Ausgabe März 2024

Vom Koma in die Polarisierung: Das Zeitalter der Hyperpolitik

Jeman reckt ein Megafon in die Luft, 27.1.24 (IMAGO / Bildbyran / Michael Erichsen)

Bild: Jeman reckt ein Megafon in die Luft, 27.1.24 (IMAGO / Bildbyran / Michael Erichsen)

Alles ist erlaubt, aber nichts ist möglich“, mit diesem Bonmot brachte der französische Philosoph Michel Clouscard die Stimmung der 1990er Jahre auf den Punkt. Und sein Kollege Cornelius Castoriadis veröffentlichte kurz vor seinem Tod im Jahr 1997 ein Buch mit dem Titel „Der Aufstieg der Bedeutungslosigkeit“.[1] „Damals war es für junge Menschen nicht üblich, sich politisch zu definieren“, erinnert sich der 1990 geborene Schriftsteller Sam Kriss an diese Ära der Postpolitik aus der Perspektive eines Millennials. „Meine Freunde gaben gerne großspurige Erklärungen von sich wie ‚Ich bin größer als der Feminismus‘ oder ‚Politik ist etwas für Kleingeister‘. [...] Damals bestand das Problem mit den Wählern nicht in Falschinformationen, Extremismus oder darin, dass wir uns alle gegenseitig an die Gurgel gingen – sondern darin, dass wir uns nicht einmal aufraffen konnten, zur Wahl zu gehen.“[2]

Nach dem Untergang der Sowjetunion und dem Ende des Systemkonflikts als dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ hatten sich die Bürger in ihrem privaten Bereich abgeschottet. Politik lief auf Sparflamme. Technokraten, zumeist aus den Zentralbanken oder Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds, nahmen die Zügel in die Hand. Und im Deutschen etablierte sich der Begriff „Alternativlosigkeit“.

Diese neue Welt konnte durchaus befreiend wirken. Die Entlassung aus den ideologischen Kirchen des 20. Jahrhunderts wurde mit einem Gefühl der Begeisterung aufgenommen, insbesondere von denjenigen, die unter den patriarchalen und rassistischen Strukturen des „organisierten Kapitalismus“ nach 1945 gelitten hatten, oder von Dissidenten, die sich gegen die kommunistischen Diktaturen in ihren Ländern gewandt hatten.

So wohnte eine Gruppe polnischer Dichter ganz bewusst der Eröffnung des ersten McDonald’s im Land bei, und katholische Priester weihten eine Coca-Cola-Fabrik ein. Auf der anderen Seite des Atlantiks wählte die Demokratische Partei „Macarena“ als Erkennungsmelodie für ihren Parteitag im Jahr 1996. Zwei Jahre später schaltete Pizza Hut einen TV-Spot, in dem Michail Gorbatschow, der letzte Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, mit seiner Enkelin eine Filiale der Fastfood-Kette am Roten Platz betritt. An einem der Tische bricht daraufhin ein heftiger Streit aus: „Seinetwegen haben wir die politische Instabilität!“, beklagt ein Vater. „Seinetwegen haben wir die Freiheit!“, entgegnet aufgebracht der Sohn. „Seinetwegen“, greift die Mutter schließlich schlichtend ein, „haben wir viele Dinge – unter anderem Pizza Hut.“

Totalisierung des Privaten und Marginalisierung der Öffentlichkeit

Diese Totalisierung des Privaten setzte allerdings eine sorgfältige Marginalisierung der Öffentlichkeit voraus. „Weil man sich politisch von niemandem mehr vertreten fühlte, konnte man genauso gut tun, wozu man Lust hatte“, schreibt die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux in ihrem Buch „Die Jahre“: „Wählen war eine Privatangelegenheit, eine Gefühlssache. Man wartete auf die spontane Eingebung im letzten Moment […]. Nur aus Gewohnheit und weil man sich vor Augen hielt, dass es eine uralte ‚Bürgerpflicht‘ war, bequemte man sich an einem Nachmittag im April, mitten in den Osterferien, wählen zu gehen.“[3] Drogen und Feste schienen Trost zu bieten, gepaart mit immer überschwänglicheren Konsumversprechen. „In einer Werbung hieß es, ‚wenn Sie die Wahl zwischen Geld, Sex und Drogen haben, nehmen Sie das Geld.‘“[4]

Zwei Jahrzehnte populistischer Wirren später lesen sich solche Schilderungen vertraut und fremd zugleich. Die aggressive Individualisierung und der Niedergang kollektiver Institutionen, den diese Autorinnen und Autoren erkannt hatten und den andere beklagten, wurden nicht aufgehalten. Abgesehen von einigen kleinen, überwiegend digitalen Ausreißern haben die Parteien ihre Mitglieder nicht zurückgewonnen. Die Kirchen haben ihre Bänke nicht wieder gefüllt. Der politische Wettbewerb ist nach wie vor stark eingeschränkt und wird überwiegend von einem kleinen Kartell von Berufspolitikerinnen und Fachleuten geführt, die ihrerseits feindlichen Märkten ausgeliefert sind. Die Zivilgesellschaft steckt weiterhin überall in der OECD-Welt in ihrer tiefen und langwierigen Krise, wobei das, was als „politisches“ Handeln durchgeht, von Flashmobs, Unternehmern, NGOs, Online-Persönlichkeiten und Philanthropinnen monopolisiert wird. Zumindest in dieser Hinsicht hat sich die Ära der Postpolitik noch nicht erledigt.

Trotzdem haben sich seit geraumer Zeit unleugbar einige Koordinaten verschoben. Der für die 90er Jahre so typische Cocktail aus Euphorie, Konsumismus und Apathie passt mit seiner starken posthistorischen, postpolitischen Note kaum in unsere Gegenwart. Stattdessen erleben wir in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Form der Repolitisierung.

2020, im letzten US-Wahlkampf, wurde Joe Biden mit einem Rekord von 81 Millionen Stimmen gewählt, sein Gegner Donald Trump erhielt immerhin 74 Millionen. Zeitgleich mit dessen Wahlsieg 2016 fand das Brexit-Referendum statt. Es war die größte demokratische Abstimmung in der Geschichte Großbritanniens. Der globale Black-Lives-Matter-Moment erwies sich vier Jahre später als Massenakklamation – plötzlich setzten sich Prominente und einige der größten Konzerne der Welt gegen Rassismus ein.[5] Jeff Bezos ließ ein BLM-Banner oben auf die Amazon-Seite setzen; David Guetta sampelte bei einem DJ-Set auf einem Dach Reden von Martin Luther King. Allein für die USA schätzt man die Teilnehmerzahl an den Kundgebungen auf bis zu 25 Millionen. Im Sommer 2020 ging also fast ein Zehntel der erwachsenen Amerikanerinnen auf die Straße, wobei sowohl Unternehmensanwälte als auch arbeitslose Teenager bis in die frühen Morgenstunden randalierten. Wenige Monate später griffen QAnon und Antilockdown-Demonstranten von Kanada bis Deutschland staatliche Einrichtungen an. Plattformen wie Tiktok, Youtube und Twitter sind voll mit politischen Inhalten, von Vloggern, die anarchistische Pamphlete rezitieren, bis hin zu rechten Influencern, die über Flüchtlinge wettern. Auf der anderen Seite gehen derzeit in Deutschland Hunderttausende gegen den Rechtsextremismus der AfD auf die Straße.

Wir erleben, so meine These, eine neue Form der Politik, die ich als Hyperpolitik bezeichne.[6] Dieser Begriff soll es ermöglichen, jene Form der Politik zu verstehen, die auf die Massenpolitik des späten 19. und des kurzen 20. Jahrhunderts, die Postpolitik der „sehr langen“ 1990er und die Antipolitik der Nullerjahre gefolgt ist.

Gewiss, Massenpolitik, Postpolitik, Antipolitik, Hyperpolitik – keine dieser Formen ist erschöpfend für den Zeitraum, in dem sie auftauchten; und natürlich gehen Periodisierungen in der Wirklichkeit nie so sauber auf wie auf dem Papier. Außerdem lassen sich die Analysen wohl nur eingeschränkt über die OECD-Welt hinaus verallgemeinern. Der Begriff Hyperpolitik deutet insofern eher auf eine Tendenz hin als auf einen totalisierenden Stil. Nichtsdestotrotz lautet meine These, dass die Hyperpolitik ein Gravitationspol im Kraftfeld des 21. Jahrhunderts ist und als solcher eine eingehende Betrachtung verdient. Der Begriff der Hyperpolitik könnte so zu einem Schlüssel zur Dechiffrierung der Mobilisierung in der Gegenwart werden.

Die zwei Achsen: Politisierung und Institutionalisierung

Die konkreten politischen Formen – von der Massenpolitik bis zur Hyperpolitik – lassen sich mit Hilfe eines Vierfelderschemas sortieren, das von zwei Achsen aufgespannt wird: Die eine Achse könnte man als die der allgemeinen Politisierung einer Gesellschaft bezeichnen, die andere gibt den Grad ihrer Organisiertheit und insbesondere der Institutionalisierung der politischen Beteiligung an.

Im Zeitalter der Massenpolitik war die Politisierung hoch, außerdem waren das gesellschaftliche und das politische Leben relativ stark institutionalisiert. Familiäre Bindungen spielten eine große Rolle, Menschen gingen regelmäßig in die Kirche, sie waren Mitglieder in Vereinen, aber auch in Gewerkschaften und Parteien. Diese Organisationen waren in abgrenzbaren Milieus verwurzelt und verfügten über halbwegs konsistente Ideologien. Entstanden ist die Massenpolitik zwischen 1848 und 1914, ihr Ende fällt in die Phase zwischen 1973 und 1989, wobei sich nach 1945 ein Übergang von einer „wilden“ zu einer „eingebetteten“ Variante vollzog, als die Früchte des Nachkriegsbooms die frühere Militanz besänftigten und eine Aufwertung der Privatsphäre beförderten.

Von der Massenpolitik über die Post- und Antipolitik zur Hyperpolitik

Die Postpolitik wiederum war gekennzeichnet von einer weitgehenden Entpolitisierung: Die Bürger zogen sich ins Private zurück, wollten mit Politik nicht viel zu tun haben – und mit regelmäßiger politischer Beteiligung schon gar nicht. Der Kontext war gekennzeichnet vom Niedergang sogenannter intermediärer Assoziationen, Zusammenschlüssen, die zwischen dem Staat und der Ebene der Individuen standen, Parteien, Verbänden und Vereinen. In den westlichen Ländern hatte sich die Postpolitik bereits in den 1970er und 80er Jahren angedeutet, mit dem Mauerfall trat sie in ihr klassisches Zeitalter ein, das bis etwa 2008 andauerte. In zwei – ungleich lange – Halbzeiten unterteilt wurde diese Phase durch die globalisierungskritischen bzw. „altermondialistischen“ Proteste rund um die Jahrtausendwende.

Anti- und Hyperpolitik schließlich vollziehen sich auf je eigene Weise in einer Welt, die einerseits eindeutig repolitisiert ist, in der aber andererseits die Erosion sozialer Bindungen anhält oder sich gar weiter verschärft. Die antipolitische Phase setzte nach 2008 ein, als die Repolitisierung zunächst einige Teilmilieus erreichte; in Fortsetzung dieses Trends, vielleicht auch als Reaktion auf die antipolitischen Turbulenzen zieht zwischen 2016 und 2020 die Hyperpolitik herauf. Das antipolitische Jahrzehnt ist insofern eine Zwischenphase, eingekeilt zwischen Post- und Hyperpolitik, für deren Anbrechen der literarische Erfolg Stéphane Hessels „Empört Euch“ und die Proteste stehen, die ab 2009 die OECD-Länder und andere Teile der Welt erfassten. Der progressiv-neoliberale Konsens der langen 1990er hatte seine Hegemonie eingebüßt. Im Laufe der Zeit zapften zunehmend etabliertere Akteure dieses antipolitische Potenzial an, auf die amorphe Inkubationsphase der Antipolitik folgte eine Periode der Semi-Institutionalisierung. Linke wie rechte Bewegungen brachten das etablierte Parteiensystem ins Wanken, der Prozess resultierte schließlich in den populistischen Siegesparaden der Jahre ab 2016 und dem Übergang zur Hyperpolitik.

Als Beobachter und Wissenschaftlerinnen den Begriff Antipolitik ab den frühen 2010er Jahren auf die Protestbewegungen nach 2008 anwandten, taten sie dies in gewisser Weise unabhängig von der früheren Bedeutung. Bei ihnen stand das Anti für eine andere Frontstellung, die man gut aus den Slogans der Indignados oder von Occupy Wall Street ablesen kann. Die Occupy-Demonstranten sahen sich als Teil der „99 Prozent“, die die Hegemonie des „1 Prozent“ herausforderten. Die spanischen Aktivisten riefen „¡Que se vayan todos!“ (Alle sollen abhauen!) und „¡No nos representan!“ (Sie repräsentieren uns nicht!). In ihrer Rahmung stand „el pueblo“ (das Volk) „la casta“ gegenüber, einer Kaste der Kapitalisten, der Technokraten und der Politiker der etablierten Parteien. Das Anti hatte hier also eine andere Stoßrichtung, diese Bewegungen richteten sich gegen den Status quo, gegen die Eliten, gegen das Establishment. Diese Orientierung kommt auch in der von Politikwissenschaftlern wie Cas Mudde, Cristóbal Rovira Kaltwasser und Jan-Werner Müller entwickelten Definition des Populismus als „dünne Ideologie“ zum Ausdruck, die „einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten“ gegenüberstelle, „wobei diese Eliten“, so Müller weiter, in der Logik des Populismus „eigentlich gar nicht wirklich zum Volk gehören“.[7]

Ein neues Verhältnis zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten

Schematisch gesprochen ist die Massenpolitik die klassische Form der Industriemoderne; die Postpolitik fällt in die Epoche der Deindustrialisierung und der neuen Globalisierung; die Antipolitik ist ein Kind des chaotischen Managements der Krise von 2008 ff. Und im Zeichen der Polykrise erblickt schließlich nach dem „Trump-Brexit-Moment“[8] des Jahres 2016 die Hyperpolitik das Licht der Welt.

Die Hyperpolitik ist gekennzeichnet durch ein neues Verhältnis zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, sie ist dynamisch und intensiv, sie polarisiert, bleibt inhaltlich aber relativ diffus. Parallelen zur Fluidität der Onlinewelt sind kaum zu übersehen.

Wo Jürgen Habermas in Bezug auf die sozialen Medien von einem neuen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ spricht, konfrontiert uns die Hyperpolitik mit einer Repolitisierung, die sich freilich unter vollkommen gewandelten Bedingungen vollzieht. Die Postpolitik ist endgültig vorbei, die antipolitischen Energien der 2010er Jahre haben ihr den Garaus gemacht. Die Politik dringt wieder ins Private, in die Kultur, ja sogar in die Ökonomie ein. „Heute gilt: Alles ist politisch“, so Adam Tooze 2023 in einem Interview. „Aus amerikanischer Sicht ist der neoliberale Versuch einer Entpolitisierung der Wirtschaft gescheitert.“[9]

Eine amerikanische Journalistin schrieb am Vorabend der Präsidentschaftswahl 2020: „Ich habe mich schon immer für Politik interessiert. Für einen Großteil meines Lebens war das aber ein Nischenthema […]. Die Wahl von Donald Trump hat die Politik dann allerdings wieder zu einem alles verzehrenden Thema gemacht. Alles ist politisch geworden: welche Sportarten man sich ansieht, welche Produkte man kauft und sogar wie man seine eigene Gesundheit schützt. Die Leute, die früher Katzenvideos im Internet geteilt haben, teilen jetzt schrille politische Memes, und politische Mitarbeiter aus der dritten Reihe sind zu Berühmtheiten geworden.“[10]

Hier zeigt sich: Politik ist jetzt nicht länger die ausschließliche Domäne von Technokraten, Streberinnen und NGO-Leuten. Politisches Engagement funktioniert aber weiterhin vollkommen anders als über weite Zeiträume des 20. Jahrhunderts. Es ist individualistischer, kurzfristiger, volatiler, weniger kohärent. Im Vergleich zur „hohen“ Politik der Jahre 1918 bis 1989 könnten wir von einer Form der „niedrigen“ Politik sprechen: niedriger Aufwand, niedrige Kosten, niedrige Exit-Schranken und kurze Zeitspannen.

Die Hyperpolitik unterscheidet sich damit sowohl von der Postpolitik der langen 1990er als auch von dem historisch deutlich dauerhafteren massenpolitischen Modus des 20. Jahrhunderts – und außerdem hat sie viel weniger handfeste Konsequenzen. Die Ära der Postpolitik ist zwar vorbei, doch die Politik präsentiert sich heute in einer Gestalt, die für Zeitreisende aus dem frühen 20. Jahrhundert wohl völlig unverständlich wäre. Erst im Kontrast zur einstigen Massenpolitik erlangen Anti- und Hyperpolitik ihre Lesbarkeit.

Das 20. Jahrhundert und die Ära der Massenpolitik

Wie aber war diese Massenpolitik genau beschaffen? Als sie gerade entstand, lieferte Max Weber seine kanonische Definition, Politik sei ein „starkes und langsames Bohren von harten Brettern“, das zugleich „Leidenschaft und Augenmaß“ erfordere. Um sie zu betreiben, müsse man „ein Führer“, ja „– in einem sehr schlichten Wortsinn – ein Held sein. Und auch die, welche beides nicht sind, müssen sich wappnen mit jener Festigkeit des Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist.“[11]

Webers im Revolutionswinter 1919 gehaltener Vortrag war kein Manifest der Massenmilitanz (und der Soziologe war alles andere als ein Kommunist). Seine Ausführungen können vielmehr als verschlüsselte Kritik an der revolutionären Ungeduld der deutschen Kommunisten nach dem Ersten Weltkrieg gelesen werden. Diese wollten ihren russischen Genossen nacheifern und „Deutschland rot anmalen“. Webers Zuhörer, Studenten aus einer rechten Verbindung, strebten womöglich selbst eine Karriere in der staatlichen Bürokratie an und sollten zunächst einmal zusammen mit rechten Freikorps die Eigentumsordnung verteidigen. Trotz ihrer Feindseligkeit waren Weber und seine Gegner doch Kinder derselben Zeit. Selbst wenn er in seinem Plädoyer für politische Unnachgiebigkeit die Perspektive der Eliten einnahm, sprach er über eine Politik, die eine dauerhafte Einbindung der Bevölkerung voraussetzte.

Sowohl Weber als auch die radikalen Linken hatten Formen des Engagements vor Augen, die durchweg geduldiger und langfristiger waren als jene, die uns im 21. Jahrhundert begegnen. Für die deutschen Kommunisten und Faschisten mag auch das Persönliche politisch gewesen sein. Aber sie wären wohl kaum auf die Idee gekommen, das Politische auf das Persönliche zu reduzieren. Zugleich war die Politik in eine breite und tief gestaffelte organisatorische Landschaft eingebettet. Die Massenpolitik der Zeit Webers war nicht weniger aufgeheizt als unsere hyperpolitische Ära. Sie war aber viel stärker institutionalisiert.

So mobilisierten die Proteste nach der Tötung von George Floyd Millionen von Menschen weltweit, um dann rasch wieder abzuebben. 1963 hatten die Teilnehmenden bei Martin Luther Kings March on Washington Gewerkschaftsanstecker und Städteplaketten an ihren Jacken getragen. Zwischen den Black-Lives-Matter-Demonstrantinnen gab es dagegen kaum bereits bestehende Verbindungen, die Bewegung hatte keine Kader, höchstens ein paar Mitarbeiter von Antirassismus-NGOs als Flugbegleiter. Episoden des Kulturkampfs um „woke“ Themen beherrschen einige Tage oder auch nur Stunden die sozialen Medien, um bald vom nächsten Skandal abgelöst zu werden.

Nur einige weitere Beispiele dieser neuen Kurzlebigkeit: Die Gilets Jaunes blockierten französische Autobahnen, haben sich aber ebenfalls längst wieder zerstreut. In den 2010er Jahren schien es kurz, als könnten Piraten-Parteien sich als neue, digitale Organisationen etablieren – heute sind sie bereits so gut wie vergessen. Die Klimastreiks legten von Schweden bis Osttimor den Schulalltag lahm, doch als Speerspitze der Klimabewegung wurden die Fridays-for-Future-Aktivistinnen von Extinction Rebellion und der Letzten Generation abgelöst.

Kurzum: Wie die neuen Medien und die Finanzmärkte mit ihren notorisch kurzen Zyklen ist heute auch die Sphäre der politischen Öffentlichkeit von unkontrollierbaren Zuckungen und Kontraktionen geprägt, ohne dass sich eine dauerhafte Infrastruktur herauskristallisieren würde.

Das neue Institutionen-Hopping

Allerdings wäre die neue Hyperpolitik kaum denkbar ohne ein Set aufeinander bezogener Bedingungen. In sozialer Hinsicht gehört sie zu einer Gesellschaft, in der es für die Bürgerinnen und Bürger leichter ist, von einer Institution zur nächsten zu wechseln. So wie Beschäftigungsverhältnisse im Zeitalter der Deindustrialisierung prekärer und (insbesondere für Arbeitgeber) leichter zu kündigen sind, ist auch das Verlassen einer Familie, einer Beziehung, einer Partei oder eines Freundeskreises ein weitaus weniger anspruchsvoller Prozess als zu Webers Zeiten. Wer sich aus einer Facebook-Gruppe zurückzieht, muss kaum mit derselben Art von Stigmatisierung rechnen wie einst ein Streikbrecher, der in seinem Viertel anschließend geschnitten wurde. Was die Zeitwahrnehmung anbelangt, schaffen diese Ausstiegsmöglichkeiten eine Gesellschaft, in der alle Dimensionen des Lebens kurzfristigen Logiken unterworfen sind. Freundschaften, Ehen, Jobs und politisches Engagement spielen sich in immer kürzeren Zeitspannen ab.

Auch die sich verändernden Koordinaten unseres Arbeitslebens schaffen Anreize für hyperpolitisches Verhalten. Selbst am unteren Ende des Arbeitsmarktes nähern sich Beschäftigte der Welt wie Investoren dem Aktienmarkt, indem sie Ressourcen investieren und wieder abziehen, sobald die Rendite nicht mehr garantiert ist. Die besten Beispiele für solche Formen des Engagements bieten nach wie vor die sozialen Medien. Wer sich dort tummelt, bespielt expressive soziale Repertoires, die keinerlei langfristige Verpflichtungen erfordern. Atomisierung und Beschleunigung gehen Hand in Hand: Die Menschen sind im neuen Jahrhundert einsamer, aber auch aufgeregter; atomisierter, aber auch vernetzter; wütender, aber auch verwirrter.

Der angesprochene Markt liefert ebenfalls mächtige Metaphern für Verhaltensweisen, die für die hyperpolitische Gegenwart charakteristisch sind. Hyperpolitik ist somit zuallererst eine eminent marktkonforme Variante der Politik, sowohl ihrer Form als auch ihrem Inhalt nach. Märkte bieten Exit-Optionen und sind ihrem Wesen nach auf Kurzfristigkeit angelegt. Trading-Algorithmen kennen keine Zukunft.

Die Psychologie der Planung und der Massenpolitik

Wie vielfach festgestellt wurde, waren in früheren Jahrhunderten die Psychologie der Planung und die Psychologie der Massenpolitik eng miteinander verwandt: Politiker sollten in Jahrzehnten denken, sowjetische Bürokraten versuchten, menschliche Bedürfnisse in Fünfjahresplänen zu prognostizieren, während die Nationalsozialisten ihre Zeit in Jahrtausenden maßen – für die Ausschläge eines Konjunkturzyklus hätten sie nur ein müdes Lächeln übrig gehabt. Mao überwinterte über zwanzig Jahre lang in der Provinz.

Heute lancieren Politiker innerhalb weniger Wochen eine Kandidatur. Zugleich erleben wir speziell innerhalb der Rechten den rasanten Aufstieg neuer, charismatischer Führer durch die strategische Bearbeitung von Ressentiments. Deshalb wird die Linke den diesbezüglichen Vorsprung der Rechten nur kompensieren und wird die Menschheit der aktuellen Polykrise nur dann erfolgreich und auf eine humane Weise begegnen können, wenn ausreichend viele Menschen sich wieder regelmäßig in Vereinigungen engagieren, die man im Englischen als „voluntary associations“ bezeichnet und im Deutschen als „freiwillige Organisationen“.

Allerdings beginnen die Schwierigkeiten hier bereits bei dem Wort „freiwillig“: Traten die Menschen Gewerkschaften, Parteien und religiösen Gemeinschaften früher tatsächlich in der Weise freiwillig bei wie eine Protagonistin der Romane Michel Houellebecqs aus den späten 90ern, die in einem Katalog mit exotischen Feriendestinationen blättert und sich für eine davon entscheidet? So wie man eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio abschließt? Oder taten sie dies nicht vielmehr deshalb, weil es in ihrem Milieu, in ihren Familien, in ihrer Fabrik einfach üblich war und weil das auch schon die Väter und Großmütter getan hatten? Ging es dabei wirklich um Freiwilligkeit oder möglicherweise eher um institutionelle und habituelle Trägheiten?

Der Eros der Massenorganisation

Auch hier lohnt der konkrete Blick auf die immersive Qualität, die insbesondere der Arbeiterbewegung einst innewohnte.

In seinen Memoiren „Gefährliche Zeiten“ erinnerte sich der Historiker Eric Hobsbawm an die „letzte legale Demonstration“ der Kommunistischen Partei Deutschlands am 25. Januar 1933. In Reaktion auf einen Zug der SA habe man einen „Massenmarsch durch die dämmrigen Straßen Berlins“ zur KPD-Zentrale am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz organisiert, an dem Hobsbawm teilnahm, „wahrscheinlich mit einigen Genossen des SSB [Sozialistischer Schülerbund], auch wenn ich mich im einzelnen nicht an sie erinnern kann“. Die Veranstaltung war für den Historiker unvergesslich, er bringt die Atmosphäre mit folgendem Vergleich auf den Punkt: „Neben der sexuellen Begegnung ist die Aktivität, bei der sich körperliches und seelisches Erleben in höchstem Maße verbinden, die Teilnahme an einer Massendemonstration in Zeiten starker öffentlicher Begeisterung. Im Unterschied zur sexuellen Intimität, die im wesentlichen individueller Natur ist, wird sie kollektiv erlebt, und im Unterschied zum sexuellen Höhepunkt, jedenfalls bei Männern, kann hier das Hochgefühl stundenlang anhalten. Andererseits ist auch hier eine körperliche Aktivität im Spiel – Marschieren, Skandieren von Slogans, Singen –, wodurch das Aufgehen des Individuums in der Masse, das eigentliche Wesen der kollektiven Erfahrung, seinen Ausdruck findet.“ Er besitze noch immer, so Hobsbawm 2002, „das zerfledderte Flugblatt mit den Texten der Lieder“. Seine Favoriten habe er seinerzeit angekreuzt: die „Internationale“, das Lied aus dem Bauernkrieg „Wir sind des Geyers schwarzer Haufen“, das sentimentale und ziemlich holprige Begräbnislied „Der kleine Trompeter“, das Erich Honecker sich angeblich für seine Beerdigung gewünscht hatte, „Dem Morgenrot entgegen“, das Lied der sowjetischen Roten Flieger, Hanns Eislers „Der rote Wedding“ und das langsame, feierliche, strenge „Brüder zur Sonne zur Freiheit“. „Wir gehörten zusammen. Wie in Trance kehrte ich nach Halensee zurück. […] Fünf Tage später wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt.“[12]

Es ist durchaus anzunehmen, dass Jugendliche, die sich heute einer Fridays-for-Future-Kundgebung anschließen, oder die Teilnehmer großer Black-Lives-Matter-Demonstrationen ähnliche trancehafte Erfahrungen machen; es gibt Lautsprecherwagen, vielleicht spielt jemand über eine Bluetooth-Box Musik von seinem iPhone ab. Und dennoch ereignete sich der von Hobsbawm geschilderte Massenmarsch unter vollkommen anderen Um-ständen: Der damals 15-Jährige war nicht allein auf die Idee gekommen, zur KPD-Zentrale am Rosa-Luxemburg-Platz zu fahren, sondern er tat dies zusammen mit seinen Genossen vom SSB, war also zuvor bereits in ein organisatorisches Netzwerk eingebunden. Jemand hatte die Lieder ausgesucht und auf ein Flugblatt oder in ein Liederbuch gedruckt – und jemand hatte einige dieser Lieder speziell für die Arbeiterbewegung komponiert. Liest man die (Auto-)Biografien deutscher Kommunisten aus Hobsbawms Generation, etwa die Wolfgang Abendroths oder der Aktivistin Olga Benario, ist es frappierend zu sehen, wie viel Zeit, Energie und Kreativität sie in der Zwischenkriegszeit in den Aufbau von Klassenbewusstsein und das Organisieren ihrer Kommilitonen und der Menschen in der Nachbarschaft oder in Vorstädten investierten.[13] Gleichzeitig muss die Mitgliedschaft in entsprechenden Gruppen den Zeitgenossen viel selbstverständlicher erschienen sein als heute. Kein Wunder, gehörten große und mächtige Institutionen wie das Militär, Großfabriken und Kirchen damals doch noch unauflöslich zum Alltag.

Der Untergang der alten Welt

Diese soziale und organisatorische Welt ist inzwischen untergegangen. Doch ohne eine Reinstitutionalisierung wird, so meine zentrale These, das neue politische Engagement volatil und weitgehend folgenlos bleiben, und die Rechten werden weiterhin einen entscheidenden Vorsprung haben.

Gleichzeitig sind wir von den institutionellen Welten der Zwischenkriegszeit oder des organisierten Kapitalismus nach 1945 heute meilenweit entfernt. In diese Situation gebracht haben uns auch langfristige gesellschaftliche Trends, die man nicht einfach voluntaristisch stoppen und umkehren kann, nur indem man dazu auffordert, im Ortsverein einer Partei mitzuarbeiten oder einer Gewerkschaft beizutreten.

Gewiss, es gibt sicher die eine oder andere, die sich immer noch oder wieder in dieser Form engagiert. Aber dabei handelt es sich um fast schon heroische Ausnahmen, nicht um die alltägliche Selbstverständlichkeit früherer Jahrzehnte. In gewisser Weise stellt sich hier die Frage, ob es sich bei der massenpolitischen Dynamik des – im Nachhinein sicher idealisierten – goldenen Zeitalters der sozialen Demokratie nicht letztlich um einen kontingenten Effekt gesellschaftlicher Umstände handelte. Vor dem Anbruch der Moderne waren Gesellschaften über feudale Strukturen, Religion, Traditionen, die Vorgaben von Zünften etc. möglicherweise so total institutionalisiert, dass es keine Freiheitsgrade für politisches Engagement im heutigen Sinne gab. Dann setzten Industrialisierung, Urbanisierung, Demokratisierung, Liberalisierung, Bildungsexpansion, Deindustrialisierung etc. ein, und heute leben wir in unserer individualisierten und deinstitutionalisierten hyperpolitischen Gegenwart.

Eventuell gab es im Verlauf dieser Entwicklung schlicht eine Phase, in der das Verhältnis stimmte und in der wirkungsvolles kollektives Handeln möglich war, weil die institutionellen Netzwerke die notwendige Dichte und die Menschen die entsprechende Mentalität aufwiesen, in der Leben bedeutete, sich über Vereine, Korporationen usw. mit anderen zu verbinden: „Ob wir wollen oder nicht, wir sind ein Bündel von Bindestrichen“, schrieb 1916 der englische Politikwissenschaftler und zeitweilige Labour-Vorsitzende Harold Laski in einem Artikel, der von der Prämisse ausgeht, der Mensch sei seinem Wesen nach ein „assoziatives Tier“ und „seine Natur“ werde „weitgehend durch die auf diese Weise geformten Beziehungen bestimmt“.[14] An diese Anthropologie und an diese Kontexte konnten die Organisationen der Arbeiterklasse andocken und auf diese Weise ihre enorme politische Wirksamkeit entfalten.

Die neue Rolle von Alltag und Care-Arbeit

Wenn man davon ausgeht, dass die Hürden dauerhafter und institutionalisierter politischer Beteiligung heute ungleich höher liegen, muss man die archimedischen Orte für eine Renaissance der organisierten Partizipation wahrscheinlich zunächst im Alltag und in Zusammenhängen suchen, in denen Menschen noch regelmäßig mit anderen in Kontakt kommen und wo die gemeinsamen Anliegen offenkundig sind. In der Vergangenheit galt dies in allererster Linie für die großen Fabriken und Baustellen des Industriezeitalters. Heute finden sich Ansatzpunkte wohl ebenso in der Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion oder der Care-Tätigkeiten.

In der Ära der prekären Jobs und des Homeoffice interagieren viele nicht länger täglich vor Ort mit denselben Kolleginnen; man muss aber die Kinder in die Krippe bringen, an Elternabenden teilnehmen oder die eigenen Eltern in einem Pflegeheim besuchen. Durchschnittliche Westeuropäer haben heute womöglich häufiger mit Elternvertreterinnen als mit den Betriebsräten eines Unternehmens zu tun. Ein anderer archimedischer Ort kann die eigene Straße oder das Viertel sein, das eventuell von Gentrifizierung betroffen ist, und wo man die Auswirkungen der Vermögenspreisinflation vor Augen geführt bekommt, die dafür sorgt, dass die einen sich bald kein Zuhause mehr leisten können, während andere über Wohneigentum immer reicher werden. Kampagnen wie „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ in Berlin oder „Barcelona en Comú“, eine auch von der dortigen Bürgermeisterin Ada Colau vorangetriebene kommunale Plattform, zeigen, dass es in solchen alltäglichen Zusammenhängen Ansatzpunkte gibt, bei denen kontinuierliches Engagement sich nach und nach herauskristallisieren kann. Allerdings sollte man die Sphären der Produktion sowie der Distribution keineswegs endgültig abschreiben. Die Arbeitswelt ist nach wie vor der Ort, wo der gesellschaftliche Mehrwert erarbeitet wird und wo die ökonomischen Interessen machtvoll aufeinanderprallen, während Eltern und Mieter nur an den Staat appellieren können, der seinerseits von der Umverteilungsbereitschaft kapitalistischer Eliten abhängt.

An irgendeinem Ort wird die Reise beginnen müssen

Möglicherweise eröffnen sich in einer Zeit, in der überall in der OECD-Welt von „Reshoring“, ökologischer Transformation und einem „Green New Deal“ die Rede ist, ja auch neue Kontexte, die der dauerhaften Mobilisierung zuträglicher sind. Im Angesicht des weiterhin rückläufigen Organisationsgrads, der zunehmenden Prekarisierung und der auseinanderlaufenden Interessen unterschiedlicher Beschäftigtengruppen mag dies naiv erscheinen. Man fühlt sich an den Witz erinnert, in dem ein Touristenpaar einen irischen Bauern fragt, wie man am besten nach Dublin komme, und dieser antwortet: „Zunächst einmal sollten Sie nicht hier losgehen.“[15]

Doch so schwierig die Lage auch ist: An irgendeinem Ort wird die Reise beginnen müssen. Fest steht jedenfalls: Die Massenpolitik des 20. Jahrhunderts ist Geschichte, aber auch die Post- und Antipolitik. Das eschatologische Gerücht, die Politik sei tot, wird jedenfalls durch die enorme Politisierung der Gegenwart widerlegt.

Fürs Erste hat es jedoch den Eindruck, als sei der Patient aus dem Koma aufgesprungen und direkt in der Hyperkinese gelandet, ohne sich je mit den vorangegangenen Symptomen auseinandergesetzt zu haben. Der erste Psychoanalytiker der Geschichte kannte diesen Reflex nur allzu gut. Das Bemerkenswerte an der Melancholie, so Sigmund Freud, sei ihre Tendenz, „in den gegensätzlichen Zustand der Manie umzuschlagen“, in ein „zirkuläres Irresein“, bei dem der Analysand abwechselnd „von melancholischen und manischen Phasen“ heimgesucht werde.[16] Freuds Beobachtung findet heute ein spätes Echo – in den Worten einer 1993 geborenen belgischen Fotografin: „Meine Generation schwankt ständig zwischen der Erkenntnis, dass wir uns bewegen müssen, und zwar möglichst schnell, und dem Gefühl, dass alles umsonst ist.“ Die „größte Herausforderung“ bestehe jedoch darin, „die Dinge zu verändern“.[17] Offensichtlich fängt die Gesellschaft gerade wieder damit an.

Der Beitrag basiert auf „Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen“, dem jüngsten Buch des Autors, das vor kurzem im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Daniela Janser, Thomas Zimmermann und Heinrich Geiselberger.

[1] Cornelius Castoriadis, La Montée de l’insignifiance. Les carrefours du labyrinthe IV, Paris 2007 [1996].

[2] Sam Kriss, The end of the end of the end, in: „First Things“, 2/2022, firstthings.com.

[3] Annie Ernaux, Die Jahre, Berlin 2017 [2008], S. 226.

[4] Ebd., S. 231.

[5] Parallel dazu legen Profisportler eine neue politische Sensibilität an den Tag. Fragen des Konsums, vom Veganismus bis zum CO2-Fußabdruck, spielen eine große Rolle im persönlichen Leben. Selbsthilfebücher informieren die Bürger, wie sie rassistische Vorurteile erkennen und ausmerzen können.

[6] Der Begriff „Hyperpolitik“ wurde schon einmal vorgeschlagen, um eine politische und gesellschaftliche Gegenwart auf den Punkt zu bringen. 1993 veröffentlichte Peter Sloterdijk, ebenfalls im Suhrkamp Verlag, den Essay „Im selben Boot“, der den Untertitel „Versuch über die Hyperpolitik“ trägt. Sloterdijk zielt dabei auf eine Dimension der Politik, die Politikwissenschaftler als polity bezeichnen und worunter sie etwa die Größe und die allgemeine Verfasstheit eines Gemeinwesens subsumieren. Insbesondere interessiert sich Sloterdijk in diesem Buch für „Zusammengehörigkeitsphantasmen“ und „gesellschaftsbildende Real-Einbildungen“.

[7] Jan-Werner Müller, Was ist Populismus?, Berlin 2016, S. 42.

[8] Nigel Dodd, Michèle Lamont und Mike Savage, Introduction to BJS Special Issue: The Trump/Brexit Moment. Causes and consequences, in: „The British Journal of Sociology”, 1/2017, S. 3-10.

[9] Petra Pinzler und Mark Schieritz, „Manchmal muss man etwas wagen“. Interview mit Adam Tooze, in: „Die Zeit“, 6.7.2023, S. 24.

[10] Sarah Jones, zit. nach Intelligencer Staff, How we’re feeling as America’s moment of truth arrives, in: „New York Magazine”, 3.11.2020.

[11] Max Weber, Politik als Beruf, Berlin 2010 [1919], S. 65.

[12] Eric Hobsbawm, Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München 2009 [2002], S. 95 f.

[13] Vgl. Anita Leocádia Prestes, Olga Benario Prestes. Eine biografische Annäherung, Berlin 2022.

[14]  Harold Laski, The personality of associations, in: „Harvard Law Review”, 29/4 (Februar 1916), S. 404-426, S. 425, S. 404.

[15] Diesen Witz erzählt der polnisch-amerikanische Politikwissenschaftler Adam Przeworski in: ders., Krisen der Demokratie, Berlin 2020, S. 125.

[16] Sigmund Freud, Trauer und Melancholie (1917), in: ders., Gesammelte Werke, Band X: Werke aus den Jahren 1913-1917, London 1946, S. 428-446, S. 440.

[17] Charlotte Abramow, zit. nach Tom Peeters, Fotografe van Angèle exposeert in Brussel: Samenwerken met haar gaf me veel vertrouwen, in: „Bruzz“, 7.9.2022.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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