Ausgabe Dezember 2022

Zivilgesellschaft im Fadenkreuz

Die Ukraine vor dem Winter der Zermürbung

Horenka, Ukraine, 19.11.2022 (IMAGO / Ukrinform)

Bild: Horenka, Ukraine, 19.11.2022 (IMAGO / Ukrinform)

Regelmäßige Luftalarme, tägliche stundenlange Stromausfälle, eine Unterbrechung der Wasserversorgung und ein drohender Ausfall der Heizung, während die Temperaturen Tag für Tag sinken – bereits jetzt sind das die Lebensumstände von Millionen von Menschen in der Ukraine, selbst weitab der derzeit umkämpften Gebiete im Süden und Osten des Landes.

Als Russland Mitte Oktober begann, Ziele in der ganzen Ukraine mit Raketen und sogenannten Kamikaze-Drohnen zu beschießen, präsentierte der Kreml das noch als Vergeltungsaktion für den Angriff auf die Kertsch-Brücke zwischen der Krim und dem russischen Festland. Doch seitdem reißen die Luftangriffe nicht ab und es zeigt sich immer deutlicher: Es handelte sich um den Beginn einer systematischen, gegen die zivile Infrastruktur gerichteten Zerstörungskampagne, die das Stromnetz im ganzen Land zum Zusammenbruch bringen soll. Damit aber droht eine humanitäre Krise bisher unerreichten Ausmaßes: Millionen Menschen ohne Strom und Wärme, neue Flüchtlingsbewegungen und ein weiterer Kollaps der Wirtschaftsaktivität. Ende Oktober warnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj angesichts dessen vor einem Winter, der „der härteste in unserer Geschichte werden wird“. Wie um zu verdeutlichen, dass das Ziel der Angriffe in der Terrorisierung der Zivilbevölkerung besteht, erfolgen die Luftangriffe oft montagmorgens, wenn die Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder Schule sind. Und wie um die Absicht zu unterstreichen, die Lebensumstände für die ukrainische Bevölkerung im Winter unerträglich zu machen, begann Russland seine Angriffsserie mit dem endgültigen Ende der warmen Jahreszeit.

Schon jetzt ist das Ergebnis dramatisch: Laut dem Direktor des staatlichen Stromnetzbetreibers Ukrenergo, Wolodymyr Kudrytskyi, sind mittlerweile so gut wie alle nicht-nuklearen Kraftwerke des Landes von russischen Raketen oder Drohnen getroffen worden. Noch verheerender aber sei, dass über ein Drittel aller Stromnetzleitstellen beschossen wurden: „Sie versuchen, das ukrainische Stromnetz zu zerstören, das mehrere zehn Millionen Menschen versorgt.“[1] Das Stromnetz stammt noch aus der Zeit der Sowjetunion und war deshalb lange mit dem russischen verbunden. Erst mit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar wurde es an das Stromnetz der EU angeschlossen, wodurch die Ukraine während des Krieges sogar Strom in die EU exportieren konnte.[2] Jetzt kann die EU die Ukraine zwar mit Strom versorgen, doch das Netz steht in vielen Teilen des Landes vor dem Zusammenbruch und wird nur durch geplante, oft stundenlange Stromabschaltungen aufrechterhalten. In der Hauptstadt Kiew beispielsweise schauen Bewohner im Internet nach, zu welchen Tageszeiten sie in ihrem Bezirk noch mit einer Stromversorgung rechnen können.[3]

In den russischen Kommandostrukturen weiß man offenbar genau, wo die Schwachstellen des Stromnetzes liegen und welche Netzwerkknoten zerstört werden müssen, um die Stabilität des gesamten Netzes zu beschädigen. Zudem sei die Strominfrastruktur kaum zu schützen, berichtet die „Washington Post“: Die Leitstellen seien leichte Ziele, weil sie sich freistehend über der Erde befinden müssen.[4] Zwar verfügt die Ukraine über eine Luftverteidigung und erhält derzeit hochentwickelte Raketenabwehrsysteme von Nato-Staaten, beispielsweise das IRIS-T-System aus deutscher Herstellung. Das Land kann daher einen großen Teil der russischen Marschflugkörper abschießen, bevor sie ihr Ziel erreichen. Doch Russland verwendet bei seinen Angriffen oft gleich mehrere Dutzend aus dem Iran gelieferte Drohnen des Typs Shahed-136, die billig in der Herstellung sind und aufgrund von GPS-Steuerung selbst über viele hundert Kilometer Entfernung zielgenau treffen können. Gegen diesen massiven Beschuss kommt das ukrainische Luftabwehrsystem nicht vollständig an. Zudem plant Russland laut ukrainischer Armeeführung, ballistische Kurzstreckenraketen aus dem Iran zu importieren, um die Ukraine zu beschießen.[5] Die Reparatur des Stromnetzes hingegen ist schwierig und zeitaufwendig, die Herstellung von Ersatzteilen dauert oft monatelang. Trotz aller Bemühungen, die zerstörte Infrastruktur wieder instand zu setzen, und der Unterstützung zahlreicher EU-Staaten bei der Reparatur, droht das Stromnetz deshalb immer weiter außer Betrieb geschossen zu werden.[6]

Viele Menschen drohen zu erfrieren

Für die Zivilbevölkerung sind somit nicht nur die in vielen Städten fast täglichen Angriffe und ständigen Luftalarme zermürbend, sondern zunehmend auch deren Folgen: Immer häufigere Stromabschaltungen und damit auch der Ausfall der Wasserversorgung. Besonders alarmierend aber ist, dass auch die Heizsysteme bedroht sind, denn vor allem die großen Städte werden in weiten Teilen von Fernwärmekraftwerken versorgt, die ihrerseits auf eine Stromversorgung angewiesen sind.[7] Die Ukraine hat aufgrund ihres Kontinentalklimas nicht nur heiße Sommer, sondern auch sehr kalte Winter, in denen zweistellige Minusgrade nicht selten sind. Bei diesen Temperaturen drohen zahlreiche Menschen schlicht in ihren Wohnungen zu erfrieren, sollte die Heizung länger ausfallen. In Kiew werden daher bereits über tausend mit Generatoren ausgestatte Notunterkünfte eingerichtet, die gleichzeitig als Bombenbunker dienen, wie die „New York Times“ berichtet.[8] Zugleich bereitet sich die Stadt auch auf den schlimmsten Fall vor: Die vollständige Evakuierung der über drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner bei einem kompletten Zusammenbruch der Energieversorgung.

Doch die Zerstörung der zivilen Infrastruktur werde dazu führen, dass die derzeitige „humanitäre Antwort schnell wie nur ein Tropfen im Ozean aussehen wird“, befürchtet der UN-Flüchtlingsbeauftragte Filippo Grandi.[9] Damit droht die Angriffswelle eine bereits jetzt dramatische humanitäre Krise noch weiter zu verschärfen. Von den insgesamt etwa 44 Millionen ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern sind bereits 14 Millionen auf der Flucht, darunter etwa 7,7 Millionen, die in EU-Ländern Schutz gesucht haben.[10] Laut Igor Mitchik, der bis Ende September für humanitäre Hilfsorganisationen im westukrainischen Lwiw arbeitete, sind mittlerweile knapp 18 Millionen Menschen in der Ukraine in Not, und fünf der knapp sieben Millionen Binnengeflüchteten hätten ihre Arbeit verloren. Eine Million Menschen seien in Sammelunterkünften untergebracht; weitere 13 Millionen an „unsicheren Orten gestrandet“, die sie aufgrund der Sicherheitslage und zerstörter Infrastruktur nicht verlassen könnten.[11]

Zerstörte Städte und eine Wirtschaft vor dem Kollaps

Besonders dramatisch ist die Situation in den unmittelbar von Kampfhandlungen betroffenen Gebieten. Zwar haben die ukrainische Regierung und freiwillige Hilfsorganisationen in den vergangenen Monaten versucht, möglichst viele Menschen aus dem Kriegsgebiet zu evakuieren, doch nach wie vor verharren Millionen Menschen nahe der Front oder in Gebieten, die die ukrainische Armee nach den erfolgreichen Gegenoffensiven der vergangenen Monate zurückerobert hat. Sie leben dort oft in zerstörten Städten, und auch die allgemeine Versorgungslage ist schwierig: Viele Geschäfte sind leer, die Wasserversorgung ist vielerorts zusammengebrochen, Krankenhäuser sind zerstört oder beschädigt und von abziehenden russischen Truppen geplündert worden, wodurch es an Medikamenten und Hygieneartikeln fehlt. In der Stadt Isjum im Oblast Charkiw, die sechs Monate von Russland besetzt war, habe Human Rights Watch „zahlreiche Fälle von systematischer Folter durch Elektroschocks, Waterboarding und andere schwere Misshandlungen“ dokumentiert, schreibt Igor Mitchik. Tausende Zivilisten seien während der Besatzung getötet worden. Außerdem seien 80 Prozent der Infrastruktur zerstört, darunter das zentrale Heizsystem. Der Winter wird die Versorgung in solchen Gebieten noch schwieriger machen. Auch wer noch über Ersparnisse oder eine Arbeit verfügt, könnte im Winter auf humanitäre Hilfslieferungen angewiesen sein, um zu überleben. Selbst das Sammeln von Feuerholz ist oft lebensgefährlich, denn viele Wälder wurden vermint. Vor allem ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen oder gesundheitlichen Problemen konnten oder wollten ihre Heimatorte in der Nähe des Kriegsgebietes nicht verlassen. Oft sind es gerade die Verwundbarsten und Schwächsten, die nicht fliehen können, denen die materiellen oder psychischen Ressourcen fehlen: das Geld, das Auto, die Kraft, um die Flucht anzutreten – oder die Hoffnung, sich auch an einem anderen Ort ihr Leben einrichten zu können, eine Arbeit oder eine Wohnung zu finden.

Und gerade Letzteres ist durch den Krieg immer schwieriger geworden: Die meisten Binnenflüchtlinge sind in den Westen und Süden des Landes geflohen, wo infolgedessen in den ersten Kriegsmonaten die Mieten sprunghaft anstiegen. So sind der ukrainischen Sektion von Transparency International zufolge die Mieten in der Region Lwiw zwischen Oktober 2021 und Mai 2022 um 96 Prozent gestiegen, in Iwano-Frankiwsk um 128 Prozent und in der Oblast Uschhorod gar um 225 Prozent. Der Soziologin Alona Liasheva zufolge habe das dazu geführt, dass viele bisherige Mieter aus ihren Wohnungen verdrängt wurden. Die staatliche Wohnungspolitik aber habe bereits vor der russischen Invasion den Mietwohnungsmarkt ignoriert – es gebe kaum Sozialwohnungsprogramme und auch in der derzeitigen akuten Notlage keine staatlichen Regulierungsmaßnahmen, um Mietsteigerungen und Räumungen zu verhindern.[12]

Durch Zerstörungen und Flucht ist so in weiten Teilen der Ukraine eine Wohnungsknappheit entstanden, obwohl gleichzeitig Millionen Menschen das Land verlassen haben. Der Staat ist nicht in der Lage, auf diese Situation angemessen zu reagieren, schreibt auch die „Ekonomischna Prawda“, die Wirtschaftsseite der ukrainischen Onlinezeitung „Ukrajinska Prawda“.[13] Vorläufigen Schätzungen der Regierung zufolge leben 2,4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in zerstörten oder stark beschädigten Häusern, die tatsächliche Zahl könnte noch höher liegen. Allein bis Mitte Oktober verzeichnete die Regierung mindestens 160 000 beschädigte oder zerstörte Immobilien. Bereits im Frühjahr hatte sie deshalb den Plan gefasst, 32 000 Wohnungen bauen zu lassen und 21 400 Wohnungen aufzukaufen, um wohnungslose Menschen einquartieren zu können. 65,9 Mrd. Hrywnja (UAH), umgerechnet fast 1,8 Mrd. Euro, sollten dafür verwendet werden. „Doch gegen Ende des Sommers wurde klar, dass es keine ‚extra‘ 65,9 Mrd. UAH im Budget des kriegszerstörten Landes geben würde; das staatliche Budgetdefizit seit Anfang 2022 beträgt 600 Mrd. UAH“, so „Ekonomischna Prawda“. Das Wohnungsbau- und Ankaufsprogramm sei deshalb de facto nicht umgesetzt worden. Für Menschen, die in ihren Wohnungen Flüchtlinge aus den von der russischen Armee besetzten Gebieten unterbringen, konnte der Staat Hilfsleistungen in Höhe von 450 UAH (knapp über zwölf Euro) pro Monat und untergebrachter Person aufbringen – seit Oktober werden diese Hilfsleistungen für insgesamt 682 300 Menschen vom ukrainischen Roten Kreuz finanziert. Ein anderes staatliches Hilfsprogramm kommt vor allem wohlhabenderen Menschen zugute: Wer eine Anzahlung von 20 Prozent leisten kann, erhält vergünstigte Kredite zum Kauf einer Wohnung oder eines Hauses.

Doch dürften nur wenige Ukrainer, die vor dem Krieg geflohen sind, über solche Ersparnisse verfügen. Bereits vor der Invasion war die Ukraine mit einem Bruttosozialprodukt von knapp 4800 US-Dollar pro Kopf eines der ärmsten Länder Europas. Der Krieg hat überdies einen dramatischen Kollaps der Wirtschaftsleistung ausgelöst und bedroht Millionen Menschen in ihrer wirtschaftlichen Existenz. Die Inflation könnte dieses Jahr bis zu 30 Prozent erreichen, das Bruttosozialprodukt um ein Drittel schrumpfen. Fabriken sind zerstört oder stillgelegt, die Landwirtschaft besonders im Südosten vom Krieg beeinträchtigt, und die russische Seeblockade verhindert den Export über die Schwarzmeerhäfen, die nur noch für Nahrungsmittelexporte genutzt werden können.

Droht die Erschöpfung der ukrainischen Widerstandsbereitschaft?

All diese Umstände hätten bereits ohne die russischen Luftangriffe der vergangenen Wochen eine erneute große Flüchtlingsbewegung in Richtung EU wahrscheinlich gemacht. Die Angriffe auf die Energieversorgung der ukrainischen Bevölkerung – ein eindeutiges Kriegsverbrechen, ähnlich den brutalen Luftangriffen der russischen und syrischen Armeen auf zivile Ziele wie die Wasserversorgung oder Krankenhäuser in Syrien in den vergangenen Jahren – drohen jedoch die bereits zerrüttete ukrainische Wirtschaft weiter zu destabilisieren. Angesichts der für Russland schwierigen militärischen Lage und erfolgreicher ukrainischer Gegenoffensiven will Moskau mit den Luftangriffen Dominanz demonstrieren und die grundlegende Machtdifferenz zwischen beiden Ländern in Erinnerung rufen: Russland kann solche Angriffe in dem Wissen durchführen, dass die Ukraine zu ähnlichen Vergeltungsschlägen nicht in der Lage ist bzw. von den Nato-Ländern nicht die Erlaubnis und die dafür nötige Bewaffnung erhält. Vor allem aber soll die Zerstörung der Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung die Widerstandsbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung erschöpfen.

Die ukrainische Regierung versucht unterdessen, mit Durchhalteparolen dagegenzuhalten. In Kiew sind in den U-Bahn-Stationen Parolen wie „Gemeinsam zum Sieg“ und „Noch ein bisschen länger und es wird leichter werden“ zu sehen, berichtet etwa der „Guardian“.[14] Bereits Mitte September versuchte Präsident Selenskyj mit einer an Russland gerichteten Rede die Opferbereitschaft der Ukrainer zu demonstrieren: „Kälte, Hunger, Dunkelheit und Durst sind nicht so furchteinflößend und tödlich wie eure ‚Freundschaft und Brüderlichkeit‘. Aber die Geschichte wird alles an ihren Platz rücken, und wir werden Gas, Licht, Wasser und Essen haben – und zwar ohne euch.“[15] Tatsächlich zeigten selbst Umfragen zu Beginn des Herbstes noch, dass eine große Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer es ablehnt, die russische Herrschaft über eroberte Gebiete anzuerkennen, um so den Krieg zu beenden – wenn auch die Mehrheiten in den am schlimmsten vom Krieg betroffenen Gebieten im Osten des Landes am knappsten ausfielen. Doch ob diese Einstellungen auch den kommenden Winter überdauern werden, ist eine offene Frage.

Offen ist allerdings auch, ob Russland überhaupt bereit wäre, einen Waffenstillstand zu schließen, oder ob die Angriffe auf die Infrastruktur nicht vielmehr das Ziel verfolgen, die Ukraine insgesamt zur Kapitulation zu zwingen. Die Mobilmachung Hunderttausender neuer Soldaten zeigt, dass sich Russland auf einen längeren Krieg einstellt und auf Zeit spielen könnte. Die Zerstörung der Infrastruktur, die Seeblockaden und die fortgesetzte Invasion hätten somit den Zweck zu verhindern, dass sich die Ukraine stabilisiert. Wieder drängt sich der unheilvolle Vergleich mit Syrien auf, wo das von Russland und der Islamischen Republik Iran militärisch unterstützte Assad-Regime zwar nicht das gesamte Staatsgebiet erobern konnte, aber von den Regimegegnern auch nicht mehr bedroht werden kann. Gleichzeitig herrscht in den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens ein solches Elend, dass viele Menschen die Flucht aus dem Land oder sogar das Leben unter Assad bevorzugen, weil es in Syrien selbst keine bessere Alternative mehr gibt.

Und schließlich sollen die Angriffe auf die Infrastruktur auch Druck auf den Westen ausüben. Seit Beginn der Invasion stützen die westlichen Staaten die Ukraine monatlich mit mehreren Milliarden Euro an Krediten und Zuschüssen. Zwar wird mittlerweile auch über große Aufbauprogramme für die Zeit nach dem Krieg diskutiert; doch daran ist nur zu denken, wenn der Krieg tatsächlich vorbei ist.[16] So hat Russland ein Druckmittel in der Hand, um die Kosten auch für den Westen immer weiter in die Höhe zu treiben. Bereits jetzt üben die USA, wo vor allem beim rechten nationalistischen Flügel der republikanischen Partei die Rufe nach einer vollständigen Einstellung der Unterstützungsleistungen für die Ukraine lauter werden, Druck auf die EU aus, mehr Geld an die Ukraine zu überweisen.[17] Und genau darauf zielt erkennbar Russlands Kalkül: Ein von hohen Energiekosten und politischen Konflikten unter Druck gesetzter Westen könnte irgendwann bereit sein, Moskau Zugeständnisse zur Kontrolle der Ukraine zu machen. Dieser Winter wird damit nicht nur den geplagten Ukrainerinnen und Ukrainern eine Menge an Durchhaltevermögen abverlangen, sondern auch dem Westen.

[1] Dan Sabbagh and Isobel Koshiw, Ukraine faces ‚winter humanitarian crisis’ with energy grid on the brink, www.theguardian.com, 1.11.2022.

[2] Anna Blaustein, How Ukraine Unplugged from Russia and Joined Europe’s Power Grid with Unprecedented Speed, www.scientificamerican.com, 23.3.2022.

[4] Vgl. Michael Birnbaum, David L. Stern und Emily Rauhala, Russia’s methodical attacks exploit frailty of Ukrainian power system, www.washingtonpost.com, 25.10.2022.

[5] Russia Can Double Attacks with Iran’s Missiles Supply, www.kyivpost.com, 7.11.2022.

[6] Charlie Cooper, EU to help Ukraine fix energy infrastructure bombed by Russia, www.politico.eu, 1.11.2022.

[7] Vgl. Michael Birnbaum u.a., Russia’s methodical attacks, a.a.O.

[8] Marc Santora und Ben Hubbard, Kyiv Planning for Total Evacuation if It Loses Electricity, www.nytimes.com, 5.11.2022.

[9] UN refugee chief calls for greater focus on climate and conflict factors, www.news.un.org, 2.11.2022.

[11] Der nahende Winter und gezielte russische Angriffe auf die kritische Infrastruktur verschärfen die humanitäre Krise in der Ukraine, www.laender-analysen.de, 3.11.2022.

[12]  Vgl. Alona Liasheva, Wohnraum und Krieg in der Ukraine, www.laender-analysen.de, 13.7.2022.

[13] 2,4 мільйона українців втратили домівки за час війни. Що з обіцяним житлом від держави?, www.epravda.com.ua, 7.11.2022.

[14]  Isobel Koshiw, Ukraine’s motivational messaging maintains morale as winter bites, www.theguardian.com, 6.11.2022.

[15]  ‚Without gas or without you? Without you’: Zelensky’s words for Russia as Ukraine sweeps through northeast, https://edition.cnn.com, 12.9.2022.

[16] Vgl. dazu Anna Jikhareva, Grün, digital, neoliberal: Die Ukraine als Versuchslabor, in: „Blätter“, 9/2022, S. 99-104.

[17] US Eyes Regular Aid Payments to Ukraine, Pushes EU to Do More, www.bloomberg.com, 2.10.2022.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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