
Bild: Olaf Scholz, Emmanuel Macron, Mario Draghi und Klaus Johannis bei ihrem Besuch in Kiew mit Wolodymyr Selenskyj, 16.6.2022 (IMAGO/UPI Photo)
Der Krieg in der Ukraine droht zu einer fatalen Zeitenwende für ganz Europa zu werden; schon jetzt ist er eine große Prüfung auf die vielbeschworene Einheit der Europäischen Union. Diese entpuppt sich als äußerst gefährdet; Europa erlebt eine neue Spaltung. Das einst von Gorbatschow beschworene gemeinsame Haus Europa zerfällt in zwei Hälften: eine des Krieges und eine des Friedens, geteilt durch eine neue, unsichtbare Mauer.
Der Westen und der Osten Europas leben derzeit in zwei verschiedenen Wirklichkeiten. Während die einen sich im Sommer wieder an den Stränden Süd- und Westeuropas fläzen werden, leben die Menschen in der Ukraine, aber auch in den baltischen Staaten und selbst in Finnland in der Angst vor russischen Raketen und einem weiteren Überfall. Und das keineswegs ohne Grund, wenn man die Worte Wladimir Putins ernst nimmt, der sich soeben offen mit Peter dem Großen verglichen hat und so den baltischen und skandinavischen Staaten mit der Heimholung angeblich russischer Erde droht. Und wenn man eines in den vergangenen Jahren gelernt haben sollte, dann ist es dies: die Worte dieses Mannes ernst zu nehmen.
Diese neue unsichtbare Mauer trennt in gewisser Weise mehr als die alte, realexistierende. Denn vor 1989 befriedete der angebliche „antifaschistischen Schutzwall“, so die offizielle DDR-Diktion, in perverser und nicht selten tödlicher Weise Europa – jedenfalls auch vor einem großrussischen faschistoiden Nationalismus, wie wir ihn heute erleben und wie er der damaligen Status-Quo-orientierten Sowjetunion fremd war. Dieser Tage lernen wir schmerzhaft: Es war nicht der Umbruch von 1989/90, der dem Kontinent eine Friedensdividende bescherte, sondern gerade die Zeit davor, die des Kalten Krieges, mit ihren beiden brutal durch die Mauer getrennten Systemen und der Unmöglichkeit eines siegreichen heißen Krieges aufgrund des atomaren Patts. Mit Putins neo-imperialistischem Angriffskrieg auf den Nicht-Nato-Staat Ukraine ist diese Zeit endgültig Geschichte.
Die neue Spaltung Europas manifestiert sich auch in der unterschiedlichen Einschätzung der Lage und den daraus resultierenden Erwartungshaltungen. In der Ukraine herrscht – zu Recht – die Auffassung, dass man mit dem aufopferungsvollen Kampf der eigenen Armee letztlich die Sicherheit der Europäischen Union verteidigt. Indem man die russische Armee bekämpft, bindet man deren Soldaten und gebietet so dem russischen Imperialismus Einhalt. Dafür lassen jeden Tag weit über hundert ukrainische Soldaten ihr Leben, von den weit höheren Verletztenzahlen ganz zu schweigen.
„Die Ukraine verteidigt die Freiheit Europas“, so zustimmend Italiens Ministerpräsident Mario Draghi bei seinem Besuch in Kiew mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Botschaft lautet: Es handelt sich hier nicht nur um eine ukrainische Angelegenheit, sondern die Ukraine hält die Stellung für ganz Europa. Deshalb war es letztlich unumgänglich, dem Land den Status eines EU-Beitrittskandidaten zuzuerkennen – schon um die enormen menschlichen Opfer zu honorieren.
Allerdings ist dies nicht mehr als ein Versprechen auf die Zukunft, das zugleich die Gefahr großer Enttäuschungen birgt.[1] Denn eine tatsächliche EU-Mitgliedschaft ist hoch konditioniert und von Bedingungen abhängig, die die Ukraine derzeit bei weitem nicht erfüllt. Insofern ist der Kandidatenstatus nicht mehr als die Verheißung, dass ab jetzt über einen sehr langen Zeitraum hinweg intensive Verhandlungen geführt werden müssen.
Trotzdem war dieser Akt für die Ukraine von großer symbolpolitischer Bedeutung, als Ausdruck der Zugehörigkeit zur westlich-europäischen Wertegemeinschaft. Aber er ist eben nur die eine, symbolische Seite der Medaille. Das, was die Ukraine weit mehr benötigt und auch einfordert, ist die materielle Seite, sprich: die Unterstützung mit Waffen gegen die russische Überlegenheit. Spätestens seit sich der Krieg zu einem brutalen Artillerieduell entwickelt hat, verfügt der Aggressor über ein immenses Übergewicht an Waffen, mit zudem weit größerer Reichweite, und Munition.[2]
Wenn schon echte Gleichrangigkeit gegen die russische Übermacht faktisch kaum herzustellen ist, drängt die ukrainische Regierung doch umso mehr auf Unterstützung ihres völkerrechtlich anerkannten Rechts auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 UN-Charta. Doch die Realität sieht anders aus: Offensichtlich soll die Symbolpolitik der EU deren Zögerlichkeit im militärischen Bereich kompensieren. Während man die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft verspricht, bleibt insbesondere Westeuropa bei der Unterstützung mit Waffen ausgesprochen reserviert. Pauschal betrachtet könnte man sagen: Je weiter entfernt man von der Ukraine ist, umso geringer wird die Bereitschaft zur Solidarität. So droht in Italien an der Lieferung schwerer Waffen sogar die Koalition zu zerreißen. Und während, was eine zukünftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine anbelangt, wohlhabendere Nettozahler eine größere Belastung fürchten, sehen ärmere Staaten wie etwa Portugal in der Ukraine auch den künftigen Konkurrenten um EU-Hilfszahlungen.
Anspruch gegen Wirklichkeit
Die Osteuropäer nehmen durchaus zur Kenntnis, wie sehr man sich in Westeuropa bereits wieder den eigenen Problemen zuwendet, von der drohenden Energieknappheit bis zur wachsenden Inflation. Deshalb wächst im Osten die Sorge, es gehe dem Westen vor allem um eins, nämlich um die schnellstmögliche Beendigung des Krieges durch Befriedigung Putins, auch unter Inkaufnahme, dass Russland die eroberten Gebiete dauerhaft behält.
Speziell im Falle Macrons zeigt sich die enorme Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Während seines Besuchs in Kiew brachte der französische Präsident mit großem Pathos die unverbrüchliche Solidarität Frankreichs mit der Ukraine zum Ausdruck. Dabei hatte er kurz zuvor allein auf Verhandlungen mit Putin abgestellt und dabei gefordert, man dürfe den russischen Regenten nicht „demütigen“. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer musste sich das wie reiner Zynismus anhören, da sie durch Putins Bodengewinne und ihre eigenen unzähligen Toten und Verletzten täglich gedemütigt werden.
Dennoch ist Macron für die zukünftige EU-Politik von entscheidender Bedeutung, schon aufgrund der (auch atomaren) Stärke der französischen Armee. Doch nach der verheerenden Niederlage seines Wahlbündnisses Ensemble bei den jüngsten Parlamentswahlen[3] wird Macron sich weit stärker innenpolitisch engagieren müssen; damit schwinden seine Möglichkeiten, nach außen als europäischer Stratege aufzutreten. Jetzt rächt sich, dass Angela Merkel speziell während der letzten vier Jahre ihrer schier endlosen Kanzlerschaft sämtliche Angebote Macrons ignorierte, die EU grundsätzlich zu reformieren und handlungsfähiger zu machen. Gäbe es zum Beispiel heute den von Macron vorgeschlagenen europäischen Sozialpakt, wäre der Kontinent weit resilienter gegenüber der russischen Aggression.
»Pathos und Profit«
Nun fällt ob der Schwäche Macrons die europäische Führungsrolle maßgeblich Olaf Scholz zu, insbesondere was die Unterstützung der Ukraine anbelangt. Ohnehin sind die Erwartungen in Kiew weit stärker an die Bundesrepublik adressiert als an den Süden Europas.[4] Und das durchaus zu Recht: Schließlich hat Deutschland die Solidarität stets in besonderem Maße beschworen, auch mit dem Pathos der historischen Verantwortung für die Nachbarschaft im Osten. Und tatsächlich erwächst aus der imperial-kolonialen Geschichte Nazi-Deutschlands, das nicht zuletzt die Ukraine als Kornkammer Europas erobern wollte, eine besondere Verantwortung für die Region.
Auch deshalb ist der Anspruch der Ukraine an Deutschland sehr viel höher als gegenüber anderen europäischen Staaten. Und umso größer die Enttäuschung: Die Osteuropäer mussten erkennen, dass die Ängste im Westen und speziell in Deutschland nicht die ihren sind. Zu Beginn des Krieges dominierte hierzulande nicht die Angst vor einem imperialistischen Russland und vor einer Niederlage der Ukraine, sondern, durchaus nachvollziehbarerweise, vor der Eskalation zu der von Putin angedrohten nuklearen Auseinandersetzung. Doch obwohl sich die Lage auf dem Schlachtfeld seither fundamental verändert hat, ist der Gegensatz zwischen dem ukrainischen und deutschen Standpunkt nicht kleiner, sondern eher größer geworden. Denn, so die bittere Ironie: In dem Maße, in dem Russland an Boden gewinnt, wird die Angst im Westen zwar zu Recht kleiner, dass Russland weiter eskalieren und der Krieg zu einem atomaren Weltenbrand werden könnte, zugleich schwindet aber auch das Interesse an der Ukraine insgesamt. Statt dessen herrscht wieder das Primat der Innenpolitik, mit – auch das ein Erfolg der Putinschen Aggression – Ängsten vor Energieknappheit und Inflation, aber auch bereits vor einer weiteren Corona-Welle im kommenden Herbst.
Außenministerin Baerbock warnt daher bereits vor „Kriegsmüdigkeit“, obwohl Deutschland sich – zum Glück – gar nicht im Krieg befindet. Noch treffender bringt es Wirtschaftsminister Habeck auf den Punkt, wenn er im Westen die Gefahr einer „strukturellen Gleichgültigkeit“ diagnostiziert. Wenn zum gleichen Zeitpunkt die Ukrainerinnen und Ukrainer unter Einsatz ihres Lebens nicht nur ihr Land, sondern auch die Freiheit Europas verteidigen, stellt sich ihnen zwingend die Frage, warum ein reiches Land wie Deutschland dann nicht wenigstens jene Panzer zur Verfügung stellt, die bei Rheinmetall und Co. massenhaft auf der Halde stehen. „Ich verstehe das einfach nicht“, so ein sichtlich konsternierter Präsident Selenskyj im Interview mit der „Zeit“. „Bei uns schützen die Waffen doch Menschen und die Freiheit, anstatt in Lagerhallen zu verstauben.“[5]
Auf diese Anfrage nach größerer militärischer Unterstützung muss die EU, muss speziell der Bundeskanzler eine plausible Antwort finden. Andernfalls wird die Kluft zwischen Ost- und Westeuropa immer größer werden. Das gilt umso mehr, als die Bundesrepublik derzeit offenbar nicht auf den Import von russischem Gas verzichten kann, aufgrund der selbstverschuldeten Abhängigkeit.
Tatsächlich kommt es jetzt zum Schwur: Was ist die deutsche Solidarität wirklich wert? War sie ernst gemeint oder in erster Linie Ausdruck eines wie geölt funktionierenden Geschäftsmodells aus „Pathos und Profit“ (Bernd Ulrich): viel rhetorische Vergangenheitsbewältigung bei gleichzeitig glänzenden Geschäften mit Russland?[6]
Wenn es sich heute um einen Kampf der Ukraine zur Verteidigung Europas handelt, dann hätten auch die westlichen Staaten Europas ihr Maximum – stets unterhalb der eigenen Kriegsbeteiligung, zwecks Verhinderung einer Eskalation – zu leisten, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern. Und zwar durchaus aus Eigeninteresse, um gegenüber Putin den entscheidenden Punkt durchzusetzen: Krieg darf sich in Europa niemals wieder lohnen.
„Die Ukraine muss bestehen“, lautet bisher das minimalistische Versprechen des Kanzlers. An diesen, ohnehin sehr zurückhaltenden Worten muss Olaf Scholz sich messen lassen. Denn längst geht es um den Bestand der Ukraine in den Grenzen des 23. Februar, also vor Beginn des russischen Angriffskrieges. Für Kiew ist der Krieg zur existenziellen Frage geworden. Der gesamte Donbass droht verloren zu gehen, und möglicherweise auch die gesamte Schwarzmeer-Küste, inklusive Odessas.[7] Damit aber verlöre die Ukraine als Agrar- und Handelsnation dauerhaft ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage. Insofern geht es tatsächlich um den Bestand des Landes.
„Wir können nicht wegsehen“, sagte Olaf Scholz auf der jüngsten Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums in Davos – allerdings mit Blick auf die chinesische Unterdrückung der Uiguren. Doch für die Lage in der Ukraine gilt dieses Verbot des Wegsehens mindestens genauso sehr. Weniges aber konnte der Westen schon zu Zeiten des Kalten Krieges besser als wegzusehen und die fatalen Geschehnisse in der östlichen Hemisphäre, von 1953 über 1956 bis 1968, konsumistisch zu verdrängen. Wenn der Ukraine-Krieg noch lange dauert, was in der Tat zu befürchten ist, könnte sich das Gleiche wiederholen, droht der östliche Kriegs- und Ausnahmezustand im westlichen Sog zur Normalisierung unterzugehen.
Am Fall der Ukraine muss sich zeigen, ob der Westen Europas und speziell Deutschland in der Lage sind, wirklich solidarisch zu agieren und die neue Spaltung Europas zu überwinden. Bisher hält sich der Kanzler viel auf sein Konzept der „strategischen Ambiguität“ zugute. Wenn die bewusst angelegte Vieldeutigkeit jedoch nicht den angreifenden Gegner, also Russland, irritiert, sondern das verbündete Opfer, nämlich die Ukraine, dann gibt es ein Problem. Ganz offensichtlich hat es bisher an einer hinreichenden Unterstützung Kiews durch Berlin gefehlt – und zwar nicht nur militärisch, sondern auch rhetorisch und politisch. All das bedeutet nicht, dass es nicht am Ende auf eine Verhandlungslösung mit Russland hinauslaufen wird, ja muss, und dass deshalb auch die Gesprächskanäle nach Moskau offen zu halten sind, um den Krieg zu beenden. Umso mehr aber kommt es auf die eindeutige und tatkräftige Unterstützung der Ukraine an. Andernfalls dürfte sich in Osteuropa der Eindruck weiter verfestigen: Der Westen Europas lässt uns im Stich.
[1] Auch für die Staaten des Westbalkans, die seit über zehn Jahren auf ihren Beitritt warten.
[2] Laut einem Dossier westlicher Geheimdienste, von dem der „Independent“ am 9. Juni berichtete, verfügen die russischen Streitkräfte über zwanzig Mal mehr Artilleriewaffen und sogar über das vierzigfache an Munition, siehe: Florian Hassel, Wenn die Moral der Soldaten sinkt, in: „Süddeutsche Zeitung“, 20.6.2022.
[3] Vgl. dazu den Kommentar von Steffen Vogel in dieser Ausgabe.
[4] Schon aus historischen Gründen begreift man im Osten speziell Italien und Frankreich als stark auf den Süden, also auf die Mittelmeerregion, konzentriert.
[5] Interview in: „Die Zeit“, 16.6.2022.
[6] Bernd Ulrich, Waren sie alle von Sinnen?, in: „Die Zeit“, 21.4.2022.
[7] Schon jetzt hat die russische Seeblockade verheerende Folgen für die Welternährung, siehe dazu den Beitrag von David Wallace-Wells in dieser Ausgabe.