Ausgabe Dezember 2022

Der Globale Süden in der Zinserhöhungsfalle

IMAGO / Wavebreak Media Ltd

Bild: IMAGO / Wavebreak Media Ltd

Der spanisch-amerikanische Philosoph George Santayana warnte einst davor, dass „diejenigen, die sich nicht an die Vergangenheit erinnern können, dazu verdammt sind, sie zu wiederholen“. Doch manchmal haben selbst diejenigen, die sich an die Vergangenheit erinnern können, ein bloß selektives Gedächtnis und ziehen daraus die falschen Schlüsse. So beharren die Regierungen und Zentralbanken der Industrieländer derzeit darauf, dass die einzige Möglichkeit, die rapide steigenden Preise zu zähmen, darin besteht, die Zinssätze zu erhöhen und eine restriktive Geldpolitik zu verfolgen.

Die Vorlage für die aktuelle Straffung der Geldpolitik bildet der „Volcker-Schock“ von 1979. Als Reaktion auf die galoppierende Inflation hob damals die US-Notenbank unter dem Vorsitzenden Paul Volcker die Zinssätze drastisch an. Volckers Zinserhöhungen sollten eine Lohn-Preisspirale bekämpfen, indem sie erhöhte Arbeitslosigkeit bewusst in Kauf nahmen, dadurch die Verhandlungsmacht der Beschäftigten verringern und so die Inflationserwartungen dämpfen wollten. Doch die hohen Zinssätze lösten in den USA den stärksten Konjunkturrückgang seit der Großen Depression aus, und die Erholung dauerte ein halbes Jahrzehnt.

Zudem wirkte sich Volckers Politik auf die ganze Welt aus, da wegen der hohen Zinsen enorm viel Kapital in die Vereinigten Staaten floss, was zu schweren Wirtschaftseinbrüchen und Verschuldungskrisen führte, die in Lateinamerika und anderen Entwicklungsländern ein „verlorenes Jahrzehnt“ auslösten. Auch der Kontext für dieses rigorose Vorgehen war damals ein ganz anderer als heute, denn Lohnerhöhungen sind derzeit nicht die Hauptursache für Inflationsdruck. Sogar in den USA sind die Reallöhne im letzten Jahr gesunken. Das hält jedoch einige Ökonomen nicht davon ab zu behaupten, dass eine höhere Arbeitslosigkeit und ein damit einhergehender stärkerer Rückgang der Reallöhne notwendig seien, um die Inflation einzudämmen. Dabei erkennen selbst einige der lautstärksten Befürworter einer restriktiven Geldpolitik und rascher Zinserhöhungen an, dass diese Strategie höchstwahrscheinlich eine Rezession auslösen und das Leben und die Existenzgrundlagen von Millionen Menschen in ihren eigenen Ländern und anderswo erheblich beeinträchtigen wird.

Man würde erwarten, dass die vermeintlichen „Erwachsenen“ der globalen makroökonomischen Politik das Problem erkennen und versuchen, angemessenere Antworten zu entwickeln. Doch weder die nationalen Entscheidungsträger in den entwickelten Volkswirtschaften noch multilaterale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die in der Regel vernünftigere Bank für Internationalen Zahlungsausgleich scheinen ein Interesse an alternativen Erklärungen oder Strategien zu haben.

Diese intellektuelle Trägheit führt die Politik massiv in die Irre. Dabei zeigt die Forschung immer deutlicher, dass der derzeitige Inflationsschub durch Versorgungsengpässe, das Profitstreben großer Unternehmen in kritischen Sektoren wie Energie und Lebensmittelwirtschaft sowie durch steigende Rohstoffpreise bedingt ist. Um diese Faktoren in den Griff zu bekommen, bedarf es vernünftiger politischer Maßnahmen wie die Wiederherstellung unterbrochener Versorgungsketten, die Begrenzung von Preisen und Gewinnen in wichtigen Sektoren wie der Lebensmittel- und Energiewirtschaft und die Eindämmung von Spekulationen auf den Rohstoffmärkten.

Die Regierungen sind sich dieser Möglichkeiten durchaus bewusst, ziehen sie aber nicht ernsthaft in Betracht. Stattdessen haben es die gewählten Volksvertreter weltweit den Zentralbanken überlassen, die Inflation zu kontrollieren. Und die Zentralbanker verlegen sich ihrerseits auf das stumpfe Instrument der Zinserhöhungen. Dies fügt Millionen von Menschen in den Industrieländern unnötigen wirtschaftlichen Schaden zu, aber die Folgen für den Rest der Welt werden wahrscheinlich noch weit schlimmer sein.

Ein Teil des Problems besteht darin, dass sich die makroökonomische Politik der wichtigsten fortgeschrittenen Volkswirtschaften der Welt ausschließlich auf das konzentriert, was sie als ihr nationales Interesse wahrnimmt – ohne Rücksicht auf die Auswirkungen auf die Kapitalströme und Handelsstrukturen anderer Länder. Die globale Finanzkrise von 2008 hatte ihren Ursprung in der US-Wirtschaft, aber ihre Auswirkungen auf Entwicklungs- und Schwellenländer waren weit gravierender, weil Investoren ihre Anlagen in die sichere USA abzogen. Und als die massive Liquiditätsausweitung und die ultraniedrigen Zinssätze in den Industrieländern dazu führten, dass sich die spekulativen und vagabundierenden Geldströme weltweit ausbreiteten, waren die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen volatilen Märkten ausgesetzt, auf die sie wenig bis gar keinen Einfluss hatten.

In ähnlicher Weise kann die heutige plötzliche Straffung der Geldpolitik aufgrund der großen ökonomischen Verflechtung verheerende Folgen für viele Entwicklungs- und Schwellenländer haben. Eine wichtige neue Studie des niederländischen Wirtschaftswissenschaftlers Servaas Storm zeigt das Ausmaß der Kollateralschäden für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Zinserhöhungen in den USA und Europa werden wahrscheinlich zu weiteren Schuldenkrisen und Zahlungsausfällen, erheblichen Produktionsverlusten, höherer Arbeitslosigkeit und einem starken Anstieg von Ungleichheit und Armut führen, was wiederum wirtschaftliche Stagnation und Instabilität zur Folge hat. In ihrem jüngsten Jahresbericht zu Handel und Entwicklung schätzt die UNCTAD, dass die Zinserhöhungen in den USA das künftige Einkommen der Entwicklungsländer (ohne China) um mindestens 360 Mrd. Dollar verringern könnten.

Am Ende werden sich auch die reichen Länder diesen schädlichen Entwicklungen nicht entziehen können. Auch wenn die politischen Entscheidungsträger im Westen die Auswirkungen ihrer Politik auf andere Länder nicht berücksichtigen, werden deren Folgen zwangsläufig ihre eigenen Volkswirtschaften erfassen. Für Entwicklungs- und Schwellenländer steht jedoch viel mehr auf dem Spiel. Um zu überleben, müssen sie daher eine größere fiskalische Autonomie und geldpolitische Freiheit anstreben. Dies würde es ihnen ermöglichen, Kapitalströme anders zu steuern und ihre Handelsstrukturen neu zu gestalten. Wie die Covid-19-Pandemie und die Klimakrise zeigen, sind Bemühungen um eine stärkere multilaterale Zusammenarbeit und einen gerechten Wirtschaftsaufschwung nicht nur moralisch begründbar oder eine Sache der Gefälligkeit; sie sind vielmehr auch im aufgeklärten Eigeninteresse der reichen Länder. Tragischerweise scheint das jedoch kaum jemand in diesen Ländern zu erkennen – am allerwenigsten ihre Wirtschaftspolitiker.

© Project Syndicate, Übersetzung: Thomas Greven

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