellen Fiskalpolitik“ propagiert – und damit Maßnahmen gemeint, die sich dämpfend auf die Inflation auswirken. Das Sparpaket ist das Gegenteil – negative unkonventionelle Geldpolitik.
Ökologische Transformation? Faktisch gestrichen
Im Rahmen des Pakets wurde die Subventionierung von Elektroautos gestrichen, was die angestrebte Transformation des zentralen deutschen Wirtschaftssektors erheblich zurückwirft. Für das Jahr 2024 war eigentlich geplant, dass Käufer von elektrisch betriebenen Neuwagen (mit einem Nettolistenpreis von weniger als 45 000 Euro) einen staatlichen Zuschuss von 3000 Euro erhalten sollten. Bei einem entsprechenden Beitrag der Hersteller in Höhe von 1500 Euro hätte dies einen Umweltbonus von 4500 Euro ergeben. Doch nun ist dieser Anreiz ersatzlos gestrichen.
Unser Nachbar Frankreich zeigt derweil, wie intelligente Politik im Automobilsektor aussehen kann. Seit diesem Jahr wird der staatliche Zuschuss in Höhe von bis zu 7000 Euro nur noch für Elektroautos gewährt, deren Produktion weniger als 14,75 Tonnen CO2 ausstößt. Infolgedessen haben sechs in China hergestellte Elektroauto-Modelle ihre Subventionen verloren: der Dacia Spring, das Tesla Model 3 und vier SAIC MG-Modelle. Premium-EV-Modelle, die zumeist aus Deutschland stammen, sind aufgrund einer Preisschwelle von 47 000 Euro ebenfalls nicht länger förderfähig. Darüber hinaus hat die französische Regierung ein Leasingprogramm für 100 Euro pro Monat eingeführt. Es richtet sich an die weniger wohlhabenden 50 Prozent der Haushalte mit einem zu versteuernden Einkommen pro Haushaltseinheit (ein Erwachsener, die Hälfte pro Kind) von weniger als 15 400 Euro. Außerdem müssen die Fahrer „gros rouleurs“ (Großverbraucher) sein, die mehr als 8000 Kilometer pro Jahr fahren oder mehr als 15 km von ihrem Arbeitsplatz entfernt wohnen, zu dem sie mit ihrem eigenen Auto fahren müssen. Kurzum: Mit dem Wegfall der Förderung verteuert die Bundesregierung also nicht nur den Kauf von Elektroautos für die Verbraucher, sondern sie schadet auch der heimischen Autoindustrie, insbesondere Volkswagen, die bereits mit dem Übergang zur Elektromobilität zu kämpfen hat. Und dennoch halten viele deutsche Ökonomen die Abschaffung der Subventionen für Elektrofahrzeuge für eine gute Sache. Das einzig adäquate klimapolitische Instrument ist ihrer Ansicht nach die Bepreisung von CO2-Emissionen. Doch ist die Erhöhung des CO2-Preises für 2024 als Anreiz zum Energiesparen gerechtfertigt? Im Jahr 2019, als die Regierung den Preispfad für die Jahre 2021 bis 2026 beschloss, waren die Marktpreise für Gas, Benzin und Diesel deutlich niedriger als heute. Die heutigen Marktpreise würden, wären sie durch eine Erhöhung des CO2-Preises zustande gekommen, bedeuten, dass dieser auf 130 bis 150 Euro pro Tonne angehoben worden wäre. Einer der führenden deutschen Klimaökonomen, Ottmar Edenhofer, hat 2019 einen CO2-Preis von 130 Euro bis 2030 als angemessen bezeichnet, sodass wir heute bereits oberhalb des damals als ambitioniert erachteten Preispfades sind. Mit anderen Worten: Die Verbraucherpreise für Gas, Benzin und Diesel sind heute ohnehin deutlich höher, als es aus klimapolitischer Sicht eigentlich erforderlich wäre.
Darüber hinaus ist es weitgehend unstrittig, dass der Staat die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung an seine Bürger pro Kopf zurückgeben sollte. Dadurch würden jene, die wenig verbrauchen, besser gestellt als die Vielverbraucher. Aufgrund der durch die Schuldenbremse verursachten finanziellen Schwierigkeiten fällt das dafür ursprünglich vorgesehene „Klimageld“ jetzt jedoch aus, was zu Unmut – und zwar gerade bei den finanziell eher schwächeren – Bürgern führt, die zu Recht das Gefühl haben, dass sie zu viel für Energie bezahlen müssen. Sich eindimensional auf das Instrument der CO2-Bepreisung zu verlassen, ist ohnehin politisch gefährlich, da viele deutsche Bürger nicht in der Lage sein werden, fossile Energien durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Man denke nur an jene nicht wenigen Haushalte mit geringem Arbeitseinkommen, die wegen der hohen Mieten in den Städten auf dem Land leben. Wegen des oft unzureichenden Nahverkehrs müssen sie mit dem Auto in die Stadt pendeln, können sich aber gar kein Elektroauto leisten – und leiden deshalb unverhältnismäßig unter den gestiegenen Benzinkosten.
Angesichts des wachsenden Zuspruchs für die rechtsextreme Alternative für Deutschland sind hohe Energiepreise ohne eine Rückführung der Steuereinnahmen an die Bürger auch politisch hochriskant. Zumal dann, wenn gleichzeitig auch noch die Subventionen für Elektroautos abgeschafft werden. Gewiss, es ist schwer, sich den Zwängen der Schuldenbremse zu entziehen, zumal für eine Reform die im Grundgesetz vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit erforderlich wäre. Und dieser verweigern sich sowohl die Union als auch die FDP. Doch angesichts des Erstarkens der AfD muss man sich fragen, warum es nicht möglich ist, eine gute Wirtschaftspolitik für Deutschland im Konsens der demokratischen Parteien zu gestalten. Und da selbst konservative Ökonomen inzwischen eine Reform der Schuldenbremse fordern oder zumindest – wie der Wirtschafts- und Klimaminister – ein „Sondervermögen Transformation“, sollte man die Hoffnung auf Einsicht der ökonomischen Notwendigkeit nicht aufgeben. Denn auch die neoliberalen Hardliner kommen an einer Erkenntnis nicht vorbei: Anders als 1999 ist Deutschland heute tatsächlich krank. Schwächelt das Wachstum weiter und ziehen die privaten Investitionen nicht endlich an, wird der deutschen Wirtschaft immer mehr die Luft ausgehen.
Das Anwachsen der AfD als wirtschaftspolitischer Kollateralschaden
Dabei ist die richtige Medizin durchaus parat: Der „kranke Mann Europas“ könnte geheilt werden, wenn die deutsche Politik bereit wäre, die für die Genesung angezeigte Medizin einzunehmen. Das allerdings setzt ein neues Denken voraus: Statt eines oft bedingungslosen Vertrauens in die Kräfte des Marktes braucht es eine differenziertere Sicht der Dinge. Der Staat darf nicht länger nur als Problem betrachtet werden („Bürokratie abbauen“), sondern muss auch als Lösung für Probleme erkannt werden, die die Märkte aus eigener Kraft eben nicht „lösen“ können. Die taugliche Medizin liegt tatsächlich auf der Hand: staatliche Schulden, gezielt eingesetzt als Wachstumsmotor. Gefragt sind also gerade nicht die sofort wieder geforderten Steuersenkungen und damit einhergehende Transfers an die ohnehin wirtschaftlich Starken, sondern mehr staatliche Investitionen, um die Binnennachfrage zu beleben und so die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien zu stimulieren.
Genau zu diesem Zweck war der Klima- und Transformationsfonds eingeführt worden. Mit seiner Hilfe sollten etwa, neben vielem anderen, die so dringend notwendigen umfangreichen Modernisierungen bei der Deutschen Bahn finanziert werden. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss nun unbedingt eine alternative Finanzierung gefunden werden.
So hat der Bund jetzt Post-Aktien für mehr als zwei Mrd. Euro verkauft, um an Geld zu kommen. Ist es aber eine kluge Politik, wenn der deutsche Staat, der sich derzeit zu einem Zinssatz von kaum mehr als zwei Prozent langfristig verschulden kann, große Anteile an rentablen Unternehmen verkauft, nur weil er sich an die „Schuldenbremse“ halten muss?
Man kann nur hoffen, dass der Ampel ein Licht aufgeht; immerhin ist Deutschland das Land der Aufklärung. Was jetzt im wirtschaftspolitischen Denken gefordert ist, hat kaum einer besser formuliert als Immanuel Kant in den Eingangsworten seines epochalen Aufsatzes „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.“ Habt endlich den Mut, möchte man der so verfahrenen Regierung zurufen, Euch Eures Verstandes zu bedienen, den Streit zu überwinden und die so dringend erforderlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu treffen – zum Wohle des Landes.
[1] Deutschland, ein „kranker Mann“? Nein, ein müder Mann mit Kaffee, sagt Lindner, spiegel.de, 20.1.2024.
[2] Which economy did best in 2023? Another unlikely triumph, economist.com, 17.12.2023.
[3] Guy Chazan, Germany’s budget crisis threatens chipmaking ambitions, ft.com, 5.12.2023.
[4] Strengthening the foundations for growth OECD Economic Outlook, Interim Report February 2024, oecd.org.
[5] Holger Schmidt, Amerikanische Plattformen bauen ihren Vorsprung aus, faz.de, 30.10.2023.