Ausgabe September 2022

Chile als Avantgarde

Eine Verfassung für das 21. Jahrhundert

Zahlreiche feministische und andere zivilgesellschaftliche Organisationen kündigen ihre Unterstützung für den Apruebo an, Santiago de Chile, 28.7.2022 (IMAGO/Aton Chile)

Bild: Zahlreiche feministische und andere zivilgesellschaftliche Organisationen kündigen ihre Unterstützung für den Apruebo an, Santiago de Chile, 28.7.2022 (IMAGO/Aton Chile)

In Chile finden immer wieder Entwicklungen statt, die von welthistorischer Bedeutung sind. In den 1960er Jahren machte sich die chilenische Linke im Bündnis mit anderen Kräften auf den steinigen demokratischen Weg zum Sozialismus. Damit stand das südamerikanische Land für eine Alternative zu den revolutionären, tendenziell autoritären Optionen einer globalen Linken in bolschewistischer Tradition. Doch das Experiment wurde durch den von den USA unterstützten Militärputsch am 11. September 1973 brutal abgewürgt. Unter Diktator Augusto Pinochet wurde Chile zum Labor autoritär-neoliberaler Politik, die bis heute das Leben der Menschen bestimmt. Wenige Familien und eine kleine Oligarchie beherrschen das Land, dessen natürliche Ressourcen für den Weltmarkt ausgebeutet werden: allen voran Kupfer, aber auch mit Antibiotika hochgezüchteter Lachs und – als großes Versprechen für die Zukunft – der Abbau und Export von Lithium, dem angeblich „weißen Gold“, mit dem die Ökologisierung des Kapitalismus im Globalen Norden vorangetrieben werden soll.[1] Doch diese Verhältnisse werden zunehmend infrage gestellt, wie nicht zuletzt die wachsenden Konflikte rund um die – in Chile fast vollständig privatisierte – Ressource Wasser der vergangenen Jahre zeigen. Dass bei Wasserknappheit zuvorderst der exportorientierten Agrarindustrie und den Bergbaukonzernen und nicht der Bevölkerung die Nutzung zugesichert wird, sorgt immer wieder für Proteste.

Die Kennzeichnung Chiles als „Schwellenland“ entspricht somit eher dem Bild der Eliten und Technokraten der internationalen Institutionen als den Erfahrungen der meisten Menschen, die in unsicheren Arbeits- und Einkommensverhältnissen leben und mitunter hochverschuldet sind. Über die Hälfte der Chilen*innen ist Studien zufolge wirtschaftlich vulnerabel, verfügt also über kein Polster, das sie vor plötzlichen Einkommensverlusten schützen könnte. Die Bildungs- und Rentensysteme sind seit der Diktatur privatisiert; die Hälfte der Altersrenten liegt unter 130 Euro im Monat – in einem Land mit nahezu westeuropäischen Preisen. Ein Resultat der kapitalfreundlichen Politik ist zudem die Aushöhlung und Fragmentierung gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Inzwischen gibt es etwa 12 000 (!) Gewerkschaften; die Hälfte von ihnen hat weniger als 40 Mitglieder, viele von ihnen wurden vom Management gegründet.

Indem es seine autoritären und neoliberalen Orientierungen in der Verfassung festschreiben ließ, schaffte sich das Pinochet-Regime 1980 ein Erbe über seine eigene Existenz hinaus. Die Verfassung gilt bis heute, obwohl Pinochet 1990 die Macht an zivile Kräfte abgeben musste. Doch auch die sozialdemokratischen und christdemokratischen Regierungen der letzten Jahre stellten die Verfassung und das neoliberale Wirtschaftsmodell nicht grundlegend infrage – oder vermochten dies angesichts der politischen Kräfteverhältnisse nicht. Erst die Schüler*innen und Studierenden, denen sich bald feministische, indigene, ökologische und andere Bewegungen und Organisationen anschlossen, leiteten im Oktober 2019 mit dem sogenannten estallido social, der sozialen Explosion, den Aufbruch ein.[2] Über Wochen und zu Hunderttausenden gingen die Chilen*innen auf die Straßen und forderten nichts weniger als einen radikalen Systemwandel. „Wir kämpfen, bis die Würde zur Gewohnheit wird“, lautete ein oft wiederholter Slogan der Proteste.

Diese Bewegung hatte Vorläufer: So haben sich die indigenen Mapuche in den vergangenen Jahrzehnten zu einer relevanten politischen Kraft entwickelt, die für Landrechte und gegen das staatlich subventionierte extraktivistische Modell der Forstwirtschaft kämpft. Daneben kam es 2005 in dem Land mit seinen knapp 20 Millionen Einwohner*innen immer wieder zu großen Protesten. International bekannt wurden 2006 die Schüler*innenbewegung „Revolution der Pinguine“ und später, ab 2015, die feministische Bewegung Ni Una Menos („Keine Weitere Mehr“) gegen Frauenmorde und sexualisierte Gewalt. Dabei ist nicht nur eine neue Generation von Aktivist*innen herangewachsen. Es sind auch Keime einer neuen Ethik und eines Wissens jenseits des neoliberalen Individualismus und der angeblichen Überlegenheit des Marktes entstanden. Das Versprechen, dass gesellschaftliche Teilhabe vor allem über den privaten Konsum erfolgt, wurde als falsch entlarvt – ebenso wie der Vorwurf, dass jene, die zu wenig Geld für diesen Konsum haben, dafür selbst verantwortlich sind. Die neuen sozialen Bewegungen überwanden auch die verengte Deutung der Geschichte durch das offizielle Chile, dass nämlich die Diktatur vor allem aus Staatsterror und Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und Verschwundenen bestanden habe. Sie war mehr: Eine Neoliberalisierung der Gesellschaft mit erzwungener Individualisierung und dem Verlust sozialer Rechte. Die Diktatur war ein konservatives Projekt, das Privateigentum, Religion, Familie und Vaterland ins Zentrum stellte.

Entlang dieser Linien entzündeten sich immer wieder Konflikte, doch seit drei Jahren verdichtet sich die Geschichte. Vier Wochen nach Ausbruch der Massenproteste 2019 einigten sich die neoliberale Regierung unter Sebastián Piñera und die Opposition auf den „Vertrag für den Frieden und die neue Verfassung“. Mit diesem konnte Piñera zwar die Forderung nach seinem sofortigen Rücktritt abwenden, zugleich aber wurde ein Referendum vereinbart, in dem die Bevölkerung über die Möglichkeit einer neuen Verfassung abstimmen sollte. 78 Prozent der Wähler*innen sprachen sich im Oktober 2020 daraufhin für eine Verfassunggebende Versammlung aus, über deren Zusammensetzung im Mai 2021 ebenfalls per allgemeiner Wahl abgestimmt wurde. Überraschend wurden dabei viele Vertreter*innen sozialer Bewegungen und nur wenige Parteipolitiker*innen in das Gremium gewählt; zudem war die Versammlung paritätisch besetzt – ein Erfolg der starken feministischen Bewegung –, auffällig jung, und 17 der 155 Sitze waren der indigenen Bevölkerung vorbehalten. Besonders wichtig: Die politische Rechte erzielte nicht einmal die Sperrminorität von einem Drittel.

Kurz darauf kam es zu einem weiteren, bedeutenden Umbruch in Chile. Im Dezember 2021 wurde der ehemalige Studierendenaktivist und Parlamentsabgeordnete Gabriel Boric als Vertreter des Wahlbündnisses Apruebo Dignidad zum Präsidenten gewählt. Im März dieses Jahres trat er als erster linker Präsident Chiles seit Salvador Allende sein Amt an. Er koaliert mit der Sozial- und der Christdemokratie, die nach 1990 die längste Zeit die Regierung in Chile stellte und eine Art progressiven Neoliberalismus vertritt.

Am 4. Juli hat die Verfassunggebende Versammlung nach einjähriger Arbeit ihren Entwurf für die neue Verfassung vorgelegt, am 4. September soll die chilenische Bevölkerung nun darüber abstimmen. Der Tag ist symbolisch, denn am 4. September 1970 gewann Allende die Präsidentschaftswahl. Angesichts dessen steht das Land politisch unter Strom, denn es geht um viel.

Ein Gegenentwurf zur neoliberalen Verfassung von 1980

Wird die Verfassung angenommen, würde in Chile ein weiteres Mal Weltgeschichte geschrieben: Die 388 Artikel sind Ausdruck der gesellschaftlichen Wünsche nach einer Überwindung des Diktaturerbes und nach einer gerechteren Gesellschaft. Entstanden ist ein Text, der weltweit zum Vorbild dafür werden könnte, wie sich die vielfältigen Krisen der Gegenwart demokratisch bearbeiten lassen.

Artikel 1 des Entwurfs besagt: „Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Er ist plurinational, interkulturell, regional und ökologisch.“ Zugleich wird Chile darin als „solidarische Republik“ und seine Demokratie als paritätisch definiert. Diese Bestimmungen haben es in sich. Die Grund- und Menschenrechte spielen in dem Entwurf eine zentrale Rolle und werden massiv ausgeweitet. Das Prinzip der Plurinationalität bricht mit dem Selbstbild einer homogenen, kreolisch-weißen Nation, in der die Existenz der Indigenen weder anerkannt wird noch ihre Rechte garantiert sind. Menschen indigener Herkunft, die etwa elf Prozent der Bevölkerung Chiles ausmachen, werden im Verfassungsentwurf als Völker anerkannt und erhalten weitreichende kollektive Rechte, darunter etwa das Recht auf ihre eigene Sprache sowie auf eine eigene Gerichtsbarkeit. Eine wichtige Rolle spielt dabei die territoriale Autonomie. Praktisch würde das etwa bedeuten, dass Forstunternehmen in indigenen Gebieten nicht länger ohne Zustimmung der dort lebenden Bevölkerung agieren könnten. Auch der starke Zentralismus des Landes wird im Verfassungstext angegangen: So soll der Senat abgeschafft und durch eine Kammer der Regionen, vergleichbar dem Bundesrat in Deutschland und Österreich, ersetzt werden. Vor allem aber ist die „solidarische Republik“ ein Gegenentwurf zur neoliberalen Verfassung von 1980, wobei dem Staat auch in der Wirtschaft – und hier insbesondere bei der Sicherung der Daseinsvorsorge – eine wichtige Rolle zugewiesen wird.

Darüber hinaus würde im Falle einer Annahme des Entwurfs zum ersten Mal weltweit der Grundsatz der Geschlechterparität für alle politischen und öffentlichen Gremien in einer nationalen Verfassung festgelegt. Ausdrücklich wird im Text anerkannt, dass alle Menschen ihre eigene Identität entwickeln können – ein starker Anspruch im konservativen Chile.

Die starke feministische Ausrichtung des Verfassungsentwurfs wird daneben nicht nur an der Einführung des bisher nicht verbürgten, aber seit Jahren kämpferisch eingeforderten Rechts auf Schwangerschaftsabbruch deutlich, sondern auch in der Bestimmung von Artikel 49: „Der Staat erkennt an, dass Haus- und Pflegearbeit gesellschaftlich notwendig und unverzichtbar sind für die Nachhaltigkeit des Lebens und die Entwicklung der Gesellschaft.“ Entsprechend soll der Staat Mechanismen zur Umverteilung der Haus- und Pflegearbeit einführen. Neu ist auch, dass die Verfassung erstmals ein Recht auf Pflege festschreibt.

Und noch in einer weiteren Hinsicht ist der Entwurf wegweisend: Wie bereits in der Verfassung von Ecuador von 2008 werden nun auch in Chile erstmals die Rechte der Natur konstituiert und wird auf die Interdependenz von Mensch und Natur verwiesen. Es geht also nicht mehr nur um die zu schützende Umwelt, sondern auch um den Erhalt der Grundlagen allen menschlichen und nichtmenschlichen Lebens. Gemeingüter wie Wasser und Luft sollen besonders geschützt werden, die Privatisierung von Wasser wird ausgeschlossen – in der Verfassung von 1980 ist das Eigentumsrecht an Wasser dagegen ausdrücklich garantiert. Ernährungssouveränität und der Schutz von traditionellem Saatgut werden zu wichtigen Staatszielen erklärt. Und wer die Natur zerstört, muss sie reparieren. All das sind angemessene Bestimmungen in einer Zeit, in der sich die ökologische Krise dramatisch zuspitzt.

Der Verfassungsentwurf ist also ein großer Wurf, ein Orientierungsrahmen für einen grundlegenden Umbau der chilenischen Gesellschaft. Eine caja de herramientas, ein Werkzeugkasten, wie in Chile immer wieder gesagt wird. Wird er angenommen, wäre das ein Meilenstein, um allen Menschen in Chile ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Zwar löste die neue Verfassung die Probleme nicht von heute auf morgen, aber sie würde dazu beitragen, strukturelle Ungleichheiten und Machtungleichgewichte Schritt für Schritt zu überwinden: Sie strebt umfangreiche Entprivatisierungen an und gäbe den bisher Ausgeschlossenen weitreichende Rechte und Partizipationsmöglichkeiten.

Träte die Verfassung am Ende tatsächlich in Kraft, markierte dies allerdings erst den Anfang einer langen gesellschaftlichen Auseinandersetzung über deren Umsetzung und damit die Institutionalisierung der sich verändernden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Der Kongress, das legen ausführliche Übergangsbestimmungen fest, muss zu diesem Zweck innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre verschiedene Gesetze erlassen. Das aber wird aller Voraussicht nach ein harter Kampf: Denn die der neuen Verfassung gegenüber aufgeschlossene Regierungskoalition, die allerdings ebenfalls Reformen des Verfassungstextes anstrebt, verfügt im Abgeordnetenhaus über keine Mehrheit, während die Rechte noch bis mindestens 2026 die Mehrheit im Senat stellt. Das verleiht ihr erhebliche Blockademöglichkeiten. Gleichzeitig würde die neue Verfassung aber auch der Bevölkerung mehr politische Teilhabe, inklusive eigener Gesetzesinitiativen, zusichern.

Schon jetzt ist also absehbar, dass intensiv um die Umsetzung gerungen werden wird. Dabei sind grundlegende Fragen zu klären: Wie wird die Macht der Medien demokratisiert, die noch in den Händen der reichsten Familien Chiles liegt? Wie kann die Interessenvertretung der Beschäftigten gestärkt werden? Welche Rolle spielen öffentliche Bildungseinrichtungen und wie kann das Wissenschafts- und Hochschulsystem entneoliberalisiert werden? Was bedeutet die Kontrolle natürlicher Ressourcen durch den Staat, wenn dann doch Konzessionen an transnationale Unternehmen vergeben werden?

Die chilenische Rechte im Abwehrkampf

Auch wenn im Verfassungsentwurf weder die Macht des Großgrundbesitzes noch die Konzentration im Finanzsektor oder die Industriemonopole infrage gestellt werden und auch das extraktivistische Wirtschafts- und Akkumulationsmodell nicht explizit angesprochen wird, steht fest: Der Verfassungsentwurf ist kein Kompromiss der Eliten. Wird er angenommen, werden die heute materiell besonders Wohlhabenden von ihrem Reichtum abgeben müssen. Und genau deshalb mobilisiert die Rechte massiv dagegen – und das durchaus mit Erfolg. Umfragen deuten auf einen Sieg des Rechazo (Ablehnung), zumindest aber auf ein sehr knappes Ergebnis hin. Das ist nicht zuletzt auch dem Umstand geschuldet, dass finanzielle Hilfen im Wahlkampf zu 99 Prozent an die Ablehnungskampagne gehen, die vor allem von den Wohlhabenden und privaten Unternehmen unterstützt wird. Die große Unbekannte am 4. September sind jene Menschen, die sich politisch nicht vertreten fühlen, wenig politisches Interesse haben oder meinen, ihre Stimme hätte kein Gewicht. Weil es erstmals seit 2005 in Chile wieder eine Wahlpflicht gibt, wird um deren Stimmen nun intensiv gerungen.

Sind sie empfänglich für die Lügen der politischen Rechten, deren Medien verlauten lassen, dass bei Annahme der Verfassung niemand mehr ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung besitzen darf? Verfängt das Argument, dass sich mit der neuen Verfassung für die indigene Bevölkerung nicht nur die Möglichkeit auf historische Wiedergutmachung eröffnet, sondern sie unzulässige „Privilegien“ erhalten würde? Die Rechte argumentiert teilweise auch, dass eine neue Verfassung durchaus sinnvoll sei, doch dieser Entwurf zu weit gehe, Unsicherheit schaffe und in wirtschaftliche Krisen führe. Immer wieder fällt das Wort „Chilezuela”, womit insinuiert wird, Chile würde mit der neuen Verfassung wie Venezuela in ökonomischem Chaos versinken. Diese Position könnte die Seite der Verfassungsgegner stärken, denn das Land erlebt eine wirtschaftliche Krise, in der sich viele Menschen Ordnung wünschen. Und trotz aller Aufbrüche der letzten Jahre darf man nicht vergessen, dass Chile über eine schwache demokratische Kultur verfügt: Diktatur und Neoliberalismus haben ihren Job gemacht.

Für die Abstimmung ist zudem entscheidend, wie die Menschen die Politik der neuen Regierung einschätzen. Sie hat mit Inflation, organisierter Kriminalität und einem ungelösten Konflikt zwischen indigenen Mapuche und Forstunternehmen im Süden Chiles zu kämpfen, und ihre Zustimmungswerte sind trotz einer Erhöhung des Mindestlohns und der angekündigten Steuer- und Rentenreform zuletzt stark gesunken. Bis zum Referendum am 4. September müssen die sozialen Bewegungen also noch massiv Überzeugungsarbeit leisten, um vor allem von Armut Betroffene, Frauen und Jüngere zu motivieren, dem Aufbruch zuzustimmen. Mittelfristig wird es, bei einem Sieg des Apruebo, angesichts der sich abzeichnenden Konflikte um eine produktive Spannung zwischen Regierung und sozialen Bewegungen gehen. Die Philosophin und Aktivistin Pierina Ferretti sagt: „Es wird zu neuen Protestbewegungen kommen. Die neue Regierung wird versuchen müssen, diese Proteste auszunutzen, statt alles dafür zu tun, sie zu demobilisieren.“[3]

Doch unabhängig vom Ausgang des Referendums ist der chilenische Verfassungsprozess schon jetzt von globaler Bedeutung, denn er zeigt ganz praktisch, dass in dystopischen Zeiten mit heißen und Kalten Kriegen eine solidarische Gesellschaft möglich ist. Dabei sollten wir allerdings nicht naiv sein. Die Herausforderungen in Chile sind enorm. Hinzu kommen die Zwänge des Weltmarktes und die machtförmige internationale Politik. Chile ist ein Rohstoffversorger der Welt – Deutschland erhält von dort den größten Teil seines Kupfers und Lithiums – und weltweit das Land mit den meisten Freihandelsabkommen. Und dennoch öffnen sich hier reale Möglichkeiten für eine bessere Gesellschaft, mit Signalwirkung weit über den Andenstaat hinaus.

International muss dieser Prozess durch Kooperationen in Lateinamerika abgesichert werden. Präsident Boric ist sich dessen bewusst und geht auf die Regierungen der Nachbarländer zu, spart aber gleichzeitig nicht mit Kritik an den autoritären Entwicklungen in Kuba, Nicaragua und Venezuela. Doch auch und gerade im Globalen Norden sind wir dazu aufgefordert, den chilenischen Veränderungsprozess zu unterstützen – gegen die vielfältigen imperialen Interessen internationaler Akteure: Mit aktiver Solidarität und dem Umbau der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die auf die Ausbeutung auch der chilenischen metallischen Ressourcen angewiesen ist. Mit dem Kampf gegen Freihandelsabkommen, die gegen die Interessen der Menschen insbesondere im Globalen Süden gerichtet sind. Dann könnte ein weiteres Motto der Aufstände in Chile Realität werden, das sich der neue Präsident in seiner bewegenden Antrittsrede im März dieses Jahres zu eigen gemacht hat: „In Chile wurde der Neoliberalismus geboren – und dort stirbt er.“

[1] Vgl. Ulrich Brand und Kristina Dietz, Chile, Kolumbien, Brasilien: Lateinamerika vor einer neuen Linkswende?, in: „Blätter“, 3/2022, S. 99-108; Nina Schlosser, Externalised Costs of Electric Automobility: Social-Ecological Conflicts of Lithium Extraction in Chile, Working Paper, 144/2020 der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

[2] Vgl. dazu Sophia Boddenberg, Chile: Aufstand im Labor des Neoliberalismus, in: „Blätter“, 12/2019, S. 37-40.

[3] Pierina Ferretti, Chilenisches Tagebuch #5. Wir feiern weiter, www.medico.de, 21.12.2021.

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