Ausgabe Oktober 1991

Fernsehansprache von Michail Gorbatschow am 22. August 1991 (Wortlaut)

Liebe Mitbürger,

ich spreche jetzt vor Ihnen in dem Augenblick, in dem ich völlig zu Recht sagen kann: Die Staatsrevolte ist gescheitert. Die Verschwörer haben sich verrechnet. Sie haben die Hauptsache unterschätzt - daß das Volk in diesen, wenn auch sehr schweren Jahren anders geworden ist. Es hat die Luft der Freiheit eingeatmet, und dies kann ihm niemand mehr nehmen. Einen Ausbruch der Entrüstung riefen die Staatsverbrecher hervor, die einen Anschlag auf die Demokratie verübten und das totalitäre Regime wiederherzustellen versuchten. Sie versuchten, das Schrecklichste zu verwirklichen - die Armee gegen das Volk zu richten.

Aber auch damit sind sie nicht durchgekommen. Viele Kommandeure, Offiziere, die meisten Soldaten, ganze Truppenteile und Verbände weigerten sich, ihre Befehle zu erfüllen. Sie blieben dem Eid treu und stellten sich neben die tapferen Verteidiger der Demokratie. Als am 18. August vier Verschwörer zu mir auf die Krim kamen und ein Ultimatum an mich stellten - entweder auf den Posten zu verzichten, oder ihnen meine Vollmacht freiwillig zu übereignen, oder den Erlaß über den Ausnahmezustand zu unterschreiben -, sagte ich zu ihnen: Ihr seid Abenteurer und Verbrecher, ihr werdet euch selbst zugrunde richten und dem Volk einen schrecklichen Schaden zufügen, daraus wird sowieso nichts. Das Volk hat sich zu sehr verändert, als daß es sich mit eurer Diktatur abfindet, mit dem Verlust alles dessen, was in diesen Jahren errungen wurde. Besinnt euch, die Sache wird mit einem Bürgerkrieg, mit viel Blut enden, ihr werdet euch dafür verantworten müssen. Ich habe alle ihre Ansinnen abgelehnt.

Dann belagerten sie das Haus, in dem ich zur Erholung weilte, mit Truppen, und zwar vom Meer und von Land, und übten auf mich psychischen Druck aus. Sie verfolgten jeden meiner Schritte, isolierten mich völlig von der Außenwelt.

Offensichtlich verfolgten sie dabei das Ziel, den Präsidenten psychisch zu brechen. Das habe ich besonders deutlich erkannt, als mir der Inhalt der Pressekonferenz dieses sogenannten staatlichen Komitees für den Ausnahmezustand bekannt wurde, als sie erklärten, daß ich nicht fähig bin, die Funktion des Präsidenten auszuüben, mehr noch, als sie versprachen, in der nächsten Zeit ein ärztliches Gutachten vorzulegen. Folglich gingen sie davon aus, daß, wenn die Tatsachen ihren Erklärungen nicht entsprechen, das heißt, wenn der Gesundheitszustand des Präsidenten anders ist, man ihn mit allen Mitteln in diesen Zustand versetzen muß, damit er wirklich physisch und psychisch zusammenbricht. 72 Stunden lang wußte ich nicht, was im Lande los war. Die Verschwörung ist vereitelt, die Abenteurer sind verhaftet und werden eine harte Strafe erhalten.

Aber Blut ist vergossen worden. Die Verteidiger der Freiheit opferten ihr Leben. Ich bringe mein tiefempfundenes Beileid ihren Familien, Verwandten, Freunden und Kollegen zum Ausdruck. Ihre Namen müssen auf Gedenktafeln eingeprägt werden, die an den Orten angebracht werden sollen, wo sie gefallen sind. Ich möchte mich bei allen bedanken, die nicht nur ihre Lage und persönliche Freiheit, sondern auch oft ihr Leben riskierten und sich in die ersten Reihen der Verteidiger der verfassungsmäßigen Ordnung, der Verteidiger des Gesetzes, der Menschenrechte stellten. Hervorheben muß ich vor allem die hervorragende Rolle des Präsidenten Rußlands Boris Nikolajewitsch Jelzin, der sich in den Mittelpunkt des Widerstands gegen die Verschwörung und Diktatur stellte, des Vorsitzenden der Regierung Rußlands Iwan Stepanowitsch Silajew, des Vizepräsidenten Rußlands Alexander Wladimirowitsch Ruzkoi, vieler Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, das ganzen Obersten Sowjets der Russischen Föderation, der Moskauer und Leningrader, die sich zur Verteidigung der Demokratie erhoben.

Ich kann nicht umhin, die selbstlose Treue der überwiegenden Mehrheit der Journalisten aller Massenmedien zu ihrer demokratischen Berufspflicht hervorzuheben. In dieser schweren Stunde haben sie eindeutig ihre Wahl getroffen, wo und mit wem sie sein sollen, sie haben sich nicht einschüchtern, keine Angst einjagen lassen, sie wollten sich nicht um die Gunst der Usurpatoren bemühen. Eine große Bedeutung bei der Vereitelung der Verschwörung hatte die prinzipienfeste Haltung der Präsidenten und Parlamente der meisten Republiken, der Gebiete Rußlands, der örtlichen Sowjets. Sie haben es vermocht, für den Schutz der Gesetzlichkeit und ihrer souveränen Rechte unbeugsam einzutreten. Ich möchte den Völkern und Regierungen anderer Länder meine Dankbarkeit ausdrucken, die in diesen für uns kritischen Tagen die Demokratie in der Sowjetunion verteidigten und die legitime Regierung des Landes unterstützten.

Was in diesen Tagen geschehen ist, ist mehr als "eine große Lehre für uns alle". Das ist eine schwere, schreckliche Lehre. Man muß alle entsprechenden Schlußfolgerungen sowohl im Bereich des Staatsaufbaus als auch in den Beziehungen zwischen den Republiken, zwischen den Parteien und gesellschaftlichen Bewegungen, in den zwischennationalen Beziehungen und natürlich auch in der Wirtschaftspolitik und im sittlich-moralischen Bereich ziehen. Womit haben die Verschwörer gerechnet? Damit, daß das Volk müde geworden ist, auf ein besseres Leben zu warten, daß sich die Krise vertieft hat, der Produktionsrückgang nicht gestoppt, die Lage auf dem Markt schwer und die Finanzen zerrüttet sind, daß die Kriminalität zunimmt. Die Menschen wollen sich damit nicht abfinden. Und sie haben recht. Die Verschwörer haben aber außer acht gelassen, daß die Menschen wollen, daß alle diese Fragen legitim, im Rahmen der Demokratie, und nicht auf Kosten der Freiheit und der Menschenrechte, nicht durch Diktatur und Gewalt gelöst werden. Wir müssen uns geschlossener und schneller auf dem Wege der radikalen Reformen fortbewegen. Morgen findet ein Treffen mit den Präsidenten von neun Republiken statt.

Wir werden alles erörtern, alles überprüfen, die unaufschiebbaren Maßnahmen, die nächsten Pläne, unsere Handlungsweisen, das Zusammenwirken und koordinierte Aktionen erwägen. Und wir werden dem Land und der Welt davon berichten. Das Gefühl der Gerechtigkeit verbietet, nicht nur die Anführer der Verschwörung zu bestrafen, sondern auch eine Einschätzung der Handlungen jener Amtspersonen zu geben, die der Revolte Widerstand leisten konnten und es nicht getan haben, die eine abwartende Position bezogen, ja manchmal auch bereit waren, sich dem verbrecherischen Komitee für den Ausnahmezustand zu beugen. Natürlich geht es nicht darum, diese Menschen zu verfolgen, wenn ihre Handlungen keinen gesetzwidrigen Charakter getragen haben. Die Öffentlichkeit muß aber wissen, wer was wert ist, wer sich und wie er sich in diesem verantwortungsvollen Augenblick gezeigt hat, welches sein wahres Gesicht ist. Ich würde es für richtig halten, wenn Personen, die keinen Mut an den Tag legten, das Gesetz zu verteidigen, selbst ihren Rücktritt von staatlichen Posten erklären würden. Ich habe bereits mit einigen Präsidenten der Republiken über weitere Handlungspläne gesprochen.

In der nächsten Zeit wird wahrscheinlich ein neues Datum für die Vertragsunterzeichnung festgelegt. Danach kommen die Annahme der neuen Unionsverfassung, des neuen Wahlgesetzes, die Wahlen des Unionsparlaments und des Präsidenten. Diese Arbeit muß in einer festgesetzten Frist, ohne Verzögerung durchgeführt werden, weil, wie wir sehen, eine Verzögerung der Übergangsperiode für die demokratischen Umgestaltungen gefährlich ist. Man muß entsprechende Schlüsse daraus ziehen, daß das System der Staatssicherheit sich als nicht zuverlässig genug erwiesen hat. Diese Fragen erfordern eine sorgfältige Bearbeitung, man muß sich damit ebenfalls in der nächsten Zeit befassen. Als Präsident nehme ich mir das, was geschehen ist, schwer zu Herzen. Und ich empfinde meine Verantwortung vor euch allen. Dafür, daß ich nicht alles getan habe, damit es nicht geschieht. Ich muß sagen: Was wir alle in diesen Tagen erlebt haben, ist eine schwere Lehre für uns, und vor allem für mich. Eine Lehre auch in Bezug auf die Einstellung zur Nominierung der Leitungskader.

Heute sieht man zum Beispiel ein, daß der Kongreß der Volksdeputierten, der bei der ersten Abstimmung darauf verzichtete, den Vizepräsidenten zu wählen, recht hatte, während der Präsident von seinen Möglichkeiten Gebrauch machte und auf seiner Meinung bestand und damit einen Fehler machte. Man kann sagen, daß es nicht der einzige Fehler gewesen ist. Die heutige erstrangige Aufgabe ist, das Land aus dem Schock herauszuführen. Es wäre falsch zu glauben, daß die Gefahr vorbei ist. In diesem Zusammenhang ist heute die verantwortungsvolle Haltung aller politischen Kräfte, die an den Prinzipien der Demokratie festhalten, besonders wichtig.

Wir alle, die diese Verschwörung bekämpften und uns wie eine Mauer in den Weg der verbrecherischen Pläne stellten, dürfen keinesfalls zu denselben Methoden wie die Verschwörer greifen. Wir müssen uns streng von der Verfassung und dem Gesetz leiten lassen und koordiniert und verantwortungsvoll handeln. Die Ereignisse dieser Tage zeigten, daß die Gesellschaft bereits eine neue Entwicklungsstufe erreicht hat, daß es keine Rückentwicklung geben wird, mögen es sich auch die reaktionären Kräfte wünschen, daß wir im Prinzip eine richtige Richtung für den Fortschritt des Landes gewählt haben. Wir alle haben schwere Tage erlebt. Wollen wir also kühner und entschlossener vorwärtsgehen, bereichert auch mit diesen bitteren Erfahrungen. Ich danke euch allen, hebe Genossen, euch allen, die sich in diesen Tagen zur Verteidigung der Demokratie erhoben haben. Ich habe als Präsident vielleicht die wichtigste Unterstützung bekommen. Vielen Dank.

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