Streifzüge durch ein uneindeutiges Land
Wenn die Iranerinnen und Iraner am 19. Mai ihren Präsidenten wählen, hat der moderate Kleriker Hassan Rohani gute Chancen, das Vertrauen für eine zweite Amtszeit zu erringen. Vielen Beobachtern gilt er als Garant dafür, dass sich Irans neue Diplomatie des Dialogs gegenüber dem Westens fortsetzen würde – wenn auch unter widrigen Bedingungen. Denn die Entspannung, die sich viele Iraner nach dem 2015 ausgehandelten Nuklearabkommen erhofft haben, will vorerst nicht eintreten: US-Präsident Donald Trump ist daran gelegen, eine Drohkulisse aufrechtzuerhalten; neue Sanktionen wurden erlassen.
Die üblichen Kurzzeit-Analysen übersehen allerdings, dass sich die iranische Gesellschaft unter der Oberfläche der offiziellen Politik schon lange in einem Veränderungsprozess befindet. Das zu erkennen ist nicht immer leicht, und westliche Prognosen über die Entwicklung der Islamischen Republik haben sich so oft als falsch erwiesen, dass die Iraner daraus eine Gesetzmäßigkeit abgeleitet haben: „Nur eines weiß man sicher: Was ihr alle vorhersagt, wird garantiert nicht passieren.” Quelle vieler Fehldeutungen ist unser Hang zum binären Denken: Gut oder Böse; für uns, gegen uns; westlich-säkular gegen religiös-fanatisch. Alles, was uns vertraut und schön erscheint, wird als pro-westlich definiert: ob Lippenstift, verrutschtes Kopftuch oder Menschenrecht.