Ausgabe Mai 2008

Schlafen mit offenem Auge

60 Jahre Israel

Für gewöhnlich schlafe ich gut. In unserer ruhigen Vorstadtstraße am Stadtrand von Jerusalem, wo die Lichter von Ramot und Beit Iqsa sich argwöhnisch beäugen, durchbricht nur gelegentlich der Lärm zwischen den Mülltonnen umherjagender Hunde das Schweigen der Nacht. Wenn ich aber einmal nicht schlafen kann, vor allem nach einem Tag voller schlimmer Nachrichten – und solche Tage sind in Israel nicht selten –, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, wohin wir uns bewegen.

In seinem Essay „Verratene Vermächtnisse” von 1994 schrieb Milan Kundera: „Kleine Völker. Der Begriff ist nicht quantitativ gemeint, er verweist auf einen Zustand, ein Schicksal. Kleine Völker haben nicht jenes beglückende Gefühl einer ewigen Vergangenheit und Zukunft. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Geschichte sind sie alle durch die Vorzimmer des Todes gegangen, in fortwährender Konfrontation mit der überheblichen Ignoranz der Mächtigen erscheint ihnen ihre Existenz ständig bedroht oder mit einem Fragezeichen versehen, das über ihr schwebt. Denn es geht um ihre Existenz.“ Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Ein kleines Volk zu sein bedeutet, mitten in der Nacht in der Ungewissheit aufzuwachen, ob man am Morgen noch da sein wird.

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