Ausgabe Juni 1997

Das bipolare System existiert nicht mehr

Gemeinsame russisch-chinesische Erklärung zur multipolaren Welt und zur Schaffung einer neuen Weltordnung, verabschiedet in Moskau am 23. April 1997 (Wortlaut)

Von einer neuen Qualität zwischenstaatlicher Beziehungen war die Rede, als Jiang Zemin und Boris Jelzin im April in Moskau zusammentrafen. Am 24. April unterzeichneten sie gemeinsam mit den Präsidenten von Tadschikistan, Kasachstan und Kirgisien ein Abkommen zur Truppenreduktion an den Grenzen, wodurch das gegenseitige Vertrauen - nach fast 30 Jahren des Mißtrauens - unterstrichen wird. Einen Tag zuvor hatten die Präsidenten von Rußland und China eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, die sich gegen hegemoniale Bestrebungen gleich welchen Landes richtet und die Ausdehnung militärischer Blöcke kritisiert. Obwohl weder die USA noch die NATO-Osterweiterung explizit Erwähnung finden, hat die Weltöffentlichkeit sofort begriffen, vor wessen Bug der Warnschuß ging. D. Red.

Ausgehend von der Entwicklung von Beziehungen einer gleichberechtigten und vertrauensvollen Partnerschaft, die auf die strategische Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert ausgerichtet ist, von der Verantwortung vor der Weltgemeinschaft, die sie als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates der UNO tragen, sowie von den übereinstimmenden Herangehensweisen an die großen internationalen Probleme, erklären die Russische Föderation und die Volksrepublik China (im weiteren als die Seiten bezeichnet), folgendes:

1. Die Seiten werden ihre Bemühungen im Geiste partnerschaftlicher Beziehungen auf die Unterstützung der Entwicklung einer multipolaren Welt und die Schaffung einer neuen Weltordnung richten. Die Seiten sind der Ansicht, daß am Ende des 20. Jahrhunderts in den internationalen Beziehungen tiefgreifende Veränderungen vonstatten gegangen sind. Der Kalte Krieg ist beendet. Das bipolare System existiert nicht mehr. Die positive Tendenz der Bildung einer multipolaren Welt entwickelt sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Die Beziehungen zwischen den mächtigen Staaten verändern sich, auch diejenigen zwischen den ehemaligen Gegnern im Kalten Krieg. Regionale Organisationen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit erweisen sich als ausgesprochen lebensfähig. Die Vielschichtigkeit der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung aller Länder bestätigt sich, die Rolle derjenigen Kräfte, die für Frieden und eine breite internationale Zusammenarbeit eintreten, wird stärker. Eine immer größer werdende Anzahl von Ländern kommt zu der übereinstimmenden Meinung, daß gegenseitige Achtung, Gleichheit und beiderseitiger Vorteil, und nicht Hegemoniestreben und eine Politik der Gewalt, daß Dialog und Zusammenarbeit, und nicht Konfrontation und Konflikt, notwendig sind. Der Aufbau einer friedlichen, stabilen, gerechten und rationalen neuen politischen und wirtschaftlichen Weltordnung wird zu einer dringlichen Forderung der Epoche und zu einem Gebot der historischen Entwicklung.

2. Die Seiten treten dafür ein, daß die gegenseitige Achtung der Souveränität und territorialen Integrität, das gegenseitige Nicht-Angreifen, die jeweilige Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, die Gleichheit und der beiderseitige Vorteil, die friedliche Koexistenz und die anderen allgemein anerkannten Prinzipien des Völkerrechts zu fundamentalen Normen in den zwischenstaatlichen Beziehungen und zur Grundlage für die Schaffung einer neuen Weltordnung geworden sind. Jeder Staat hat das Recht, ausgehend von seinen konkreten Voraussetzungen, unabhängig und selbständig und ohne die Einmischung seitens anderer Staaten den Weg für seine Entwicklung zu wählen. Unterschiede im sozialen Aufbau, in den Ideologien und den Wertesystemen dürfen nicht zu einem Hindernis für die Entwicklung normaler zwischenstaatlicher Beziehungen werden. Alle Länder, mögen sie groß oder klein, stark oder schwach, reich oder arm sein, sind gleichberechtigte Mitglieder der Weltgemeinschaft. Kein einziges Land sollte nach Hegemonie streben, eine Politik der Stärke verfolgen oder die internationalen Angelegenheiten zu seinem Monopol erklären. Die Seiten sind der Ansicht, daß die gemeinsame Entwicklung und das Wohlergehen durch den Verzicht auf eine diskriminierende Politik und Praxis in den Wirtschaftsbeziehungen, durch die Stärkung und Ausweitung des Handels- und Wirtschafts-, des wissenschaftlich-technischen und des humanitären Austauschs auf gleichberechtigter und beiderseitig vorteilhafter Basis sowie durch Zusammenarbeit gefördert werden.

3. Die Seiten treten für die Bestätigung eines neuen Sicherheitskonzeptes von umfassender Bedeutung ein. Sie sind der Ansicht, daß mit der Mentalität des Kalten Krieges Schluß gemacht werden muß, und sprechen sich gegen eine Blockpolitik aus. Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten zwischen Ländern müssen mit friedlichen Mitteln und ohne Gewalt bzw. Androhung der Anwendung von Gewalt geregelt werden; auf dem Wege des Dialogs und der Konsultationen muß gegenseitiges Verständnis und Vertrauen aufgebaut, über bilaterale und multilaterale Koordinierung und Zusammenarbeit muß nach Frieden und Sicherheit gestrebt werden. Die Seiten betrachten die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten als wichtigen Faktor der Stabilität und Entwicklung in Eurasien. Sie betonen, daß das Abkommen zwischen der Russischen Föderation, der Republik Kasachstan, der Kirgisischen Republik, der Republik Tadschikistan und der Volksrepublik China über die Stärkung des Vertrauens im militärischen Bereich im Grenzgebiet sowie das Abkommen über die beiderseitige Reduzierung der Streitkräfte im Grenzgebiet von wichtiger Bedeutung sind und als Modell für das Erreichen von Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region nach dem Ende des Kalten Krieges dienen können. Die Seiten beabsichtigen, den Prozeß der Abrüstung zu fördern, und betonen die Bedeutung der Unterzeichnung des Vertrages über ein umfassendes Verbot von Atomtests sowie der Einhaltung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Die Seiten verleihen ihrer Besorgnis wegen der Versuche zur Ausweitung und Stärkung von Mililtärblöcken Ausdruck, da diese Tendenz eine Bedrohung für die Sicherheit einzelner Länder hervorrufen und die Spannung im regionalen und globalen Maßstab verschärfen kann.

4. Die Seiten sind sich darin einig, daß die Rolle der UNO und ihres Sicherheitsrates gestärkt werden muß. Sie bewerten die Bemühungen der UNO zur Förderung von Frieden und Sicherheit auf der ganzen Welt positiv. Sie sind der Ansicht, daß der weltweite Platz und die Rolle der UNO als wichtigste universale und über Autorität verfügende Organisation, die aus souveränen Staaten besteht, nicht durch irgendeine andere internationale Organisation ersetzt werden können. Die Seiten verleihen der Überzeugung Ausdruck, daß die UNO bei der Schaffung und Aufrechterhaltung einer neuen Weltordnung eine wichtige Rolle spielen wird. In den Friedensbemühungen der UNO muß der Schwerpunkt auf die Vermeidung von Konflikten und ihrer Ausweitung gelegt werden. Friedensoperationen können allein auf Beschluß des UNO-Sicherheitsrates und nur mit der Zustimmung der betroffenen Länder sowie in strenger Übereinstimmung mit dem Mandat des Sicherheitsrates und unter seiner Kontrolle durchgeführt werden. In den Fällen, in denen der UNO-Sicherheitsrat in Übereinstimmung mit der Charta einen Beschluß über die Verhängung von Sanktionen fällt, muß der Schaden, der aus ihrer Vermittlerrolle erwächst, sowie der Schaden für Drittländer und benachbarte Regionen auf ein Minimum reduziert werden. Die Sanktionen an sich müssen im Maße der Erfüllung der Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates rechtzeitig abgeschwächt bzw. aufgehoben werden. Die Seiten verleihen ihrer Bereitschaft Ausdruck, eng mit der UNO und ihren Sondereinrichtungen zusammenzuarbeiten und die Bemühungen auf die Steigerung der Effektivität der Arbeit der UNO zu richten. Die Seiten beabsichtigen, regelmäßige Konsultationen zu den entsprechenden Fragen der Arbeit der UNO abzuhalten sowie unter Berücksichtigung der Umstände ihre Aktivitäten in diesem Bereich zu koordinieren.

5. Die Seiten betonen, daß weite Kreise der Entwicklumgsländer und die Bewegung der Blockfreien eine wichtige Kraft darstellen, die zur Schaffung einer multipolaren Welt und zum Aufbau einer neuen Weltordnung beitragen. Die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern wird verstärkt. Ihre Rolle in der internationalen Politik wird gestärkt, ihr Anteil an der Weltwirtschaft erhöht. Ein Aufschwung der Entwicklungsländer wird dem historischen Prozeß des Aufbaus einer neuen Weltordnung einen kräftigen Impuls verleihen. In der künftigen neuen Weltordnung müssen diese Länder den ihnen mit Recht zustehenden Platz einnehmen und gleichberechtigt und ohne Diskriminierung an den internationalen Angelegenheiten beteiligt sein.

6. Die Seiten stellen mit Genugtuung fest, daß der Aufbau und die Entwicklung der russisch-chinesischen Beziehungen einer gleichberechtigten und vertrauensvollen Partnerschaft, die auf die strategische Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert ausgerichtet ist, mit der Entwicklung der internationalen Situation und den internationalen Beziehungen nach dem Kalten Krieg Schritt hält, vollkommen den grundlegenden Interessen der Völker beider Länder entspricht und zu Frieden und Sicherheit im asiatisch-pazifischen Raum und auf der ganzen Welt beiträgt. Rußland und China, die ständige Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates sind, sich an die Prinzipien der Partnerschaft, der guten Nachbarschaft und Freundschaft, der Gleichberechtigung und des Vertrauens, der beiderseitig vorteilhaften Zusammenarbeit und der gemeinsamen Entwicklung halten und die Prinzipien des Völkerrechts strikt einhalten, bekräftigen die langfristigen zwischenstaatlichen Beziehungen des neuen Typs, die nicht gegen Dritte gerichtet sind. Dies ist eine wichtige praktische Erfahrung für den Aufbau einer neuen Weltordnung. Die Seiten beabsichtigen, das sich herausbildende System der Kontakte auf höchster und hoher Ebene aktiv zu nutzen und zu stärken. Die Staatschefs, die Regierungschefs sowie die Außenminister der beiden Länder führen einen regelmäßigen Meinumgsaustausch zu Fragen der bilateralen Beziehungen sowie zu wichtigen internationalen Problemen durch. Geleitet vom Gefühl der historischen Verantwortung für Frieden und Entwicklung auf der ganzen Welt und für die künftige Menschheit stärken die Seiten die Koordinierung und Zusammenarbeit in internationalen Angelegenheiten. Beide Länder richten ihre Bemühungen auf die freundschaftliche Koexistenz und auf die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit allen anderen Staaten, leisten ihren würdigen Beitrag zur Sache der Stärkung des Friedens auf der ganzen Welt und des gemeinsamen Fortschritts der Menschheit.

7. Die Menschheit tritt in eine neue Ära ein. Immer drängender sind die Völker aller Länder mit der Frage konfrontiert, in welcher Weltordnung die Menschen im kommenden Jahrhundert leben werden. Die Seiten rufen alle Länder auf, einen aktiven Dialog zur Frage des Aufbaus einer friedlichen, stabilen, gerechten und rationalen neuen Weltordnung aufzunehmen und sind selbst bereit, alle in diesem Zusammenhang vorgebrachten konstruktiven Vorschläge gemeinsam zu erörtern.

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