
Bild: Eine Frau arbeitet in der Übungswerkstatt für Handwerksausbildung der Initiative ARRIVO für Geflüchtete, 30.10.2017 (IMAGO / Berlinfoto)
Vor zehn Jahren, im Sommer 2015, sprach die damalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel den berühmt gewordenen Satz: „Wir schaffen das!“. Trotz der damit suggerierten Offenheit gegenüber den vielen damals in Deutschland ankommenden Geflüchteten schob ihr Kabinett im darauffolgenden Jahr 25 375 Menschen ab.[1] Eine so hohe Zahl an Abschiebungen aus Deutschland hat es seither nicht mehr gegeben. Doch das könnte sich nun unter Kanzler Friedrich Merz ändern, denn dieses Jahr ist ein neuer Höchstwert an Abschiebungen zu erwarten. Im ersten Quartal 2025 wurden bereits 6151 Menschen, darunter 1118 Minderjährige, abgeschoben.[2] Auf den Rest des Jahres hochgerechnet könnten es so deutlich über 24 000 Abschiebungen werden. Selbst wenn der Wert von 2016 in absoluten Zahlen nicht erreicht werden würde: Setzt man die Abschiebungen mit dem sogenannten Wanderungssaldo in Beziehung, fallen sie durchaus ins Gewicht. So sind im März 2025 nur rund 23 000 Personen mehr nach Deutschland ein- als ausgewandert.
Wäre Deutschland in einer demographischen Idealform, wäre ein Wanderungssaldo, das sich auf plus minus null beläuft, zumindest rechnerisch vertretbar. Doch Deutschland ist nicht in Idealform. Deutschlands Altersstruktur hat die Form einer Urne: unten schmal, oben bauchig. Bis 2035 wird die Zahl der über 67-Jährigen laut Statistischem Bundesamt um 22 Prozent von 16 Millionen auf voraussichtlich 20 Millionen ansteigen. Laut einer Umfrage des ifo Instituts vom August 2024 fehlten zuletzt zwar weniger Fachkräfte – „nur noch“ 34 Prozent der Unternehmen klagten über Fachkräftemangel gegenüber 43,1 Prozent ein Jahr zuvor –, aber das liegt vor allem an der schwächelnden Konjunktur. Laut dem ifo-Experten Klaus Wohlrabe wird der Bedarf wieder steigen.[3] Die Stellenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ergab für das vierte Quartal 2024 per Hochrechnung etwa 1,4 Mio. unbesetzte Stellen.[4] Deutschland büßt dadurch effektiv Wirtschaftsleistung ein.
Deutschland braucht Zuwanderung
Das Fazit: Bis 2050 wird die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland um 16 Millionen abnehmen – wenn niemand zuwandert. Die Bundesregierung will deshalb sowohl Frauen als auch Menschen im Rentenalter stärker in den Arbeitsmarkt einbinden. Auch die Zuwanderung von Fachkräften soll gefördert und die Potenziale von Geflüchteten sollen genutzt werden. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, rät dem Kabinett Merz, in ihrer Legislatur „mindestens 1,6 Millionen ausländische Menschen in gute Arbeit in Deutschland zu bringen. Also 400 000 netto pro Jahr.“[5] Deutschland aber will sich seine Ausländer aussuchen und aussortieren: gute Ausländer rein, schlechte Ausländer raus. Doch selbst wer dem grundsätzlich zustimmt, sollte wenigstens sortieren können. Genau das aber scheint nicht zu funktionieren. Tatsache ist: Deutschland ächzt unter dem Fachkräftemangel und schiebt Menschen, die in Engpassbranchen wie dem Handwerk, der Pflege und in der Kinderbetreuung arbeiten, ab.
Abgeschoben trotz Leistung
Einer, bei dem die Abschiebung bereits vollstreckt werden sollte, ist der Jeside Faisal. Wie der SWR berichtete, floh er aus dem Irak nach Deutschland und arbeitete in einer Bäckerei im Kreis Esslingen als Reinigungskraft. Weil er so fleißig und engagiert war, bot ihm seine Chefin Eve Sigel an, eine Ausbildung in ihrem Betrieb zu beginnen. Doch bevor es dazu kam, stand die Polizei in der Bäckerei, um den Jesiden abzuschieben. Weil sich Frau Sigel wehrte, liegt der Fall jetzt bei der zuständigen Härtefallkommission. Als Jeside kann er dabei allerdings nicht auf besondere Schutzmaßnahmen hoffen, obwohl der Bundestag im Januar 2023 die Massenmorde des IS an den Jesiden als Völkermord anerkannt hat. Und so könnte es Faisal ergehen wie den beiden vorherigen Geflüchteten im Bäckereibetrieb: Beide wurden abgeschoben.
In Offenbach wurde erst Mitte Juni die junge Erzieherin Amira abgeschoben. Sie hatte in Afghanistan Pädagogik studiert und als Erzieherin gearbeitet. „In Deutschland war sie auf dem Weg zur offiziellen Anerkennung. Gerade lief ihr zweites berufspraktisches Jahr – der letzte Schritt zur Fachkraft“, berichtete die „Tagesschau“.[6] Der Geschäftsführer des Kita-Trägers hatte Amira fest als Mitarbeiterin eingeplant, aber die sitzt nun in Litauen, dem Land, das sie erstmals als Geflüchtete registrierte. Zwar könnte sie über ein Arbeitsvisum theoretisch nach Deutschland zurückkehren, aber wer ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben wurde, wird nach Paragraf elf des Aufenthaltsgesetzes mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot belegt. Dessen Länge wird nach Ermessen festgelegt, darf aber fünf Jahre nicht überschreiten. Wer sich das im Jahr 2005 ausgedacht hat, hat offenbar nicht mit Deutschlands Bedarf an Fachkräften gerechnet, obwohl der bereits damals abzusehen war.
In Marburg hat ein 18-Jähriger kürzlich die Berufsfachschule als einer der Klassenbesten bestanden. Der junge Mann hatte bereits einen Ausbildungsplatz am Universitätsklinikum Gießen und Marburg zum Medizinischen Technologen für Radiologie. Doch weil Sidat und seine Familie aus dem Irak geflohen sind und in Rumänien registriert wurden, hat Deutschland Sidats Asylantrag abgelehnt und ihn nur geduldet. Als sie von der drohenden Abschiebung erfuhren, schrieben Sidats Lehrerinnen an den Hessischen Innenminister Roman Poseck (CDU), an die Härtefallkommission, den Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) und starteten eine Petition – Ausgang ungewiss.
„Fleiß und Leistung müssen sich wieder lohnen und im Geldbeutel spürbar werden. Wir bringen Deutschland wieder nach vorne“, heißt es auf der Webseite der CDU.[7] Dort ist auch zu lesen: „Wir sorgen für mehr Arbeitskraft und Fachkräfte im Land. […] Wir vereinfachen ausländischen Fachkräften den Einstieg in Arbeit.“[8] Befragt man CDU-Politiker und -Politikerinnen zu dem Widerspruch zwischen Programm und politischer Praxis, zucken sie kollektiv mit den Schultern und antworten, so sei das Gesetz. Tatsächlich regelt die Dublin-Verordnung, dass der EU-Staat, in den ein Asylbewerber zuerst einreist, für die Prüfung von dessen Asylantrag zuständig ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist angewiesen zu prüfen, ob einer Person bei Rückkehr in ihr Herkunftsland Gefahr drohe – nichts anderes ist dabei von Interesse. Keine Fachexpertise, kein Arbeitsvertrag, keine Deutschkenntnisse, keine soziale Integration.
Wer ist verantwortlich?
Um zu verstehen, wie es sein kann, dass wir leistungsfähige und -willige Fachkräfte mit festem Arbeitsvertrag abschieben, ist ein Blick ins Innere von Organisationen nötig. Zum einen führen Ministerialverwaltungen in erster Linie aus, was die Regierung vorschreibt. Zum anderen werden Verwaltungsvorgänge maßgeblich durch sogenannte Konditionalprogramme geregelt. Die zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Ablauf eines Vorgangs, die Konditionen, sehr genau beschreiben, um ein Ziel zu erreichen. Die Mitarbeitenden eines Amtes müssen sich an das Konditionalprogramm halten, auch wenn das Ergebnis unter Umständen keinen Sinn ergibt. Denn tun sie das nicht, können sie sanktioniert und für das Ergebnis verantwortlich gemacht werden. Der Organisationssoziologe Stefan Kühl beschreibt das so[9]: „Wenn beispielsweise die Sozialarbeiterin entsprechend den vorgegebenen Konditionalprogrammen ihre ‚Fälle‘ bearbeitet, ist nicht sie schuld, wenn am Ende der Obdachlose auf den Straßen Wiens stirbt, sondern diejenigen in der Verwaltung, die die Konditionalprogramme so aufgestellt haben, dass der Tod des Obdachlosen nicht verhindert werden konnte.“ Ist das dann die Leitung des Amtes? Oder die amtierende Regierung? Oder die davor? Tatsächlich ist es oft schwierig, jemanden konkret dafür zur Verantwortung zu ziehen, dass die Gesetzeslage so ist, wie sie ist. Aber man kann der aktuellen Koalition vorwerfen, dass sie so bleibt.
Die Ampelregierung hatte 2023 immerhin das Fachkräfteeinwanderungsgesetz geändert. Asylbewerber mit Qualifikation und konkretem Jobangebot, die vor dem 29. März 2023 eingereist sind, können seitdem eine Aufenthaltserlaubnis als Fachkraft beantragen, wenn sie ihren Asylantrag zurücknehmen. Bisher mussten sie dafür ausreisen und sich im Ausland um ein Arbeitsvisum in Deutschland bemühen. Das ist zwar gut, aber wessen Asylantrag bereits abgelehnt wurde oder wer nach März 2023 eingereist ist, dem hilft die Regelung nicht.
Zu den rechtlichen Hürden kommt der Rassismus hinzu, der nicht wenige vor einer Zuwanderung nach Deutschland abschrecken dürfte: Ein Bericht der European Union Agency for Fundamental Rights stellte 2024 fest, dass in Deutschland 68 Prozent der muslimischen Befragten Rassismus erleben. Unter den 13 untersuchten EU-Ländern landet Deutschland damit auf Platz zwei. Das niedrigste Level an Diskriminierung gegenüber Muslimen wurde in Spanien, Schweden und Italien gemessen.[10] Bei Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen belegt Deutschland sogar den ersten Platz.[11]
All dies verfehlt nicht seine Wirkung: Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland weniger Asylanträge gestellt als etwa in Spanien.[12] Das ist kein Grund zu jubeln, denn Deutschlands Wirtschaftswachstum schrumpft, aktuell um 0,2 Prozent. Spanien verzeichnete hingegen 2024 ein Wachstum von 3,2 Prozent. Eine Umfrage des IAB ergab im Juni, dass rund ein Viertel der nach Deutschland Zugewanderten eine Auswanderung in Betracht ziehen.[13] Begründet wird dies mit politischer Unzufriedenheit, persönlichen Gründen, steuerlichen Belastungen und Bürokratie. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger fragte schon 2023 zu Recht: „Was bieten wir denen denn? Eine der kompliziertesten Sprachen Europas, einen katastrophalen Wohnungsmarkt, eine langsame Bürokratie und nur wenige Kitaplätze mit wenig flexiblen Öffnungszeiten.“[14]
Spanien als Vorbild
Zwar braucht auch Spanien mehr erschwinglichen Wohnraum und eine verbesserte Infrastruktur bei der Kinderbetreuung, aber schon 2024 entschied man sich hier, hunderttausenden Einwanderinnen und Einwanderern ohne Papiere eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu geben. Das soll sich bis 2027 jedes Jahr wiederholen. Das Ziel ist, Menschen aus nicht EU-Ländern den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Sie sollen dabei helfen, das Sozialversicherungs- und Rentensystems zu finanzieren. Die spanische Ministerin für soziale Sicherheit und Einwanderungsfragen, Elma Saiz, betont, dass Spanien als einziges EU-Land im Ausländerrecht das Konzept der Verwurzelung berücksichtige. Fünf soziale und familiäre Gründe seien für eine Aufenthaltserlaubnis relevant, etwa dass jemand „in Ausbildung ist oder einer Arbeit nachgeht“. Zusätzlich sollen Menschen eine zweite Chance bekommen, „die bereits Papiere hatten, sie aber nicht verlängern konnten“.[15] Mit ihrer Legalisierungsstrategie versucht die spanische Regierung nicht zuletzt, die Steuereinnahmen zu erhöhen und illegale Beschäftigung zu verhindern.
Und in Deutschland? Anstatt geflohene, arbeitende Ausländer abzuschieben, sollte sich die Bundesregierung Sorgen machen, dass bald noch weniger Menschen Lust haben, hierher zu kommen – und hier zu bleiben. Gerade diejenigen, die es sich aussuchen können und die die hiesige Wirtschaft dringend braucht, werden es sich angesichts der widrigen Bedingungen zweimal überlegen, ob sie zuwandern wollen. Entgegen der rechten Erzählung von den vielen Sozialleistung beziehenden Ausländern sind es nicht diese, die unseren Wohlstand gefährden, sondern es wird der Opportunismus der Politik gegenüber der migrationsfeindlichen Stimmung im Land sein.
Doch selbst wenn man wollte, man kann die oft ungastliche Kultur hierzulande nicht einfach ändern und andere Verhaltensweisen verordnen. Es ist deshalb besonders wichtig, wie hiesige Institutionen, Verwaltungen und Ministerien mit den eigenen Mitarbeitenden, mit Fachkräften und ausländischen Menschen umgehen. Wie sie agieren, hat eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Gesellschaft. Dafür braucht es weitere grundlegende Verbesserungen im Fachkräfteeinwanderungs- und Aufenthaltsgesetz – und in den Abläufen der zuständigen Organisationen. Ob jemand lernt, arbeitet oder integriert ist, muss Einfluss auf Asylverfahren haben, egal wann er oder sie eingereist ist und woher die Person kommt. Es bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Regierung, die noch am Anfang ihrer Legislatur steht, rechtzeitig umlenkt und sich künftig dafür rühmt, die Potenziale Eingewanderter zu nutzen, anstatt dafür, möglichst viele Menschen abzuschieben.
[1] Abschiebungen in Deutschland, bpb.de, 14.3.2025.
[2] 6151 Abschiebungen im ersten Quartal 2025, bundestag.de, 22.5.2025.
[3] Mangel an Fachkräften hat leicht abgenommen, ifo.de, 21.8.2024.
[4] Aktuelle Ergebnisse, IAB-Stellenerhebung, iab.de.
[5] Deutschland braucht 400 000 Migranten – pro Jahr, diw.de, 3.2.2025.
[6] Erzieherin aus Afghanistan abgeschoben, tagesschau.de, 13.6.2025.
[7] Für ein neues Wohlstandsversprechen. Wahlprogramm 2025, cdu.de.
[8] Wir machen unsere Wirtschaft wieder stark und konkurrenzfähig. Wahlprogramm 2025, cdu.de.
[9] Stefan Kühl, Die formale Seite der Organisation, Working Paper 2/2010, uni-bielefeld.de, S. 4.
[10] Muslime in Europa zunehmend Opfer von Rassismus und Diskriminierung, fra.europa.eu, 21.10.2024.
[11] Being Black in the EU. Experiences of People of African Descent, fra.europa.eu, Wien 2023.
[12] Deutlich weniger Asylanträge in Deutschland, tagesschau.de, 5.7.2025.
[13] Ein Viertel der Eingewanderten in Deutschland zieht Auswanderung in Betracht, iab.de, 11.6.2025.
[14] „Was bieten wir denen denn?“, tagesschau.de, 26.11.2023.
[15] Offenes und wohlhabendes Land – das ist das Ziel, tagesschau.de, 6.12.2024.