Ausgabe Juni 2022

Ampel-Entlastungspaket: Das Prinzip Gießkanne

Gießkanne mit den Farben und Symbolen einer Ampel-Koalition (IMAGO / Future Image)

Bild: IMAGO / Future Image

Noch nie, dieser Superlativ ist durchaus angebracht, war die Bundesrepublik so unter Druck wie derzeit – wirtschaftlich, politisch, moralisch und sozial: Corona, ein brutaler Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine, eine dadurch ohnehin angstvolle Bevölkerung, die nun auch noch durch zum Teil kometenhaft ansteigende Preise, vor allem für Energie und Lebensmittel, gebeutelt wird. Und niemand weiß, wann sich all das wieder zum Besseren fügen wird. Angesichts dessen wird die Bevölkerung vorsorglich schon einmal auf Opfer und Verzicht eingeschworen. „Der Ukraine-Krieg macht uns alle ärmer“, menetekelt etwa Finanzminister Christian Lindner (FDP) in der „Bild am Sonntag“.[1] „Das muss man so klar sagen, wir werden dadurch ärmer werden“, warnt auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) im ZDF.[2] „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben”, toppt Ex-Bundespräsident Joachim Gauck diese Aussagen noch in der ARD.[3] Dass ein Alt-Bundespräsident mit einem „Ehrensold“ von über 200 000 Euro jährlich Verzichtsappelle von sich gibt, zeugt von einem mangelnden Bewusstsein dafür, dass schon jetzt viele unter uns nicht mehr genug Geld haben, um ihre Wohnung ausreichend zu heizen. Und dass viele Menschen hierzulande so arm sind, dass sie schon seit Jahren nicht mehr das Lebensglück und die Lebensfreude haben, die sie sich ersehnen. Für diese Menschen sind materielle Not und sozialer Ausschluss auch ohne die aktuellen Teuerungsraten nichts Neues.

Die Coronakrise wie die Preissteigerungen treffen Deutschlands soziales Gefüge in einer schlechten und wenig widerstandsfähigen Verfassung. Aussagen, wonach wir alle ärmer werden, verdecken dabei nur die Tatsache, dass Deutschland ein sozial tief gespaltenes Land ist. Sie ignorieren, dass Deutschland mit einer Armutsquote von 16,1 Prozent so viele Arme hat wie noch nie seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990. Das bedeutet: 13,4 Millionen Menschen in Deutschland verfügen über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens dieser Gesellschaft.

Auf der anderen Seite ist die Bundesrepublik das Land mit der weltweit viertgrößten Milliardärsdichte hinter den USA, China und Indien. Auf 555 Mrd. Euro taxiert das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ das Gesamtvermögen unserer 134 Milliardäre.[4] Und auch die Zahl der Dollar-Millionäre übersprang im Pandemiejahr 2020 laut dem „Global Wealth Report“ in Deutschland die Marke von 1,5 Millionen Menschen.[5]

Vor diesem Hintergrund muss die höchste Inflationsrate seit 40 Jahren – von allein 7,4 Prozent im April 2022 – durchaus differenziert betrachtet werden, vor allem dann, wenn es um die notwendigen politischen Konsequenzen geht. In einem Land, in dem der Vorstand eines DAX-Unternehmens mit etwa 3 Mio. Euro Jahresgehalt das 48fache seiner Angestellten „verdient“[6] und der Chefarzt einer Klinik immer noch etwa das Zehnfache einer Krankenschwester, kann getrost davon ausgegangen werden, dass sich stark und plötzlich ansteigende Lebenshaltungskosten sehr ungleich im Alltag der Betroffenen niederschlagen. Es dürfte Konsens sein, dass weder der DAX-Vorstand noch der Chefarzt staatlicher Hilfen bedürfen, weder an der Gemüsetheke noch an der Zapfsäule. Umso verwirrender ist das Maßnahmenbündel, das die Ampel-Koalition jüngst zur Entlastung der Verbraucher auf den Weg gebracht hat.

Entlastungspaket mit Schieflage

Dieses sieht vor, Privathaushalte mit insgesamt 23,6 Mrd. Euro zu unterstützen. Davon entfallen 4,4 Mrd. Euro auf Entlastungen bei der Einkommensteuer, von denen, der Logik des Steuerrechts folgend, diejenigen mit den besseren Einkommen am meisten profitieren. Die ebenfalls im Paket vorgesehene Abschaffung der EEG-Umlage auf Strom kostet 6,8 Mrd. Euro. Doch auch diese Maßnahme wirkt sich sozial äußerst ungleich aus. Denn je höher der Stromverbrauch, desto höher der Entlastungsbetrag. Es sind die Haushalte mit den großen Wohnungen oder Einfamilienhäusern, die besonders profitieren, die mit dem zusätzlichen Kühlschrank, der guten EDV-Ausstattung bis in die Kinderzimmer hinein, mehreren Fernsehern oder vielleicht auch der Heimsauna im Keller. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes gaben Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen von bis zu 3000 Euro im Jahr 2020 95 Euro im Monat für Haushaltsenergie aus, während es bei Haushalten mit einem Einkommen von mindestens 5000 Euro mit 206 Euro mehr als das Doppelte war.[7]

Gleiches gilt für die Verbilligung von Benzin und Diesel durch die befristete Absenkung der Energiesteuer, die im Entlastungspaket mit 3,4 Mrd. Euro zu Buche schlägt. Je größer der Hubraum, desto höher die Entlastung. Zusammengerechnet haben damit insgesamt 14,6 der 23,6 Mrd. Euro eine einkommensproportionale Entlastungswirkung. Hinzu kommt: Auch für die von der Ampel eigentlich angestrebte sozialökologische Transformation sind diese Entlastungen höchst kontraproduktiv, wird doch ein höherer Verbrauch von Strom und Benzin durch das Paket proportional stärker entlastet.

Der größte Brocken, die einmalige Energiepauschale von 300 Euro, kommt allen Erwerbstätigen unabhängig vom Einkommen zu. Sie wird zwar versteuert, wodurch Spitzenverdienern von diesem Geld nur 158 Euro verbleiben, doch drängt sich die Frage auf, weshalb Spitzenverdiener, sogar mit Millioneneinkommen, überhaupt gefördert werden müssen.

Zielgerichtet an Bedürftige fließen lediglich 2 der 23,6 Mrd. Euro: Eine Einmalzahlung von 200 Euro für alle Beziehenden von Hartz IV, Altersgrundsicherung und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (1,1 Mrd. Euro), 20 Euro monatlich als sogenannte Soforthilfe für Kinder im Hartz IV-Bezug (0,5 Mrd. Euro) sowie ein Heizkostenzuschuss für Wohngeldbeziehende in Höhe von 270 Euro und an Azubis und Studierende im Bafög-Bezug in Höhe von 230 Euro (0,4 Mrd. Euro).[8]

Das Institut für Makroökonomie (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung hat vorgerechnet, dass der Einkommensmillionär in diesem Entlastungspaket über Vergünstigungen bei der Einkommensteuer und dem Energiegeld mit 326 Euro eine höhere Entlastung erfährt als der Erwerbstätige mit einem Jahreseinkommen von 10 000 Euro, der sich mit lediglich 300 Euro begnügen muss. Noch schlechter sieht es für die alleinlebende Grundsicherungsbezieherin aus, die lediglich 200 Euro Einmalzuschlag erhält – mit der Begründung, dass deren Energiekosten bereits in den Regelsätzen und den Kosten der Unterkunft enthalten seien. Doch die Regelsatzpauschalen sind, auch was die Stromkosten anbelangt, schon lange nicht mehr bedarfsdeckend.[9]

Zwar verschiebt sich das Ganze, wenn Kinder im Haushalt leben, durch den Kinderbonus von 100 Euro ein wenig, doch bleibt der Effekt unterm Strich skurril: Auch wenn ein Haushalt über 100mal mehr Einkommen verfügt als ein anderer, ist die staatliche Entlastung ähnlich hoch. Mit einem erheblichen Unterschied allerdings: Während der Einkommensmillionär diesen Mehrbetrag nicht einmal bemerken dürfte und das Geld direkt auf der hohen Kante verschwindet, werden die geplanten Summen bei der Niedrigeinkommensbezieherin wiederum kaum ausreichen, um angesichts der aktuellen Situation nachhaltig zu helfen.

Das gesamte Maßnahmenbündel lässt damit weder eine Bedarfs- noch eine Einkommensorientierung erkennen, geschweige denn eine sozialökologische Ausrichtung. Darüber können auch die sommerlichen 9-Euro-Tickets für den öffentlichen Nahverkehr nicht hinwegtäuschen. Deren Verteilungswirkung ist nur schwer abzuschätzen. Zu vermuten ist jedoch, dass in einigen Städten mindestens ebenso viele Touristen wie tatsächlich bedürftige Menschen dieses Angebot nutzen werden.

Bedürftige unzureichend geschützt

Angesichts dessen stellt sich die Frage, was dieses Entlastungspaket eigentlich bewirken soll. Bei genauerer Betrachtung entpuppt es sich als ein Programm zur Steuersenkung für Erwerbstätige und zur Rückführung von Verbrauchssteuern bei Strom und Kraftstoffen. Die Maßnahmen, die sich direkt an Bedürftige richten, sind dagegen marginal und fallen haushälterisch kaum ins Gewicht. Das Entlastungspaket ist sozial unausgewogen, ökologisch kontraproduktiv und haushaltspolitisch unvernünftig, da es, gemessen an der Wirkung, außerordentlich teuer ist.

Ein wirkliches Entlastungspaket hätte dagegen die auseinanderklaffenden Einkommenspositionen in der Gesellschaft zur Grundlage der verteilungspolitischen Gestaltung der Einzelmaßnahmen machen müssen. Es hätte zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen müssen, dass wir derzeit nicht nur die höchste Inflationsrate seit Jahrzehnten haben, sondern auch die höchste Armutsquote und mit 15 Prozent auch eine der höchsten Sparquoten: Das Geldvermögen der privaten Haushalte ist allein während der beiden Pandemiejahre von 6,5 auf 7,6 Bill. Euro angewachsen.[10]

Zudem hätte ein wirkliches Entlastungspaket in Erwägung ziehen müssen, dass eine Teuerungsrate von 7 oder 8 Prozent bei dem einen Haushalt lediglich zu einem Rückgang der Sparquote führt, aber zu keinerlei Verzicht im Alltag. Es hätte sich der Frage stellen müssen, was die gleiche Teuerungsrate für Menschen bedeutet, die auch zuvor gerade so – oder gar nicht – über den Monat kommen. Eine zielgenaue, sozial gerechte und effektive Reaktion auf die Preissteigerungen hätte bei den Ärmsten angesetzt. Schon lange ist eine bedarfsgerechte Ausgestaltung der Leistungen bei Hartz IV, in der Altersgrundsicherung und im Asylbewerberleistungsgesetz überfällig. Alle unabhängigen Experten sind sich einig, dass die Regelsätze so schnell wie möglich von derzeit 449 auf über 600 Euro angehoben werden müssen. Der Paritätische Gesamtverband kam in seinen Berechnungen zuletzt sogar auf einen Betrag von 678 Euro für eine alleinlebende Person.[11] Mit einem solchen Schritt wäre Einkommensarmut in Deutschland trotz steigender Preise so gut wie beseitigt und es würde keinesfalls mehr kosten als die jetzt beschlossenen Entlastungsprogramme.

Zwar ist es nur vernünftig, den Heizkostenzuschuss an den Bezug von Wohngeld oder von BAföG zu binden. Denn wer Anrecht auf BAföG oder Wohngeld hat, braucht jeden Cent. Allerdings beziehen vergleichsweise wenig Menschen überhaupt Wohngeld oder BAföG – eine Reform beider Leistungen steht dringend an. Wenn bei rund 7,7 Mio. armen Haushalten lediglich 618 000 Haushalte Wohngeld beziehen, liegt ganz offensichtlich ein Systemfehler vor und ist eine echte Reform mit dem Ziel der Leistungsausweitung auf alle, die es brauchen, nötig. Das Gleiche gilt bekanntermaßen für das BAföG.[12]

All das zeigt: Die adäquate Antwort auf die aktuelle Inflation wäre eine offensive Sozialpolitik, die nicht auf das Prinzip Gießkanne, Wählerbefriedung und Einmalzahlungen setzt, sondern auf eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Und die allen Menschen im Lande wieder soziale Sicherheit gibt, nicht nur jenen weiter oben auf der Einkommensskala. Dies kann nur zielgenau funktionieren, da jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann.

Wir stehen mit Corona, dem Krieg mitten in Europa und nun der bedrohlichen Inflation vor Verwerfungen, die der Markt nicht lösen kann. Das Gleiche gilt für die notwendige Energiewende oder die Wohnungs- und Mietpreiskrise. Die aktuelle Situation hat das Potential, die deutsche Gesellschaft sozial auseinanderbrechen zu lassen. Das sollten wir uns bewusst machen. Mehr denn je muss es in dieser Zeit daher das Ziel sein, diese Gesellschaft sozioökonomisch wieder zusammenzuführen, sie materiell wieder näher zusammenzubringen, ohne damit die ökologischen Herausforderungen und die notwendige Energiewende zu vernachlässigen. Für Klientelpolitik und neoliberale Ideologien des schlanken Staates bleibt bei einer solchen Zielsetzung schlechterdings kein Raum.

Um die immensen sozialen und ökologischen Herausforderungen zu bewältigen, um soziale Sicherheit zu schaffen und um die notwendigen Investitionen in die sozialökologische Wende vorzunehmen, werden viele Milliarden Euro erforderlich sein. Hinzu gekommen ist nun eine verteidigungspolitische Wende, für die ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro bereitgestellt werden soll.

Damit all das finanziert werden und gelingen kann, darf die Frage von Steuererhöhungen von der Ampel nicht weiter zum Tabu erklärt und muss endlich die Solidarität der wirtschaftlich Starken eingefordert werden. Das heißt: Themen wie die Wiedererhebung der Vermögenssteuer, eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen, eine Luxussteuer, eine Transaktionssteuer und eine Erbschaftssteuer, die ihren Namen verdient, müssen wieder auf die Agenda gesetzt werden.

[1] Christian Lindner, „Der Ukraine-Krieg macht uns alle ärmer“, www.faz.net, 3.4.2022.

[2] Habeck zur Gasversorgung: „Wir sind Wirtschaftskriegspartei“, www.zdf.de, 30.3.2022.

[3] Ex-Bundespräsident: „Auch einmal frieren für die Freiheit“, www.zeit.de, 10.3.2022.

[5] Vgl. World Wealth Report 2021, www.worldwealthreport.com.

[6] Vgl. DSW-Vorstandsvergütungsstudie 2021, www.dsw-info.de.

[7] Vgl. Statistisches Bundesamt, Haushalte mit Einkommen unter 1300 Euro geben anteilig am meisten für Strom, Heizung und Warmwasser aus, www.destatis.de, 11.1.2022.

[8] Angaben nach Stefan Bach und Jakob Knautz, Hohe Energiepreise: Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker belastet als reichere Haushalte, in: „DIW Wochenbericht“, 17/2022, S. 243-251.

[9] Andreas Aust, Regelbedarfsermittlung 2022: Fortschreibung der Paritätischen Regelbedarfsforderung/Kurzexpertise der Paritätischen Forschungsstelle, 9.1.2022. Vgl. dazu auch: Wiebke Schröder und Jonas Pieper, Bürgergeld statt Hartz IV: Die ignorierte Armut, in: „Blätter“, 2/2022, S. 37-40.

[10] Vgl. Geldvermögensbildung und Außenfinanzierung in Deutschland im vierten Quartal 2021, Pressenotiz der Deutschen Bundesbank, 14.4.2022.

[11 Vgl. Hartz IV-Regelsatz um mehr als 50 Prozent zu niedrig: Paritätischer fordert Anhebung der Grundsicherung, www.der-paritaetische.de, Pressemitteilung vom 20.1.2022.

[12] Vgl. Andreas Keller, Jubiläum im Allzeittief: 50 Jahre BAföG, in: „Blätter“, 9/2021, S. 13-16.

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