
Bild: Marine Le Pen in ihrem Büro in der französischen Nationalversammlung in Paris, 8.6.2023 (IMAGO / ABACAPRESS / Raphael Lafargue)
Damit hatten die Rechtsextremen selbst nicht gerechnet: Als die kleine Delegation des Rassemblement National (RN) am 9. Oktober beim „Solidaritätsmarsch mit Israel“ im Zentrum von Paris auftauchte, wurde sie vergleichsweise freundlich empfangen. Nach den bestialischen Morden an über tausend israelischen Zivilisten durch die Hamas hatte der Crif, der Dachverband der jüdischen Organisationen in Frankreich, zu einer Demonstration aufgerufen, der sich neben Zehntausenden Bürgerinnen und Bürgern auch die Vertreter nahezu aller politischen Parteien anschlossen. Und mittendrin liefen ausgerechnet die Vertreter einer Partei, die einst von Jean-Marie Le Pen gegründet wurde, einem verurteilten Holocaustleugner. Seine Tochter, die heutige Parteichefin Marine Le Pen, war der Demonstration vorsichtshalber fern geblieben, begegnete ihr die jüdische Gemeinde doch aus gutem Grund lange ablehnend.[1] Umso deutlicher wurde an jenem Abend: Le Pen ist mit ihrer Strategie der „Entdämonisierung“ des RN weit gekommen.
Schon zuvor galt ein Sieg der Rechtsextremen bei den Europawahlen im kommenden Juni über die französischen Mitbewerber als wahrscheinlich. 2019 war die Partei mit rund 23 Prozent bereits auf dem ersten Platz gelandet, nun will sie den europäischen Urnengang zu einer nationalen Abrechnung mit dem unpopulären Präsidenten Emmanuel Macron umfunktionieren. Auch in den Umfragen zur Präsidentschaftswahl – die allerdings erst 2027 stattfinden wird – führt Le Pen seit einiger Zeit deutlich. Um diesen Zuspruch nicht zu gefährden, hat Le Pen ihren Abgeordneten in der Nationalversammlung einen Benimmkodex auferlegt. Krawattenpflicht für die Männer soll helfen, die Fraktion – mit 87 Mitgliedern auf Rekordgröße – bürgerlich erscheinen zu lassen.
Auf diesem Weg zur Normalisierung markierte die „mehrheitlich akzeptierte“ Teilnahme der RN-Politiker an einem Protest der Crif einen „historischen Wendepunkt“, so Jean-Yves Camus, einer der führenden Rechtsextremismus-Experten des Landes und selbst gläubiger Jude. Offenbar wiege für viele Jüdinnen und Juden die antisemitische Tradition der Partei mittlerweile weniger schwer als die Furcht vor dem islamistischen Terror in Frankreich und im Nahen Osten. Mehr noch: Man könne als Jude nicht sagen, dass „der RN eine größere Gefahr darstelle als jene, die sich weigern, die Handlungen der Hamas zu verurteilen“.[2] Damit bezog sich Camus auf die einzige in der Nationalversammlung vertretene Partei, die es nicht schaffte, den Terror beim Namen zu nennen: La France Insoumise (LFI) um den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon.
Das verweist auf das eigentliche Problem: Le Pens Stärke resultiert trotz ihrer inzwischen beträchtlichen Stammwählerschaft ganz wesentlich aus der Schwäche der demokratischen Kräfte – oder aus ihrem politischen Versagen.
Das gilt allen voran für das eilig vor der Parlamentswahl im vergangenen Juni gegründete Linksbündnis Nupes. Es sollte die stark zersplitterte Linke einen und damit Le Pen den Einzug in die Stichwahl streitig machen. Zwar trug die Nupes von Beginn an stark die Züge eines Zweckbündnisses, war Streit an der Tagesordnung und schien selbst ein gemeinsamer Antritt zur Europawahl undenkbar, aber jetzt hat sich in der Linken ein wohl unüberwindlicher Graben aufgetan.
Grund ist die Haltung der LFI, der stärksten Kraft im Bündnis, zum Nahostkonflikt. Eine „bewaffnete Offensive palästinensischer Kräfte unter Führung der Hamas“ nannte die LFI-Gruppe in der Nationalversammlung grob verharmlosend die Angriffe auf israelische Zivilisten in Städten oder Kibbuzim und das Massaker bei einem Rave. Sie verwies dabei auf „einen Kontext der Intensivierung der israelischen Besatzungspolitik in Gaza, im Westjordanland und in Ost-Jerusalem“. Als „Terrororganisation“ wollten die Linkspopulisten die Hamas nicht bezeichnen, das stelle sie auf eine Stufe mit dem IS und legitimiere die rechte israelische Regierung. Hingegen verurteilten Sozialisten, Grüne und Kommunisten den Terror der Hamas unmissverständlich. Der Sozialist Jérôme Guedj, der zuvor eng mit den Linkspopulisten kooperiert hatte, nannte die LFI sogar „nützliche Idioten der Hamas-Terroristen“, er empfinde „Ekel“ angesichts ihrer Position.[3] Einen Schritt weiter gingen kurz darauf die Kommunisten: Sie erklärten die Nupes zur „Sackgasse“.
Einmal mehr wird deutlich: Bei der Außenpolitik trennen sich auf der Linken die Wege, was sich auch an den kaum zu vereinbarenden Haltungen zur EU und zum Ukrainekrieg zeigt. Mit ihren antizionistischen Einlassungen hat die LFI die erneute Spaltung nun wohl besiegelt. Das heißt aber auch: Wahrscheinlich wird die Stichwahl ums Präsidentenamt 2027 erneut ohne linke Beteiligung stattfinden.
Radikalisierte Konservative
So dürfte es kaum zu verhindern sein, dass Le Pen zum dritten Mal in Folge in das entscheidende Duell um den Élysée-Palast einzieht. Umso wichtiger ist es, dass sie die Stichwahl nicht gewinnt. Dies zu verhindern, fällt angesichts der zersplitterten Linken unweigerlich der republikanischen Rechten zu, wie man das liberalkonservative Mitte-rechts-Spektrum in Frankreich nennt. Bildet sich hier kein stabiler Pol, der politisch integrierend wirkt, könnte das bislang Undenkbare geschehen und Frankreich erstmals ein rechtsextremes Staatsoberhaupt bekommen.
Damit lastet eine enorme Verantwortung auf der republikanischen Rechten. Doch ausgerechnet die politischen Erben Charles de Gaulles – nicht zuletzt eine Gallionsfigur des bürgerlich-katholischen Antifaschismus – sind in einem beklagenswerten Zustand: Die konservativen Les Républicains (LR), lange die stärkste demokratische Rechtspartei Frankreichs, drohen auf den Status einer Kleinpartei im einstelligen Bereich abzurutschen. Bei der Präsidentschaftswahl blieb ihre Kandidatin knapp unter fünf Prozent, auch in den Umfragen zur Europawahl rangiert sie unter zehn Prozent. Trotz ihrer Verankerung in den Regionen könnte sie auf nationaler Ebene bedeutungslos werden.
LR stehen vor einem Problem, das auf der linken Seite schon die Sozialisten zur Verzweiflung gebracht hat. Auch sie haben liberale Wähler – und zudem wichtige Führungspersonen – an Macrons Partei verloren. In vielen Fragen, insbesondere in der Wirtschaftspolitik, gelingt es ihnen nicht, eine grundsätzliche Differenz zum Präsidenten deutlich zu machen. Ein Teil ihrer Anhänger ist zudem schon länger für die extreme Rechte ansprechbar. Nun versuchen LR, mit einem scharfen Rechtskurs wieder Boden gutzumachen. Ihr Vorsitzender Éric Ciotti vertritt beispielsweise ganz offen die Theorie vom „großen Austausch“ – und damit eine klar rechtsradikale Verschwörungserzählung.
Schon der Ausgang der Europawahl dürfte aber das Scheitern dieser Strategie offenbaren: Wer eine Partei wählen will, die mit raunenden Untergangsfantasien auf die Migration nach Europa reagiert, ist mit dem RN besser bedient. Les Républicains werden so vor allem helfen, rechte Diskurse weiter zu entdämonisieren.
Aus dem Schatten Macrons
Die Aufgabe, das demokratische Spektrum rechts der Mitte zu einen, fällt damit zunehmend dem Macron-Lager zu. Der Präsident ist spätestens nach seiner Rentenreform in weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt, wenn nicht gar verhasst, darf aber nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit ohnehin nicht erneut kandidieren. Das ist einerseits ein Risiko, weil seine Partei Renaissance und die mit ihr verbündeten Kräfte in der Fläche des Landes nur schwach verankert sind und stark an seiner Person hängen. Andererseits bietet sich möglichen Nachfolgern nun die Chance, aus Macrons Schatten zu treten und stärker politisch zu integrieren, als der Präsident es noch vermag. Die Repräsentationslücke, die der irrlichternde Kurs von LR aufmacht, bietet dazu beste Voraussetzungen. Damit ändern sich aber die politischen Vorzeichen: Wollte Macron 2017 noch eine progressive Bewegung jenseits von Links und Rechts etablieren, so dürfte sein Lager jetzt eher den Platz der demokratischen Rechten besetzen.
Das zeigt sich auch im Kampf um die Nachfolge Macrons, der seit dem Ende der politischen Sommerpause im September voll entbrannt ist: Mehrere aussichtsreiche Bewerber haben ihre Karriere einst bei Les Républicains begonnen. Unter ihnen werden Édouard Philippe die größten Chancen eingeräumt. Er erwarb sich als Premier während der Coronapandemie große Popularität als unermüdlicher Krisenmanager, obwohl seine Regierung deutlich strengere Lockdowns verhängte als in der Bundesrepublik. Als einer der wenigen Vertreter des Macron-Lagers kann er auch bei Kommunalwahlen punkten und wurde 2020 zum Bürgermeister von Le Havre gewählt. Philippe hat inzwischen eine eigene Partei gegründet und wirkt mit seinem liberal-konservativen Profil weit über sein Lager hinaus.
Im September wagte er sich sogar auf das traditionelle Fest der kommunistischen Tageszeitung „L‘Humanité“, wo er – trotz Pfiffen aus dem Publikum für seine Unterstützung der Rentenreform – freundschaftlich mit KP-Chef Fabien Roussel debattierte. Philippe hielt bei der Gelegenheit ein Prinzip hoch, das unter Frankreichs Demokraten zu erodieren droht: die republikanische Front gegen den RN. Bei Stichwahlen zwischen Kommunisten und Rechtextremen auf kommunaler Ebene habe er stets erklärt, dass man Le Pens Kandidaten schlagen müsse – und damit indirekt die KP unterstützt.[4] Sollte Philippe innerhalb des Macron-Lagers das Rennen machen, wäre er nicht nur für die Anhänger des Präsidenten, sondern auch für moderate Konservative die naheliegende Wahl – und in einem Stechen wohl für genügend Linke akzeptabel, um Le Pen schlagen zu können.
Ganz anders verhält es sich mit einem anderen Anwärter: Gérald Darmanin, im Macron-Lager ein Rechtsaußen, aber dennoch nah am Präsidenten. Er genießt die Unterstützung des rechtskonservativen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy, der trotz Korruptionsprozessen bei den LR-Anhängern weiterhin sehr beliebt ist. Darmanin ist zugleich ein Symbol dafür, wie die Regierung unfreiwillig Le Pen stärkt, indem sie autoritäre Maßnahmen normalisiert: Er verantwortet als Innenminister das zunehmend brutale Auftreten der Polizei. Schon während der Proteste der Gelbwesten und bei den jüngsten Gewerkschaftsdemos gegen die Rentenreform waren Klagen über ein unverhältnismäßiges Vorgehen der Sicherheitskräfte laut geworden; Dutzende Demonstranten verloren ihr Augenlicht, weil Polizisten Gummigeschosse auf Kopfhöhe abfeuerten. In den vergangenen Monaten hat die Debatte jedoch einen neuen Höhepunkt erreicht, nachdem in Paris der 17-jährige Pizzabote Nahel Merzouk bei einer Fahrzeugkontrolle von der Polizei erschossen wurde. An Darmanin prallt die Kritik jedoch weitgehend ab – und Macron stützt seinen Innenminister.
Linke Kritiker erkennen darin ein Muster: Das repressive Auftreten der Polizei passe zu einem Präsidenten, der seine Vorhaben oft kompromisslos verfolgt. So setzte Macron die Rentenreform mit Hilfe des berüchtigten Paragrafen 49.3 am Parlament vorbei durch, im Wissen, dass er dort ebenso wenig eine Mehrheit gefunden hätte wie in der Bevölkerung. Manche sehen angesichts dessen einen autoritären Neoliberalismus am Werk, dessen eine Spielart Macron verkörpere – und die andere Le Pen. Diese These ist zwar analytisch dürftig, weil es einen Unterschied gibt zwischen einem Demokraten, der zu autoritären Maßnahmen greift und einer Autoritären, die nur so lange demokratisch agiert, wie sie muss. Aber angesichts der Empörung über Macrons elitären Stil könnte sich das Bild verfestigen, dass der Präsident auch nicht viel besser sei als die Rechtsextreme. Gegen dieses Zerrbild wird jeder Kandidat aus dem Macron-Lager ankämpfen müssen.
Le Pen wiederum verhielt sich während der Rentendebatte sehr geschickt: Sie sprach sich zwar gegen die Reform aus, rief aber nicht zu den Demonstrationen auf. Damit signalisierte sie zweierlei: Sie höre die berechtigten Klagen der Bevölkerung über den entrückten Präsidenten, habe aber nichts mit den teils militanten Protesten zu tun. So konnte sie soziale Opposition spielen, ohne die ihr nahestehenden Polizeigewerkschaften zu verärgern, und obendrein vermeiden, mit der Gewalt assoziiert zu werden, die viele Franzosen beunruhigt hat. Ihr Auftreten in dieser Zeit war beinahe präsidial: näher am Volk als Macron und dabei Sicherheit und Ordnung betonend.
Rechter Familienzwist
Hoffen darf das demokratische Spektrum allerdings auf unfreiwillige Schützenhilfe aus dem rechtsextremen Lager: Der Ultrarechte Éric Zemmour[5] könnte Le Pen bei der Europawahl wichtige Punkte rauben. Seine Partei Reconquête! schickt ausgerechnet Le Pens Nichte Marion Maréchal ins Rennen. Die einstige Nachwuchshoffnung des RN setzt sich seit ihrem Parteiaustritt vor sechs Jahren programmatisch von ihrer Tante ab. Sie bedient zwar ebenso die identitäre Ideologie wie der RN, die sich im Kampf gegen Einwanderung kristallisiert, ist aber anders als Le Pen ultraliberal und polemisiert gegen Bürokratie und Steuern. Damit zielt sie aufs konservative Milieu, das mit dem national-sozialen Kurs Le Pens nichts anfangen kann.[6]
Erringt Maréchal mindestens einen Achtungserfolg, erwächst Le Pen eine ernst zu nehmende Konkurrenz im eigenen Lager. Dann wäre die strategisch fruchtlose Spaltung nicht mehr allein der Linken vorbehalten – in diesem Fall allerdings zum Wohle der französischen Demokratie.
[1] Paul Laubacher, Israël: le RN présent à une manifestation du Crif, dernier acte d‘une longue dédiabolisation, lefigaro.fr, 10.10.2023.
[2] „La présence du RN dans un cortège du Crif est un tournant”, Interview mit Jean-Yves Camus, nouvelobs.com, 12.10.2023.
[3] Rémy Dodet, Israël, Hamas, terrorisme. Comment les insoumis ont mis le feu à la Nupes, nouvelobs.com, 11.10.2023.
[4] Maël Thierry, Fabien Roussel face à Edouard Philippe: „En 2027, il y aura deux projets“, nouvelobs.com, 17.9.2023.
[5] Steffen Vogel, Éric Zemmour: Der Rechtsradikale als Königsmacher, in: „Blätter“, 12/2021, S. 29-32.
[6] Anthony Lattier, Maréchal drague les LR, Le Pen cible Macron, politico.eu, 10.9.2023.