
Bild: Gerville/iStockPhoto
Noch nie in unserem Leben haben wir ein derartiges globales Phänomen erfahren. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte hat die gesamte Menschheit, informiert durch die beispiellose Reichweite digitaler Technologie, zusammengefunden, konzentriert sie sich auf dieselbe existenzielle Bedrohung, wird sie von denselben Ängsten und Unsicherheiten erfüllt und erwartet sie sehnlichst dieselben, bislang uneingelösten, Versprechen der Medizin.
Binnen nur einer Jahreszeit hat ein mikroskopischer Parasit, der 10 000 Mal kleiner als ein Salzkorn ist, die gesamte Zivilisation erniedrigt. Covid-19 attackiert unsere physischen Körper, aber auch die kulturellen Grundlagen unseres Lebens, den Werkzeugkasten für Gemeinschaft und Verbundenheit, der für die Menschen das ist, was Klauen und Zähne dem Tiger bedeuten.
Unsere Interventionen haben sich bislang hauptsächlich darauf konzentriert, die Verbreitungsrate abzuschwächen und die Erkrankungskurve abzuflachen. Eine Behandlung steht nicht zur Verfügung und am nahen Horizont wartet nicht mit Sicherheit ein Impfstoff. Die schnellste jemals entwickelte Impfung richtete sich gegen Mumps. Das dauerte vier Jahre. Covid-19 tötete 100 000 Amerikaner in vier Monaten. Es gibt Hinweise, dass eine natürliche Infektion nicht zu Immunität führen könnte, weshalb einige an der Wirksamkeit einer Impfung zweifeln, so denn überhaupt eine gefunden wird. Und sie muss sicher sein. Wenn die Weltbevölkerung immunisiert werden soll, würden tödliche Komplikationen bei nur einer von tausend Personen den Tod von Millionen bedeuten.
Pandemien und Seuchen haben es an sich, den Lauf der Geschichte zu ändern. Das aber geschieht nicht immer auf eine Weise, die den Überlebenden sofort augenfällig wäre. Im 14. Jahrhundert forderte der Schwarze Tod nahezu die Hälfte der europäischen Bevölkerung. Die Knappheit an Arbeitskräften führte zu höheren Löhnen. Steigende Erwartungen kulminierten im Bauernaufstand von 1381, ein Wendepunkt, der den Anfang vom Ende des Feudalsystems markierte, das das mittelalterliche Europa tausend Jahre lang beherrscht hatte. Die Covid-Pandemie wird als ein solcher historischer Moment erinnert werden, ein bahnbrechendes Ereignis, dessen Bedeutung sich erst im Zuge der Krise offenbaren wird. Sie wird diese Ära in ähnlicher Weise bestimmen, wie die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand 1914, der Börsencrash von 1929 und die Machtübernahme Adolf Hitlers 1933 zu grundlegenden Bezugspunkten des vergangenen Jahrhunderts wurden – als Vorzeichen größerer und folgenreicherer Ereignisse.
Die historische Bedeutung von Covid besteht nicht in ihren Auswirkungen auf unser tägliches Leben. Wandel ist mit Blick auf die Kultur schließlich die einzige Konstante. Alle Völker an allen Orten und zu allen Zeiten tanzen immer mit neuen Möglichkeiten des Lebens. Wenn Firmen zentrale Büros auflösen oder verkleinern, Beschäftigte von zu Hause arbeiten, Restaurants schließen, Shopping Malls die Rollläden herunterlassen, Streamingdienste Unterhaltung und Sportereignisse ins Haus bringen und wenn Flugreisen immer problematischer und elender werden, dann werden sich die Menschen anpassen, so wie wir das immer getan haben. Die Veränderlichkeit des Gedächtnisses und die Fähigkeit zum Vergessen ist vielleicht der eindringlichste Zug unserer Spezies. Wie die Geschichte bestätigt, gestattet er uns, mit jedem Maß an gesellschaftlicher, moralischer oder ökologischer Verschlechterung zurechtzukommen.
Gewiss, die finanzielle Unsicherheit wird einen langen Schatten werfen. Über der Weltwirtschaft wird für einige Zeit die nüchterne Erkenntnis schweben, dass alles Geld in den Händen aller Länder der Erde nie genug sein wird, um die Verluste auszugleichen, die entstehen, wenn die gesamte Welt zu funktionieren aufhört, weil Arbeiter und Unternehmen überall vor der Wahl zwischen wirtschaftlichem und biologischem Überleben stehen.
So beunruhigend diese Übergänge und Umstände sein werden, so knapp sie an einen vollständigen wirtschaftlichen Kollaps heranreichen, stechen sie doch alle nicht als historische Wendepunkte hervor. Was dies aber ganz sicher tut, ist die absolut verheerende Auswirkung, die diese Pandemie auf die Reputation und das internationale Standing der Vereinigten Staaten von Amerika hat.
In einer dunklen Seuchensaison hat Covid die Illusion des amerikanischen Exzeptionalismus vollständig zerstört. Auf dem Höhepunkt der Krise, als jeden Tag mehr als 2000 Menschen starben, fanden sich die Amerikaner in einem gescheiterten Staat wieder, der von einer dysfunktionalen und inkompetenten Regierung geführt wurde, die hauptverantwortlich für Todesraten war, die Amerikas weltweiten Führungsanspruch in einem tragischen Schlusssatz ausklingen ließen.
Zum ersten Mal sah sich die internationale Gemeinschaft veranlasst, Katastrophenhilfe nach Washington zu senden. Über mehr als zwei Jahrhunderte, schrieb die „Irish Times“, „haben die Vereinigten Staaten in der Welt eine sehr große Spanne von Gefühlen hervorgerufen: Liebe und Hass, Angst und Hoffnung, Neid und Verachtung, Ehrfurcht und Wut. Aber es gab eine Emotion, die – bis jetzt – nie auf die USA gerichtet wurde: Mitleid.“ Als amerikanische Ärzte und Krankenschwestern sehnlichst auf Notfall-Lufttransporte mit Grundversorgung aus China warteten, öffnete sich das Tor der Geschichte zum asiatischen Jahrhundert.
Kein Imperium überdauert lange, selbst wenn nur wenige seinen Niedergang erwarten. Jedes Königreich ist zum Sterben bestimmt. Das 15. Jahrhundert gehörte den Portugiesen, das 16. Spanien und das 17. den Niederländern. Frankreich beherrschte das 18. und Großbritannien das 19.; ausgeblutet und bankrott durch den Großen Krieg, gelang es den Briten noch bis 1935, als das Imperium seine größte geographische Ausdehnung erreichte, eine Vortäuschung von Dominanz aufrechtzuerhalten. Aber natürlich war der Staffelstab da schon lange in die Hände Amerikas übergegangen.
Noch 1940, als Europa schon in Flammen stand, war die Armee der Vereinigten Staaten kleiner als die von Portugal oder Bulgarien. Vier Jahre später dienten 18 Millionen Männer und Frauen in Uniform, während weitere Millionen Doppelschichten in Minen und Fabriken schoben und Amerika, wie Präsident Roosevelt versprochen hatte, zum Arsenal der Demokratie machten.
Als die Japaner sechs Wochen nach Pearl Harbour 90 Prozent der weltweiten Gummivorräte unter ihre Kontrolle brachten, senkten die USA die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 35 mph (miles per hour, entspricht rund 56 Stundenkilometern) ab, um die Reifen zu schonen. Dann bauten sie binnen drei Jahren aus dem Nichts eine Industrie für synthetischen Kautschuk auf, die es den alliierten Armeen erlaubte, die Nazis zu überrollen. Auf dem Höhepunkt der Kriegsbemühungen produzierte Henry Fords Willow-Run-Fabrik rund um die Uhr alle zwei Stunden einen Bomber vom Typ B-24 Liberator. Werften in Long Beach und Sausalito spuckten vier Jahre lang je zwei Liberty-Frachter am Tag aus; der Rekord für ein Schiff lag bei vier Tagen, 15 Stunden und 29 Minuten. Eine einzige amerikanische Fabrik, Chryslers Detroit Arsenal, baute mehr Panzer als das gesamte Dritte Reich.
Der zerbrochene Gesellschaftsvertrag
Nach dem Krieg, als Europa und Japan in Trümmern lagen, stellten die Vereinigten Staaten zwar bloß sechs Prozent der Weltbevölkerung, aber die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung, darunter die Produktion von 93 Prozent aller Autos. Diese wirtschaftliche Dominanz gebar eine dynamische Mittelschicht und eine Gewerkschaftsbewegung, die es einem Alleinverdiener mit begrenzter Bildung ermöglichte, Haus und Auto zu besitzen, eine Familie zu unterhalten und seine Kinder auf gute Schulen zu schicken. Es war noch lange keine perfekte Welt, aber der Wohlstand machte einen Waffenstillstand zwischen Kapital und Arbeit möglich, eine Wechselseitigkeit der Möglichkeiten in einer Zeit rasanten Wachstums und sinkender Einkommensungleichheit, die von hohen Steuern für die Wohlhabenden geprägt war, die keineswegs die einzigen Nutznießer des goldenen Zeitalters des amerikanischen Kapitalismus waren.
Aber Freiheit und Wohlstand hatten einen Preis. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs waren die Vereinigten Staaten praktisch noch ein demilitarisiertes Land, doch nach dem Sieg traten sie als militärische Vormacht nie ab. Heute sind amerikanische Soldaten in 150 Ländern im Einsatz. Seit den 1970er Jahren hat China nicht einen Krieg geführt; die USA haben nicht einen Tag im Frieden verbracht. Der ehemalige Präsident Jimmy Carter stellte jüngst fest, dass Amerika in seiner 242jährigen Geschichte nur 16 Jahre des Friedens genossen habe, was es, wie er schrieb, „zum kriegerischsten Land in der Weltgeschichte“ mache.
Seit 2001 haben die USA über sechs Billionen Dollar für Militäroperationen und Krieg ausgegeben, Geld, das man in die heimische Infrastruktur hätte investieren können. Unterdessen hat China sein Land aufgebaut und alle drei Jahre mehr Zement ausgeschüttet als Amerika im gesamten 20. Jahrhundert. Während Amerika Weltpolizei spielte, kam die Gewalt nach Hause zurück. Am D-Day, dem 6. Juni 1944, starben 4414 alliierte Soldaten. 2019 sind im Inland allein bis Ende April genauso viele amerikanische Männer und Frauen mit Schusswaffen getötet worden. Im Juni letzten Jahres hatten Schusswaffen in den Händen gewöhnlicher Amerikaner mehr Opfer gefordert, als die Alliierten im ersten Monat in der Normandie erlitten, bei einem Feldzug, der die militärische Stärke von fünf Ländern aufzehrte.
Mehr als jedes andere Land machten die Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit das Individuum zum Helden, auf Kosten von Gemeinschaft und Familie. Es war das soziologische Äquivalent zur Spaltung des Atoms. Was dabei an Mobilität und persönlicher Freiheit gewonnen wurde, ging zu Lasten eines gemeinsamen Ziels. In weiten Teilen Amerikas hat die Familie als Institution ihre Grundlage verloren. Schon in den 1960er Jahren endeten 40 Prozent der Ehen mit einer Scheidung. Nur in sechs Prozent der amerikanischen Haushalte lebten Großeltern und Enkel unter einem Dach; die Alten wurden in Heimen zurückgelassen.
Unter Slogans wie „24/7“, die eine vollständige Hingabe an den Arbeitsplatz feiern, erschöpfen sich Männer und Frauen in Jobs, die nur die Isolation von ihren Familien verstärken. Der durchschnittliche amerikanische Vater verbringt weniger als 20 Minuten am Tag in direkter Kommunikation mit seinem Kind. Wenn ein junger Mensch 18 wird, hat er oder sie volle zwei Jahre vor dem Fernseher oder einem Laptop-Bildschirm verbracht, was zu einer Fettleibigkeitsepidemie beiträgt, die die Joint Chiefs, das militärische Oberkommando, als eine Krise der nationalen Sicherheit bezeichnet haben.
Nur die Hälfte der Amerikaner berichten, sie hätten täglich eine bedeutsame persönliche soziale Interaktion. Das Land verbraucht zwei Drittel der weltweiten Produktion an Antidepressiva. Der Zusammenbruch der Arbeiterklassefamilien ist mitverantwortlich für eine Opiatkrise, die Autounfälle als hauptsächliche Todesursache von Amerikanern unter 50 abgelöst hat.
An der Wurzel dieser Transformation und dieses Niedergangs liegt eine immer größer werdende Kluft zwischen jenen, die haben, und jenen, die wenig bis nichts haben. Wirtschaftliche Ungleichheiten existieren in allen Ländern und erzeugen eine Spannung, die so disruptiv sein kann, wie die Zustände ungerecht sind. Jedoch werden diese negativen Kräfte, die eine Gesellschaft auseinanderreißen, normalerweise abgemildert oder gar zum Verstummen gebracht, wenn die soziale Solidarität auf andere Weise gestärkt werden kann – durch religiösen Glauben, die Stärke und den Trost der Familie, den Stolz auf die Tradition, die Treue zum Land, den Geist eines Ortes. Aber wenn sich alle alten Gewissheiten als Lügen entpuppen, wenn das Versprechen auf ein gutes Leben für eine arbeitende Familie zerbricht, da Fabriken schließen und Unternehmer, die mit jedem Tag reicher werden, die Jobs ins Ausland verlagern, dann ist der Gesellschaftsvertrag unwiderruflich gebrochen. Zwei Generationen lang hat Amerika die Globalisierung mit einer ikonischen Intensität gefeiert, wo sie doch – wie jeder arbeitende Mann und jede arbeitende Frau sehen kann – nichts anderes ist als die Jagd des Kapitals nach immer billigeren Arbeitskräften.
Trumps Boshaftigkeit als Symptom des Niedergangs
Über viele Jahre haben die konservativen Rechten in den Vereinigten Staaten eine Nostalgie nach den 1950er Jahren beschworen, nach einem Amerika, das es nie gegeben hat, von dessen Existenz sie aber ausgehen müssen. Denn nur so können sie ihr Gefühl von Verlust und Verlassenheit, ihre Angst vor dem Wandel sowie ihre bitteren Ressentiments und ihre anhaltende Verachtung gegenüber den sozialen Bewegungen der 1960er Jahre, die eine Zeit neuer Hoffnungen und Erwartungen für Frauen, Schwule und People of Color waren, rationalisieren. In Wahrheit glich das Land in den 1950ern, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht, eher Dänemark. Der Grenzsteuersatz für die Reichen lag bei 90 Prozent. Die Gehälter in der Führungsetage waren im Schnitt nur 20 Mal so hoch wie die der Angestellten im mittleren Management.
Heute ist das Grundgehalt der Chefs für gewöhnlich 400 Mal höher als das der angestellten Mitarbeiter und dazu kommen noch erhebliche Beträge durch Aktienanteile und Vergünstigungen. Das eine Prozent der amerikanischen Elite kontrolliert 30 Billionen Dollar an Vermögenswerten, wohingegen die untere Hälfte mehr Schulden als Vermögen besitzt. Die drei reichsten Amerikaner verfügen über mehr Geld als die ärmsten 160 Millionen ihrer Landsleute. Ein ganzes Fünftel der amerikanischen Haushalte hat ein Reinvermögen, das bei null liegt oder negativ ist, und diese Zahl steigt bei schwarzen Familien auf 37 Prozent. Das Medianvermögen schwarzer Haushalte beträgt ein Zehntel von dem der weißen. Die übergroße Mehrheit der Amerikaner – weiß, schwarz und braun – ist nur zwei Monatsgehälter vom Bankrott entfernt. Obwohl sie in einem Land leben, das sich selbst als das reichste der Geschichte feiert, vollführen die meisten Amerikaner einen Drahtseilakt, ohne ein Sicherheitsnetz, das ihren Fall bremsen würde.
In der Coronakrise haben 40 Millionen Amerikaner ihre Jobs verloren und 3,3 Millionen Betriebe mussten schließen, darunter 41 Prozent aller Unternehmen mit schwarzen Eigentümern. Schwarze Amerikaner – die nur 13 Prozent der Bevölkerung stellen, doch proportional weit häufiger in Bundesgefängnissen sitzen als Weiße – leiden in der Pandemie unter schockierend hohen Raten an Erkrankung und Sterblichkeit und sterben nahezu dreimal so oft an Covid-19 wie weiße Amerikaner. Die Grundregel amerikanischer Sozialpolitik – lass keine ethnische Gruppe unter die Schwarzen abrutschen und keine mehr Demütigungen ertragen als sie – trifft selbst auf die Pandemie zu, als ob sich das Virus von der amerikanischen Geschichte inspirieren ließe.
Covid-19 hat Amerika nicht niedergeworfen, sondern bloß enthüllt, was das Land schon lange aufgegeben hatte. Als die Krise ihren Lauf nahm und in jeder Minute eines jeden Tages ein weiterer Amerikaner starb, schaffte es ein Land, das einst Kriegsflugzeuge im Stundentakt produziert hatte, nicht, die Papiermasken oder Wattestäbchen herzustellen, die für das Nachverfolgen der Krankheit unverzichtbar waren. Das Land, das Pocken und Polio besiegt hatte und über Generationen weltweit führend bei medizinischen Innovationen und Entdeckungen war, machte sich zum Gespött, als ein Clown von einem Präsidenten die Verwendung von Haushaltsdesinfektionsmitteln als Behandlung für eine Krankheit empfahl, die er intellektuell nicht begreifen konnte.
Während sich eine Reihe von Ländern prompt an die Eindämmung des Virus machte, stolperten die Vereinigten Staaten mit einer Verleugnungshaltung vorwärts, als seien sie vorsätzlich blind. Obwohl sie weniger als vier Prozent der Weltbevölkerung stellen, entfielen auf die USA bald mehr als ein Fünftel der Corona-Toten. Der Anteil amerikanischer Krankheitsopfer, die starben, überstieg den globalen Durchschnitt um das Sechsfache. Doch dass das Land die welthöchste Erkrankungs- und Sterblichkeitsrate erreicht hatte, sorgte nicht für Scham, sondern nur für weitere Lügen, die Suche nach Sündenböcken und die Prahlerei mit Wunderheilmitteln, so dubios wie bei einem Jahrmarktschreier oder bei einem Gauner, der auf Geld aus ist.
Die Vereinigten Staaten reagierten auf die Krise wie eine korrupte Operettendiktatur, und das nutzten die echten Operettendiktaturen der Welt, um sich auch einmal genüsslich moralisch überlegen zu fühlen, vor allem nach der Tötung von George Floyd in Minneapolis. Der autokratische Präsident Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, schalt Amerika für die „bösartige Verletzung der Rechte einfacher Bürger“, nordkoreanische Zeitungen wandten sich gegen die „Polizeibrutalität“ in Amerika. Und die iranische Presse zitierte die hämische Freude von Ayatollah Khamenei: „Amerika hat mit dem Prozess der Selbstzerstörung begonnen.“
Trumps Darbietung und Amerikas Krise lenkten die Aufmerksamkeit von Chinas falschem Umgang mit dem ursprünglichen Ausbruch in Wuhan ab, ganz zu schweigen von Pekings Versuch, die Demokratie in Hongkong zu zerschlagen. Als ein amerikanischer Offizieller auf Twitter auf die Menschenrechte verwies, antwortete der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, unter Bezugnahme auf die Tötung von George Floyd, mit einem kurzen Satz: „I can’t breathe.“ Diese politisch motivierten Bemerkungen kann man leicht abtun. Aber schwerer wiegt, dass die Amerikaner sich selbst keinen Gefallen getan haben. Ihr politischer Prozess hat einer nationalen Schande, nämlich einem Demagogen den Aufstieg ins höchste Amt des Landes ermöglicht, der moralisch und ethisch so kompromittiert ist, wie es ein Mensch nur sein kann. Oder, wie ein britischer Schriftsteller witzelte: „Es gab immer dumme Menschen auf der Welt und auch viele gemeine. Aber selten war Dummheit so gemein oder Gemeinheit so dumm.“
Der amerikanische Präsident lebt dafür, Ressentiments zu kultivieren, seine Gegner zu dämonisieren und Hass zu bestätigen. Sein Hauptwerkzeug beim Regieren ist die Lüge; allein bis zum 9. Juli dieses Jahres sind 20 055 Verdrehungen und Falschaussagen dokumentiert. Wenn Amerikas erster Präsident bekanntlich keine Lüge erzählen konnte, vermag der gegenwärtige keine Wahrheit anzuerkennen. Dieser düstere Troll von einem Mann verkehrt die Worte und Ansichten Abraham Lincolns, indem er Bosheit für alle und Barmherzigkeit für niemanden preist.
So abstoßend Trump sein mag, ist er doch weniger die Ursache für Amerikas Niedergang als ein Produkt seines Abstiegs. Wenn die Amerikaner in den Spiegel schauen und nur den Mythos ihres Exzeptionalismus finden, bleiben sie auf fast schon bizarre Weise unfähig zu sehen, was wirklich aus ihrem Land geworden ist. Die Republik, die den freien Informationsfluss als Lebensader der Demokratie definiert hat, steht heute mit Blick auf die Pressefreiheit weltweit nur auf dem 45. Platz. In einem Land, das einst die geknechteten Massen der Welt willkommen hieß, befürworten heute mehr Menschen den Bau einer Mauer an der Südgrenze als Gesundheitsvorsorge und den Schutz für die illegalisierten Mütter und Kinder, die verzweifelt an seinen Türen ankommen. In vollständiger Preisgabe des Allgemeinwohls definieren US-Gesetze die Freiheit als das unveräußerliche Recht eines jeden Einzelnen, ein persönliches Waffenarsenal zu besitzen. Dieser Anspruch übertrumpft sogar die Sicherheit der Kinder; allein im vergangenen Jahrzehnt wurden 346 Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer auf Schulgeländen erschossen.
Der Kult des Individuums und das Ende der Gesellschaft
Der amerikanische Kult des Individuums verleugnet nicht nur Gemeinschaftlichkeit, sondern die Idee der Gesellschaft selbst. Niemand ist irgendjemandem etwas schuldig. Alle müssen bereit sein, für alles zu kämpfen: Bildung, Obdach, Essen, medizinische Versorgung. Was jede wohlhabende und erfolgreiche Demokratie als fundamentale Rechte begreift – ein allgemeines Gesundheitswesen, gleicher Zugang zu qualitativ hochwertiger öffentlicher Bildung, ein soziales Sicherheitsnetz für die Schwachen, Alten und Gebrechlichen –, tut Amerika als sozialistischen Luxus ab, wie ein Zeichen von Schwäche.
Wie kann der Rest der Welt erwarten, dass Amerika die Führung bei globalen Bedrohungen übernimmt – Klimawandel, Artensterben, Pandemien –, wenn das Land schon im Falle der eigenen Nation nicht länger über einen Sinn für ein gütiges Ziel oder das kollektive Wohl verfügt? Ein in die Fahne gehüllter Patriotismus ist kein Ersatz für Mitgefühl; Wut und Feindschaft sind kein Gegenstück zur Liebe. All jene, die trotz Corona scharenweise auf die Strände, in die Bars und auf die politischen Kundgebungen strömen und damit ihre Mitbürger in Gefahr bringen, üben nicht ihre Freiheit aus. Vielmehr zeigen sie, wie ein Kommentator bemerkte, die Schwäche eines Volkes, dem es sowohl am Stoizismus fehlt, um die Pandemie auszuhalten, als auch an der Standhaftigkeit, um sie zu besiegen. Ihr Kommando führt Donald Trump, ein Knochensporn-Krieger,[1] ein Lügner und Betrüger, die groteske Karikatur eines starken Mannes mit dem Rückgrat eines Schulhofschlägers.
In den vergangenen Monaten zirkulierte ein Witz im Internet: Heute in Kanada zu leben sei vergleichbar damit, ein Apartment über einem Chrystal-Meth-Labor zu besitzen. Kanada ist kein perfekter Ort, aber es ist gut mit der Coronakrise umgegangen, insbesondere in British Columbia, wo ich lebe. Vancouver liegt nur drei Autostunden nördlich von Seattle, wo der Ausbruch in den USA begann. Die Hälfte der Einwohner von Vancouver ist asiatisch, und normalerweise landen täglich Dutzende von Flügen aus China und Ostasien. Somit hätte es die Stadt eigentlich hart treffen müssen, aber das Gesundheitssystem funktionierte äußerst gut. Während der gesamten Krise lagen die Testraten in Kanada durchgängig fünfmal so hoch wie in den USA. Pro Kopf gerechnet lagen Erkrankungen und Sterblichkeit in Kanada nur halb so hoch. Für jeden Menschen, der in British Columbia starb, kamen in Massachusetts 44 ums Leben, einem Bundesstaat mit einer vergleichbaren Bevölkerung, der aber mehr Covid-Fälle gemeldet hat als Kanada insgesamt. Am 30. Juli, als die Infektions- und Todesraten in einem Großteil der Vereinigten Staaten in die Höhe schnellten und allein an diesem einen Tag 59 629 neue Fälle gemeldet wurden, registrierten die Krankenhäuser in British Columbia insgesamt nur fünf Covid-Patienten.
Wenn mich amerikanische Freunde nach einer Erklärung fragen, ermuntere ich sie, sich an das letzte Mal zu erinnern, als sie Lebensmittel im Safeway in ihrer Nachbarschaft gekauft haben. In den USA gibt es fast immer eine ethnische, ökonomische, kulturelle und Bildungskluft zwischen Konsumenten und Personal, die sich nur schwer überbrücken lässt, wenn überhaupt. In Kanada macht man eine andere Erfahrung. Man interagiert, wenn schon nicht als Gleiche unter Gleichen, so doch als Mitglieder einer größeren Gemeinschaft. Der Grund dafür ist ganz einfach: Die Angestellten mögen nicht so wohlhabend sein wie du, aber sie wissen, dass du weißt, dass sie dank der Gewerkschaften einen Lohn erhalten, der zum Leben reicht. Und sie wissen, zweitens, dass du weißt, dass ihre Kinder und deine höchstwahrscheinlich dieselbe öffentliche Schule in der Nachbarschaft besuchen. Und drittens, und am wichtigsten, wissen sie, dass du weißt, dass ihre Kinder im Krankheitsfall nicht nur genau dieselbe medizinische Behandlung bekommen wie deine Kinder, sondern wie die des Premierministers. Diese drei Stränge bilden miteinander verwoben die Struktur der kanadischen sozialen Demokratie.
Auf die Frage, was er von der westlichen Zivilisation halte, antwortete Mahatma Gandhi bekanntlich: „Ich glaube, sie wäre eine gute Idee.“ Eine solche Bemerkung mag harsch klingen, reflektiert aber exakt, wie eine moderne soziale Demokratie heute auf Amerika blickt. Kanada kam gut durch die Coronakrise wegen unseres Gesellschaftsvertrages, den Banden der Gemeinschaft, dem Vertrauen ineinander und in unsere Institutionen, vor allem in unser Gesundheitswesen, dessen Krankenhäuser auf die medizinischen Bedürfnisse des Kollektivs ausgerichtet sind, nicht auf die des Individuums und sicher nicht auf die von Privatinvestoren, die jedes Krankenhausbett als Mietobjekt betrachten. In einem zivilisierten Land bemisst sich der Wohlstand nicht am Geld, das ein paar wenige Glückliche angehäuft haben, sondern an der Stärke und dem Widerhall sozialer Beziehungen und den wechselseitigen Banden, die alle Menschen zu einem gemeinsamen Ziel vereinen.
Dabei geht es nicht um politische Ideologie, sondern um Lebensqualität. Finnen leben länger und sterben seltener im Kindesalter oder bei der Geburt als Amerikaner. Dänen beziehen ungefähr dasselbe Einkommen nach Steuern wie Amerikaner, arbeiten aber 20 Prozent weniger. Sie zahlen für jeden verdienten Dollar 19 Cent mehr an Steuern. Aber dafür erhalten sie eine kostenlose Gesundheitsversorgung, kostenlose Bildung von der Vorschule bis zur Universität und die Gelegenheit, Erfolg in einer florierenden Marktwirtschaft zu haben, in der die Raten von Armut, Obdachlosigkeit, Kriminalität und Ungleichheit ganz erheblich niedriger sind. Der durchschnittliche Arbeitnehmer wird besser bezahlt, respektvoller behandelt und mit Lebensversicherung, Rentenplänen, Mutterschutz und sechs Wochen bezahltem Urlaub im Jahr belohnt. All diese Vorteile führen dazu, dass die Dänen sogar bereit sind, härter zu arbeiten: Ganze 80 Prozent der Männer und Frauen zwischen 16 und 64 Jahren gehen dort einer Erwerbsarbeit nach und damit sehr viel mehr als in den Vereinigten Staaten.
Amerikas finaler Niedergang?
Amerikanische Politiker tun das skandinavische Modell als schleichenden Sozialismus ab, als Kommunismus light, als etwas, das in den Vereinigten Staaten niemals funktionieren würde. In Wahrheit sind soziale Demokratien genau deshalb erfolgreich, weil sie dynamische kapitalistische Ökonomien anfachen, die aber eben jeder Gesellschaftsschicht nutzen. Es könnte durchaus sein, dass sich die soziale Demokratie in den Vereinigten Staaten nie etablieren kann. Aber das wäre ein Armutszeugnis und würde den Witz von Oscar Wilde bestätigen, wonach die Vereinigten Staaten das einzige Land seien, das von der Barbarei direkt in die Dekadenz übergeht und dabei die Zivilisation überspringt.
Ein Beweis für eine solche finale Dekadenz ist die Wahl, die so viele Amerikaner 2016 trafen, um ihre persönliche Verärgerung zuoberst zu stellen. Sie erhoben ihre Ressentiments über jedwede Sorge um das Schicksal des Landes und der Welt und wählten einen Mann, dessen einzige Qualifikation für das Amt in seinem Willen bestand, ihrem Hass eine Stimme zu verleihen, ihren Ärger zu bestätigen und ihre wahren oder eingebildeten Feinde ins Visier zu nehmen. Man schaudert bei der Vorstellung, was es für den Rest der Welt bedeutet, wenn die Amerikaner am 3. November – bei allem, was sie wissen – dafür stimmen, einen solchen Mann an der politischen Macht zu belassen. Aber selbst wenn Trump schallend besiegt werden sollte, ist keineswegs klar, ob ein derart tief gespaltenes Land in der Lage sein wird, erneut vorauszublicken. Was auch geschieht, Amerikas Zeit ist abgelaufen.
Das Ende der amerikanischen Ära und die Staffelübergabe an Asien ist kein Grund zu feiern, kein Anlass zur Schadenfreude. In einem Augenblick internationaler Gefahr, als die Menschheit sehr wohl in eine dunkle Zeit jenseits aller bekannten Schrecken hätte eintreten können, hat die industrielle Macht der Vereinigten Staaten gemeinsam mit dem Blut einfacher russischer Soldaten im wahrsten Sinne des Wortes die Welt gerettet. Amerikanische Ideale, wie sie von Madison und Monroe, Lincoln, Roosevelt und Kennedy gepriesen wurden, haben einmal Millionen inspiriert und hoffen lassen.
Wenn und falls die Chinesen den beherrschenden Einfluss erlangt haben, mit ihren Lagern für die Uiguren, der rücksichtslosen Reichweite ihres Militärs, ihren 200 Millionen Überwachungskameras, die jede Bewegung und jede Geste ihres Volkes überwachen, dann werden wir uns sicher nach den besten Jahren des amerikanischen Jahrhunderts sehnen. Im Moment haben wir nur die Kleptokratie von Donald Trump. Zwischen seinem Lob für Chinas Behandlung der Uiguren – deren Internierung und Folter er als „genau die richtige Sache“ beschrieb – und seinen medizinischen Ratschlägen zum therapeutischen Nutzen chemischer Desinfektionsmittel bemerkte Trump unbekümmert: „Eines Tages, wie durch ein Wunder, wird es verschwinden.“ Er dachte dabei natürlich an das Coronavirus. Aber er hätte ebenso gut etwas anderes meinen können: den amerikanischen Traum.
Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes, der unter dem Titel „The Unraveling of America“ zuerst im „Rolling Stone“ erschienen ist. Übersetzung: Steffen Vogel.
[1] Wegen eines Knochensporns erreichte Trump seine Befreiung vom Vietnamkrieg. – D. Red.