Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch vom 26. Januar 2004 (Auszüge)
Offiziell begründete die US-Regierung den Irakkrieg mit der Existenz von Programmen zur Produktion von Massenvernichtungswaffen. In der öffentlichen Debatte, auch in Europa, spielte aber immer die Frage eine Rolle, ob die Lage der Menschenrechte unter dem Regime Saddam Husseins einen militärischen Angriff rechtfertige.
Offiziell begründete die US-Regierung den Irakkrieg mit der Existenz von Programmen zur Produktion von Massenvernichtungswaffen. In der öffentlichen Debatte, auch in Europa, spielte aber immer die Frage eine Rolle, ob die Lage der Menschenrechte unter dem Regime Saddam Husseins einen militärischen Angriff rechtfertige. Da selbst ein Jahr nach Beginn des Krieges keine Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden wurden, beruft sich die Bush-Regierung zunehmend auf das Argument der "humanitären Intervention". Human Rights Watch lehnt "humanitäre Interventionen" nicht grundsätzlich ab. In Bosnien und Ruanda plädierte die internationale Menschenrechtsorganisation mit Hauptsitz in den USA für ein militärisches Eingreifen. In ihrem jüngsten Jahresbericht, den die Organisation am 26. Januar d.J. vorgelegte, prüft ihr Vorsitzender Ken Both anhand eines Kriterienkatalogs, ob der Irakkrieg als "humanitäre Intervention" gelten kann. Der vollständige Bericht ("World Report 2004: Human Rights and Armed Conflict") ist in englischer Sprache unter www.hrw.org abrufbar. Wir dokumentieren Auszüge aus dem ersten Kapitel ("War in Iraq: Not a Humanitarian Intervention") in eigener Übersetzung. – D. Red.[...]
Human Rights Watch bezieht normalerweise keine Stellung dazu, ob ein Staat in den Krieg ziehen soll. Die Fragen, um die es dabei geht, überschreiten in der Regel unser Mandat, und eine neutrale Position versetzt uns bestmöglich in die Lage, alle an einem Konflikt beteiligten Parteien dazu zu drängen, dafür Sorge zu tragen, dass Unbeteiligte keinen Schaden nehmen. Einzig und allein in Extremsituationen, die eine humanitäre Intervention erfordern, machen wir eine Ausnahme in Hinblick auf unsere Neutralität.
[...]
Wenn wir untersuchen, ob der Einmarsch im Irak tatsächlich als humanitäre Intervention verstanden werden kann, geht es uns nicht darum zu sagen, ob die US-geführte Koalition aus anderen Gründen hätte in den Krieg ziehen sollen. Das verlangt, wie schon erwähnt, Einschätzungen und Entscheidungen, die unser Mandat überschreiten. Vielmehr hat angesichts des Umstands, dass die Befürworter des Krieges sich heute so maßgeblich auf eine humanitäre Rechtfertigung für den Krieg berufen, die Überprüfung dieses Anspruchs an Bedeutung gewonnen. Wir kommen zu dem Schluß, dass die Invasion im Irak, trotz Saddam Husseins Schreckensherrschaft, nicht als humanitäre Intervention zu rechtfertigen ist.
Die Bedingungen für eine humanitäre Intervention
[...]
Unserer Meinung nach lässt sich, um es gleich vorab zu sagen, eine humanitäre Intervention, die ohne die Zustimmung der betroffenen Regierung zustande kommt, nur angesichts von bereits stattfindendem oder unmittelbar bevorstehendem Völkermord bzw. vergleichbaren Massentötungen oder Verlusten an Menschenleben rechtfertigen. Denn es ist ja offenkundig: Krieg ist gefährlich. Mag er auch theoretisch gleichsam als chirurgischer Eingriff geplant sein, in der Realität richtet er oft verheerende Zerstörungen an und beinhaltet das Risiko enormen Blutvergießens. Einzig und allein Mord in großem Ausmaß kann unserer Überzeugung nach den Tod, die Zerstörung und das Chaos rechtfertigen, die so oft mit Krieg und der Zeit danach einhergehen. Andere Formen der Tyrannei sind beklagenswert, und es gilt, alles daran zu setzen, sie zu beenden, aber sie erreichen unserer Meinung nach nicht die Schwelle, die den außerordentlichen Schritt eines Einsatzes militärischer Gewalt rechtfertigen würde. Nur ein Massenmord gestattet es vielleicht, den unvermeidlichen Verlust an Menschenleben in Kauf zu nehmen, der mit einem Einsatz militärischer Gewalt, auch wenn er aus humanitären Gründen erfolgt, stets verbunden ist.
Zudem ist militärische Gewalt nur begrenzt einsetzbar. Befürwortete man ein militärisches Vorgehen auch bei weniger schwer wiegenden Missständen, so könnte dies den Verlust der Möglichkeit bedeuten, im Fall extremer Greueltaten zu intervenieren. Die Invasion eines Landes, insbesondere wenn sie ohne die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates erfolgt, beschädigt auch die internationale Rechtsordnung, die selbst ein wichtiger Faktor ist, um Rechte zu schützen. Aus diesen Gründen sind wir der Überzeugung, dass humanitäre Interventionen allein Situationen vorbehalten sein sollten, in denen es zu Massentötungen kommt.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass "Massentötung" ein subjektiver Begriff ist, der unterschiedliche Interpretationen zulässt, und wir schlagen nicht die Festlegung auf ein bestimmtes Ausmaß vor. Wir sehen auch, dass das Ausmaß des Tötens, das uns als Menschenrechtsorganisation eine humanitäre Intervention gerechtfertigt erscheinen läßt, sich sehr wohl von dem unterscheiden kann, das eine Regierung möglicherweise als Schwelle ansetzen würde. Dennoch sollten aufgrund der beträchtlichen Risiken, die mit dem Einsatz militärischer Gewalt verbunden sind, humanitäre Interventionen auf jeden Fall die Ausnahme sein - und den extremsten Situationen vorbehalten bleiben.
Wird diese hohe Schwelle erreicht, prüfen wir an fünf weiteren Faktoren, ob der Einsatz militärischer Gewalt als humanitär gelten kann. Erstens muss das militärische Vorgehen die absolut letzte Möglichkeit sein, dem Morden Einhalt zu gebieten oder es zu verhindern; man sollte nicht zu militärischer Gewalt greifen, solange es noch erfolgversprechende Alternativen gibt. Zweitens muss die Intervention in erster Linie aus humanitären Gründen erfolgen; wir erwarten nicht, dass sie aus rein humanitären Gründen erfolgt, doch sollte das humanitäre Anliegen der Hauptgrund für die Militäraktion sein. Drittens sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um zu gewährleisten, dass die bei der Intervention zum Einsatz kommenden Mittel die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht achten; wir billigen die Ansicht nicht, dass man gewisse Missstände in Kauf nehmen kann, wenn andere dafür beseitigt werden. Viertens muss es einigermaßen absehbar sein, dass das militärische Vorgehen mehr Gutes bewirken als Schaden anrichten wird; eine humanitäre Intervention sollte nicht versucht werden, wenn sie aller Wahrscheinlichkeit nach einen Großbrand entfachen oder das Leiden noch bedeutend verschlimmern könnte. Schließlich ziehen wir es vor, wenn humanitäre Interventionen durch den UN-Sicherheitsrat oder andere Gremien mit eindeutiger multilateraler Autorität gebilligt werden. Angesichts der heutigen unvollkommenen Natur internationaler Institutionen und Verfahren würden wir in einer Situation, in der rasches Handeln vordringlich ist, aber nicht auf einer multilateralen Zustimmung
beharren.
[...]
Das Ausmaß des Tötens
Bei der Betrachtung der Kriterien, die eine humanitäre Intervention rechtfertigen würden, ist das wichtigste, wie bereits erwähnt, das Ausmaß des Tötens: Fanden ein Völkermord oder ein vergleichbarer Massenmord bereits statt oder standen sie unmittelbar bevor? So brutal Saddam Husseins Herrschaft auch gewesen ist, das Töten durch die irakische Regierung erreichte im März 2003 nicht jenes außerordentliche und entsetzliche Ausmaß, das eine humanitäre Intervention rechtfertigt. Wir machen uns keine Illusionen über Saddam Husseins Grausamkeit und Unmenschlichkeit. Wir haben viel Zeit und beträchtliche Anstrengungen auf die Dokumentation seiner Greueltaten verwendet und schätzen, dass in den letzten fünfundzwanzig Jahren der Herrschaft der Baath-Partei die irakische Regierung mindestens eine Viertelmillion Iraker ermordet hat oder hat "verschwinden lassen". Zudem dürfen Übergriffe wie der irakische Einsatz chemischer Waffen gegen iranische Soldaten nicht außer Acht gelassen werden. Doch zur Zeit der Invasion im März 2003 hatte das Morden durch Saddam Hussein nachgelassen.
Es gab Zeiten in der Vergangenheit, da hatte das Töten solche Ausmaße angenommen, dass eine humanitäre Intervention gerechtfertigt gewesen wäre – zum Beispiel während des Anfal-Völkermordes im Jahr 1988, als die irakische Regierung an die 100.000 Kurden umbrachte.
Tatsächlich befürwortete Human Rights Watch, obwohl wir 1988 noch in den Kinderschuhen steckten und im Mittleren Osten noch nicht aktiv waren, 1991 eine Form der Militärintervention, nachdem wir begonnen hatten, uns mit dem Irak zu beschäftigen. Als irakische Kurden, die vor Saddam Husseins brutaler Repression im Gefolge der Aufstände nach dem Golfkrieg flohen im bergigen Grenzgebiet zur Türkei strandeten und viele von ihnen im rauen Winterwetter starben, befürworteten wir die Einrichtung einer Flugverbotszone im Nordirak, damit sie nach Hause zurückkehren konnten, ohne einem erneuten Völkermord ausgesetzt zu sein. Es gab auch noch andere Phasen intensiven Tötens, wie etwa die Unterdrückung der Aufstände von 1991. Aber niemand behauptet, dass die irakische Regierung am Vorabend des jüngsten Irakkrieges oder auch einige Zeit davor Tötungen in einem Ausmaß vorgenommen hätte, das dem damaligen Morden auch nur annähernd gleichgekommen wäre. "Besser spät als nie" ist keine Rechtfertigung für eine humanitäre Intervention, die nur gebilligt werden kann, um einen Massenmord zu stoppen, nicht aber um die Mörder zu bestrafen, so wünschenswert eine Bestrafung unter solchen Umständen auch ist.
Wenn aber Saddam Hussein in der Vergangenheit massenhaft Greueltaten begangen hat, war sein Sturz dann nicht gerechtfertigt, um auf diese Weise zu verhindern, dass er künftig wieder solche Greueltaten begeht? Nein. Human Rights Watch anerkennt zwar, dass Militärinterventionen nicht nur notwendig sein können, um bereits stattfindendem Morden Einhalt zu gebieten, sondern auch, um künftiges Morden zu verhindern, doch muss dieses künftige Morden unmittelbar bevorstehen. Um das außergewöhnliche Mittel eines präventiven Einsatzes militärischer Gewalt aus humanitären Gründen zu rechtfertigen, müssen Beweise dafür vorliegen, dass ein Massenmord großen Ausmaßes vorbereitet und in Kürze beginnen wird, wenn dies nicht durch ein militärisches Eingreifen verhindert wird. Doch niemand hat vor dem Krieg ernsthaft behauptet, die Regierung Saddam Hussein plane unmittelbar bevorstehende Massentötungen, und es haben sich auch keine Hinweise darauf gefunden, dass dies tatsächlich der Fall gewesen wäre. Behauptet wurde allerdings, Saddam Hussein, der ja schon Giftgas gegen iranische Soldaten und irakische Kurden eingesetzt hatte, plane die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen über Terrornetzwerke, doch war dies reine Spekulation; bis heute sind dafür keine wirklichen Beweise aufgetaucht. Es gab auch Befürchtungen, die irakische Regierung könnte auf eine Invasion mit dem Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen reagieren, vielleicht sogar gegen die eigene Bevölkerung, aber niemand behauptete ernsthaft, ein solcher Einsatz könnte auch ohne Invasion unmittelbar bevorstehen.
Das heißt nicht, dass die Greueltaten der Vergangenheit ignoriert werden sollten. Die Täter sollten vielmehr angeklagt werden. Human Rights Watch hat enorme Anstrengungen in die Untersuchung und Dokumentation der Greueltaten der irakischen Regierung investiert, insbesondere des Anfal-Völkermords an irakischen Kurden. Wir haben Zeugen und Überlebende befragt, Massengräber geöffnet, Erdproben genommen, um den Einsatz chemischer Waffen zu belegen, und buchstäblich Tonnen von Geheimdokumenten der irakischen Polizei durchgekämmt. Wir sind um den Globus gereist, um eine Regierung – irgendeine Regierung – dazu zu bewegen, ein Verfahren wegen Völkermords gegen den Irak einzuleiten. Niemand war dazu bereit. Mitte der 90er Jahre, als unsere Bemühungen in dieser Hinsicht am intensivsten waren, befürchteten die Regierungen, den Irak des Völkermords zu beschuldigen könnte eine zu große Provokation darstellen – könnte künftige Handelsbeziehungen mit dem Irak unterminieren, dem eigenen Einfluss im Mittleren Osten abträglich sein, terroristische Vergeltungsmaßnahmen herausfordern oder schlicht zu viel Geld kosten. Doch auf Gerechtigkeit oder sogar Strafverfolgung zu dringen, bedeutet nicht, eine humanitäre Intervention zu rechtfertigen. Anklagen sollten erhoben und Verdächtige verhaftet werden, wenn sie sich ins Ausland wagen sollten, aber das außerordentliche Mittel einer humanitären Intervention sollte nicht eingesetzt werden, nur um Gerechtigkeit für vergangene Verbrechen zu erlangen. Dieser äußerste Schritt sollte, wie schon gesagt, nur unternommen werden, um bereits stattfindende Massentötungen zu beenden oder unmittelbar bevorstehende zu verhindern, nicht aber um in der Vergangenheit begangene Verbrechen zu bestrafen.
Wenn wir feststellen, dass das Töten im Irak nicht jenes Ausmaß erreichte, das eine humanitäre Intervention rechtfertigt, so bedeutet das nicht, dass wir der schrecklichen Lage des irakischen Volkes gleichgültig gegenüberstünden. Wir wissen, dass es bis zum Ende von Sadam Husseins Herrschaft beunruhigend oft zu summarischen Hinrichtungen kam, ebenso zu Folterungen und anderen Grausamkeiten. Auf solche Greueltaten sollte mit öffentlichem, diplomatischem und wirtschaftlichem Druck reagiert werden, ebenso mit Strafverfolgung. Doch das beträchtliche Risiko des Verlusts von Menschenleben, das mit jedem Krieg verbunden ist, sollte man nicht eingehen, sofern Massentötungen nicht bereits stattfinden oder unmittelbar bevorstehen. Dies war im Irak Saddam Husseins im März 2003 nicht der Fall.
Die absolut letzte Option
Dass keine Massentötungen stattfanden oder unmittelbar drohten, reicht an sich schon aus, um der Invasion im Irak den Charakter einer humanitären Intervention abzusprechen. Dennoch ist es, insbesondere in Anbetracht der Grausamkeit von Saddam Husseins Herrschaft, sinnvoll, zu untersuchen, wie es mit den anderen Kriterien für eine humanitäre Intervention aussieht. Diese wurden zum größten Teil ebenfalls nicht erfüllt.
Wie schon ausgeführt, sollte eine Invasion aufgrund der beträchtlichen Risiken, die damit einhergehen, nur dann als humanitäre Intervention gelten, wenn sie die absolut letzte Möglichkeit ist, Massentötungen zu beenden. Da Anfang des Jahres 2003 im Irak keine Massentötungen stattfanden, stellte sich die Frage einer humanitären Intervention eigentlich gar nicht. Doch ist es sinnvoll zu untersuchen, ob die Militärintervention tatsächlich die absolut letzte Möglichkeit war, den Greueltaten, zu denen es im Irak ja kam, ein Ende zu bereiten.
Sie war es nicht. Wäre die Intervention hauptsächlich aus humanitären Gründen erfolgt, so hätte man, lange bevor man zum äußersten Schritt einer Militärinvasion Zuflucht nahm, wenigstens eine andere Option versuchen sollen – nämlich Strafverfolgung. Es gibt keine Garantie, dass eine Strafverfolgung Wirkung gezeigt hätte, und ein Verzicht darauf wäre zu rechtfertigen gewesen, hätten bereits Tötungen in großem Ausmaß stattgefunden. Doch angesichts der mehr routinemäßigen Übergriffe der irakischen Regierung hätte man dieser Alternative zu einer Militäraktion eine Chance geben müssen.
Eine Anklage ist natürlich nicht das gleiche wie Verhaftung, Prozess und Bestrafung. Ein bloßes Stück Papier wird Massentötungen nicht beenden. Aber als langfristiges Vorgehen in Hinblick auf den Irak war der juristische Weg durchaus erfolgversprechend. Die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloševiƒ und dem ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor legen nahe, dass eine internationale Anklage selbst einen grausamen Diktator grundlegend in Misskredit bringt.
Die damit verbundene enorme Stigmatisierung trägt, oft auf unerwartete Weise, dazu bei, die Unterstützung für den Machthaber im In- wie im Ausland zu untergraben. Die internationale Gemeinschaft hat es Saddam Hussein jedoch gestattet, ohne das Stigma einer Anklage wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu regieren, und gar nicht versucht, diesen Schritt zu unternehmen, der zu seiner Beseitigung und gleichzeitig zur Reduzierung der Übergriffe seitens der Regierung hätte beitragen können.
Die Feststellung, dass vor dem Krieg nie der Versuch einer Strafverfolgung gemacht wurde, impliziert, dass der UN-Sicherheitsrat während des gesamten Zeitraums von über einem Jahrzehnt, in dem seine Aufmerksamkeit auf den Irak gerichtet war, nie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat. Die Irak-Resolution des Sicherheitsrates vom April 1991 (Resolution 688) betrat damals mit ihrer Verurteilung "der Unterdrückung der irakischen Zivilbevölkerung in vielen Teilen des Iraks" Neuland als erste Sicherheitsratsresolution, die eine derartige Unterdrückung als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit behandelte. Aber der Sicherheitsrat griff in der Folge nie zu dem sich anbietenden Mittel der Strafverfolgung, um diese Unterdrückung abzukürzen. Hätte die US-Regierung indes nur ein wenig von dem Eifer, mit dem sie auf den Krieg drängte, auf das Mittel der Strafverfolgung verwandt, wären die Chancen gar nicht so schlecht gewesen, dass der Sicherheitsrat reagiert hätte.
Humanitäre Zielsetzung
Jede humanitäre Intervention sollte mit dem Ziel der größtmöglichen Verbesserung der humanitären Situation durchgeführt werden. Wir räumen ein, dass eine von rein humanitären Erwägungen bestimmte Intervention vermutlich kaum zu finden ist. Regierungen, die intervenieren, um Massentötungen ein Ende zu bereiten, haben unweigerlich auch andere Gründe für ihr Handeln, weshalb wir nicht auf einer ausschließlich humanitären Erwägungen verpflichteten Motivation bestehen. Aber eine in der Hauptsache von humanitären Gesichtspunkten bestimmte Motivation ist wichtig, weil sie sich auf zahlreiche während und nach einer Intervention zu fällende Entscheidungen auswirkt, die für deren Erfolg, Menschen vor Schaden zu bewahren, von grundlegender Bedeutung sein können.
Humanitäre Erwägungen, selbst wenn man sie ganz allgemein als Sorge um das Wohlergehen des irakischen Volkes versteht, waren bestenfalls ein untergeordneter Beweggrund für den Einmarsch im Irak. Die im Vorfeld der Invasion genannten Hauptkriegsgründe waren dessen angeblicher Besitz von Massenvernichtungswaffen und das angebliche Versäumnis der irakischen Regierung, über ebendiese Massenvernichtungswaffen den zahlreichen UN-Resolutionen gemäß Rechenschaft abzulegen, sowie die angebliche Verbindung der irakischen Regierung mit Terrornetzwerken. US-Regierungsbeamte sprachen auch von einem demokratischen Irak, der dann den ganzen Mittleren Osten transformieren sollte. In diesem Wirrwarr von Beweggründen wurde Saddam Husseins Grausamkeit seiner eigenen Bevölkerung gegenüber zwar erwähnt – zuweilen auch an prominenter Stelle –, doch war sie im Vorfeld des Krieges nie der dominierende Faktor. Dies ist keine rein akademische Frage; es beeinflusste vielmehr die Durchführung der Invasion, und zwar zum Schaden des irakischen Volkes.
So wären die Invasionstruppen, wäre es um die möglichst effektive Durchführung einer humanitären Intervention gegangen, besser darauf vorbereitet gewesen, das voraussagbare Sicherheitsvakuum zu füllen, das durch den Sturz der irakischen Regierung entstand. Es war ganz klar vorhersehbar gewesen, dass Saddam Husseins Entmachtung zu zivilem Chaos führen würde. Die Aufstände von 1991 im Irak waren von außergerichtlichen Massenhinrichtungen in großem Ausmaß begleitet gewesen. Die Arabisierungspolitik der Regierung ließ Zusammenstöße zwischen zwangsumgesiedelten Kurden, die danach trachteten, ihre früheren Wohnungen zurückzubekommen, und Arabern, die dort eingezogen waren, befürchten. Andere plötzliche Regimewechsel, wie etwa der bosnisch-serbische Rückzug aus den Vororten Sarajevos im Jahr 1996, waren von weit verbreiteter Gewalt, Plünderung und Brandstiftung gekennzeichnet.
Nicht zuletzt, um Gewalt und Chaos zu verhindern, seien "mehrere" hunderttausend Soldaten erforderlich, sagte der Stabschef der US-Army vor dem Krieg, General Eric K. Shinseki, voraus. Aber die zivilen Führer im Pentagon setzten sich über diese Einschätzung hinweg und begannen den Krieg mit einer wesentlich kleineren Kampftruppe von etwa 150000 Mann. Die Gründe für diese Entscheidung sind unklar, doch scheinen sie auf eine Mischung aus dem Glauben der US-Regierung an Hightech-Waffensysteme, ihrem Widerwillen gegen Nationalbuilding, ihrer Abneigung, sich angesichts der zu erwartenden unerträglichen Sommertemperaturen im Irak und der leidenschaftlichen Opposition gegen den Krieg überall auf der Welt die Zeit für weitere Truppenentsendungen zu nehmen, und ihrem übermäßigen Vertrauen auf Wunschdenken und "Best-Case-Szenarios" zurückzuführen zu sein. Die Folge ist, dass die Koalitionstruppen, angesichts der Größenordnung der Aufgabe, mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Irak schnell überfordert waren. Plünderungen waren an der Tagesordnung. Waffenlager wurden überfallen und geleert. Die Gewalt nahm überhand.