Das Wort vom „historischen Tag“ machte die Runde, als Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) Anfang April euphorisch verkündete, dass in einem parteiübergreifenden Konsens das „letzte strittige Thema des Atomzeitalters einvernehmlich geregelt“ worden sei. Zusammen mit seinen Vorgängern Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) und Sigmar Gabriel (SPD) sowie den Ministerpräsidenten Stephan Weil (Niedersachsen, SPD) und Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg, Bündnis 90/Die Grünen) feierte er die große Einigung von Bund und Ländern mit vier der fünf Bundestagsfraktionen: Die Suche nach einem geeigneten Lagerplatz für den hochradioaktiven Atommüll solle nun neu beginnen, bundesweit auf einer „weißen Landkarte“, ergebnisoffen und transparent, streng nach wissenschaftlichen Kriterien.
Doch dass das „Standortauswahlgesetz“ tatsächlich wie gewünscht noch in dieser Legislaturperiode im Bundestag verabschiedet wird, stand schon Anfang Juni wieder auf der Kippe: Umstritten war die Lagerung der letzten 26 Castor-Behälter, die noch aus den Plutoniumfabriken im französischen La Hague und im britischen Sellafield zurückgenommen werden müssen – und die nicht mehr in Gorleben zwischengelagert werden sollen. Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein forderten, dass neben ihnen auch ein schwarz-gelb regiertes Bundesland die Aufnahme zusagen soll – es fand sich aber keins. Um das Gesetz dennoch zu retten, wurde diese Frage kurzerhand auf 2014 vertagt.
Als Peter Altmaier zusammen mit Trittin und Gabriel die historische Überwindung des Atommüllkonflikts feierte, hat er eines völlig übersehen: Der Konflikt war immer einer zwischen Staat und Bevölkerung. Ein Parteienkonsens kann den Konflikt deshalb nicht überwinden, weil nur eine Konfliktpartei am Tisch sitzt. Die andere Seite, nämlich die betroffene Bevölkerung, blieb auch diesmal wieder außen vor. Altmaier beispielsweise scheint davon überzeugt, dass er ein Einvernehmen mit der Anti-Atom-Bewegung erzielt hat, wenn er sich mit den Grünen einig ist. Entsprechend groß war die Irritation des Ministers, als er dem Wunsch der Grünen nach einem dreitägigen „Bürgerforum“ über das Endlagersuchgesetz nachkam, dieses dann aber von über 140 Umweltverbänden und Bürgerinitiativen boykottiert wurde. Sie wollten kein Feigenblatt für ein schlechtes Gesetz sein, bei dem wesentliche Änderungen nicht mehr möglich sind.[1]
Die Parteien misstrauen der Bevölkerung
Entstanden ist die Vorlage für das Endlagersuchgesetz völlig intransparent in kleinen Runden von Spitzenpolitikern in Berliner Hinterzimmern. Umweltverbände bekamen nicht einmal 48 Stunden Zeit, um eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Im Vorfeld der Abstimmung im Bundestag durften Interessierte auf dem sogenannten Bürgerforum nur jeweils fünf Minuten ihre Meinung zum Gesetz äußern, ohne dass daraus Änderungen im Gesetzesvorschlag erwachsen konnten. Im Gesetzentwurf selbst beschränkt sich Bürgerbeteiligung darauf, dass sich jeder informieren kann und seine Meinung sagen darf. Wirkliche Mitbestimmung ist nicht vorgesehen. Die Klagerechte der Betroffenen wurden massiv eingeschränkt. Eine neue Bundesbehörde soll fast alle Macht bei sich konzentrieren, ohne dass sie einer nennenswerten Kontrolle unterworfen würde. All das zeugt von großem Misstrauen der Politik gegenüber der Bevölkerung. Das Gesetz dient dazu, das Suchverfahren vor den Bürgerinnen und Bürgern zu schützen, statt sie aktiv mit einzubeziehen. Nur dann jedoch hätte die Suche nach dem am wenigsten schlechten Standort überhaupt Aussicht auf Erfolg – irgendwo muss das strahlende Atomerbe schließlich abgelegt werden.
Die langfristige absolut sichere Lagerung von Atommüll ist ein technisch und ethisch unlösbares Problem. Ein wirkliches „Endlager“, also eine geologische Formation, in der der strahlende Abfall eine Million Jahre sicher lagert, wird es nicht geben. Von der Vorstellung, der Atommüll ließe sich irgendwo auf Dauer uneingeschränkt sicher aufbewahren, sollten wir uns daher verabschieden. In der Asse und in Morsleben hat das noch nicht einmal drei Jahrzehnte geklappt. Es kann also nur eine Suche nach dem am wenigsten schlechten Lagerort geben – an den aber nichtsdestotrotz allerhöchste Sicherheitskriterien anzulegen sind. Daher wird eine Region zukünftig stellvertretend für die Gesellschaft die Gefahren der Lagerung auf sich nehmen müssen. Es ist ein Gebot politischer Wahrhaftigkeit, den Menschen dort zu sagen, dass sie ein Risiko eingehen und dass dies trotzdem nötig ist.
Der drohende Widerstand gegen ein Atommüll-Lager
Wer sich mit der Überwindung eskalierter Konflikte auskennt, ob im zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen oder zwischenstaatlichen Ausmaß, der weiß: Erst wenn sich die Konfliktparteien auf gemeinsame Spielregeln geeinigt haben, können die Verhandlungen richtig beginnen.
Der „AK End“, ein Kreis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit konträren Meinungen zur Atomkraft, hat schon vor einem Jahrzehnt im Auftrag der Bundesregierung intensiv über einen Weg zu einem Suchverfahren nachgedacht. Sie schlugen vor, eine zweijährige gesellschaftliche Verfahrensdebatte zu führen, bevor ein Gesetz beschlossen wird. Auch die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern in Sachen Endlagersuche bestätigen, dass der breite Konsens über das Verfahren die Erfolgschancen der Suche deutlich verbessert.
Dass der „historische“ Kompromiss demgegenüber nicht weit trägt, zeigte sich schon wenige Tage nach der angeblichen Einigung von Bund und Ländern. Gefragt, ob die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer bereit seien, den Atommüll aufzunehmen, wenn die Wissenschaft zum Ergebnis käme, der beste Standort läge in ihrem Land, antworteten lediglich vier mit „Ja“.[2]
Schon jetzt gehen die meisten Politikerinnen und Politiker, die am Zustandekommen des Endlagersuchgesetzes beteiligt sind, davon aus, dass es gegen ein Atommülllager massiven Widerstand der betroffenen Region geben wird und es schließlich mit Polizeigewalt durchgesetzt werden muss und wird. Dabei ist es viel wahrscheinlicher, dass das Projekt gerade deswegen am Ende scheitert.
Denn kaum etwas bringt die Menschen mehr auf die Straße als die berechtigte Furcht vor der radioaktiven Gefahr, gemischt mit dem Gefühl, von der Regierung nicht ernst genommen zu werden. Nur wenn die Betroffenen Vertrauen in das Such- und Auswahlverfahren haben, nur wenn ihre Bedingungen an das Verfahren erfüllt sind, werden sie möglicherweise zustimmen, statt das Lager zu verhindern. Die Architekten des jetzt vorliegenden Endlagersuchgesetzes gehen allerdings den umgekehrten Weg: Sie wollen die Betroffenen erst einbeziehen, wenn die Suche weit fortgeschritten ist. Dann jedoch kann es wieder zu spät und – wie in den vergangenen 35 Jahren Atommüll-Debatte – jegliches Vertrauen der Betroffenen verspielt sein.
Neben Gorleben wird heute an 16 Orten in der Republik hochradioaktiver Atommüll zwischengelagert. An all diesen Orten wurde die Bevölkerung irgendwann ausgetrickst und betrogen. Das Misstrauen ist entsprechend groß. Aber genau das kann auch eine Chance sein: Denn diejenigen, die misstrauen, sind Expertinnen und Experten dafür, wie sich Vertrauen herstellen lässt. Erst wenn es gelingt, gerade die Betroffenen und die Bedenkenträger für den Prozess zu gewinnen, können diese einerseits auf der Basis ihrer großen Motivation wichtige Impulse setzen und andererseits die Schwachstellen im Verfahren aufdecken und es besser machen.
Jedes Jahr kommt neuer strahlender Müll dazu
Zugleich wird die Bereitschaft einer Region, Verantwortung für die radioaktiven Hinterlassenschaften des Atomzeitalters stellvertretend für die ganze Gesellschaft zu übernehmen, umso geringer sein, je mehr Atomkraftwerke noch in Betrieb sind, die tagtäglich weitere strahlende Abfälle produzieren. Wenn die einen mit der Produktion von Atommüll weiter Millionengewinne erwirtschaften, sinkt die Bereitschaft der anderen, Risiken zu tragen.
Selbst Bundesumweltminister Altmaier hat es bei einem Besuch in Lüchow Anfang des Jahres auf den Punkt gebracht: „Eigentlich hätte man gar nicht anfangen dürfen, diesen Müll zu produzieren.“ Konsequenzen aus seiner Erkenntnis hat der Minister seither allerdings nicht gezogen: Noch immer laufen hierzulande neun Atomkraftwerke. Und bleibt es beim jetzigen Atomgesetz, beschlossen von einer sehr großen Koalition aus Union, FDP, SPD und Grünen im Jahr 2011, direkt nach der Atomkatastrophe in Fukushima, dann wird in der ganzen kommenden Legislaturperiode nur ein einziger Meiler abgeschaltet. Deutschland steht auf Platz zwei in der Rangliste der größten Atommüllproduzenten in der EU – und das soll auf Jahre hinaus noch so bleiben. Nach einer aktuellen Emnid-Umfrage wollen 51 Prozent der Bevölkerung schneller aussteigen.
Es ist also eine einfache Formel: Mit jedem öffentlich geäußerten Zweifel an der Energiewende schwindet das Vertrauen in Sachen Endlagersuche. Mit jedem AKW, das schneller als bisher vereinbart vom Netz geht, wachsen dagegen das Vertrauen und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Um das Vertrauen in die ergebnisoffene Suche auch in Gorleben zu stärken, sollen geplante Castor-Transporte aus Sellafield und La Hague nach Gorleben ausgesetzt werden. Gleichwohl bleibt der seit 35 Jahren umstrittene Salzstock mit im Topf, und ihm ist sogar ein eigenes Kapitel im Gesetz gewidmet. Dies hat einen einfachen Grund: Die anderen Bundesländer wären sonst nicht bereit gewesen, auch auf ihrem Territorium nach Standorten suchen zu lassen.
Bereits im Jahr 1995 hat die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe Dutzende Salzstöcke in Norddeutschland auf ihre Eignung für ein Atommüll-Endlager untersucht, Gorleben war nicht darunter. Würde der Standort im Wendland allerdings mit den Kriterien dieser Studie gemessen, dann würde er lediglich im Mittelfeld landen. So gesehen könnte Gorleben bereits jetzt aus geologischen Gründen aufgegeben werden, weil es zahlreiche besser geeignete Orte gibt.
Doch in Gorleben steckt bereits eine Menge Geld. Schon 1,6 Mrd. Euro wurden dort verbaut. In den nächsten 15 Jahren sollen allein für die Offenhaltung noch einmal 300 Mio. Euro dazukommen. Es ist daher denkbar unwahrscheinlich, dass die geplante Bund-Länder-Kommission in den nächsten zwei Jahren geologische Kriterien festlegt, die gegen Gorleben sprechen. Denn diesen Kriterien müssten zwei Drittel der Kommission zustimmen. Es kann also gut sein, dass die neue Suche am Ende doch wieder auf den alten Standort hinausläuft – trotz aller geologischen Mängel.[3]
Die Anti-Atom-Bewegung steckt in einem Dilemma
Schließlich befindet sich die Anti-Atom-Bewegung selbst derzeit in einem Dilemma: Einerseits ist angesichts der Erfahrungen mit den bisherigen Endlagerprojekten klar, dass es eine hundertprozentig sichere Aufbewahrung von Atommüll für eine Million Jahre nicht geben wird. Deshalb widersprechen die Bürgerinitiativen dem Versprechen einer absolut sicheren Lösung für alle Zeit.
Andererseits haben gerade aktive Atomkraftgegnerinnen und Atomkraftgegner durch ihre Kenntnisse über die Gefahren der hochradioaktiven Abfälle ein besonderes Interesse an einer möglichst sicheren Lagerung, die möglichst schnell umgesetzt wird. Das Problem jedoch ist: Tragen Bürgerinitiativen und Umweltverbände zu der am wenigsten schlechten Lösung des Atommüll-Konfliktes bei, könnte dies einerseits als Legitimation für den Weiterbetrieb der Reaktoren missbraucht werden und damit die Risiken verschärfen. Weil die Anti-Atom-Bewegung die Entsorgungsdebatte aus guten Gründen immer auch als Hebel verstanden hat, die Stilllegung von Atomkraftwerken zu erreichen, nimmt die Politik ihr andererseits nicht ab, dass sie jetzt in Sachen Endlagersuchgesetz bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Die Forderung der Initiativen, vor einem Gesetz müsse ein gesellschaftlicher Konsens stehen, interpretieren manche in der Politik als Spiel auf Zeit, um Lösungen zu verhindern.
Ironischerweise findet derzeit an etlichen Atom-Standorten ein spektakulärer Rollenwechsel statt: So fordert in Biblis die örtliche CDU den Abtransport des Atommülls, weil die Lagerung im Kraftwerk gefährlich sei, während die dortige Anti-Atom-Initiative für den Bau einer neuen Lagerhalle vor Ort plädiert. In Philippsburg kündigt der CDU-Bürgermeister zivilen Ungehorsam an, sollten Castor-Transporte aus Frankreich ins dortige Zwischenlager rollen. Die Gundremminger Atomkraftgegner wurden neulich vom CSU-Landrat darauf angesprochen, dass man ja jetzt gemeinsam gegen ein Endlager in Bayern demonstrieren könne. Deren Antwort jedoch lautete: „Nein, wenn sich herausstellt, dass hier der Platz mit dem geringsten Risiko ist, dann sind wir dafür, den Atommüll zu nehmen.“
Am Ende werden es die Atomkraftgegner sein, die Verantwortung für den Müll übernehmen, dessen Produktion sie immer verhindern wollten und der sich nirgends absolut sicher lagern lassen wird. Ihre Widersacher werden Landes- und Lokalpolitiker sein, die noch vor kurzer Zeit den Segen der Atomkraft beschworen haben und die sich nun von ihrem Anti-Atommüll-Kurs Wählerstimmen versprechen.
Wenn es schon keinen „historischen Tag“ gab, so gibt es somit doch eine historische Gewissheit: Verantwortung übernimmt zuvorderst die Anti-Atom-Bewegung.
[1] Vgl. Entwurf des Standortauswahlgesetzes, www.bmu.de/N49950.
[2] Vgl. „Focus“, 16/2013, S. 60.
[3] Vgl. Thomas Breuer, Auf Salz gebaut: Die Lehren aus Gorleben, in: „Blätter“, 1/2012, S. 13-16; Jochen Stay, Der Kampf um Gorleben. Ziele und Erfolge der Anti-Atom-Bewegung, in: „Blätter“, 1/2011, S. 74-80 und Wolfgang Ehmke, Kontaminiert in Ewigkeit, in „Blätter“, 10/2009, S. 8-11.