
Bild: Eric Zemmour während einer Lesung in Versailles, 19.10.2021 (IMAGO / IP3press)
Soll Frankreich die Todesstrafe wieder einführen? Sollen „nicht-französische“ Vornamen verboten werden? Bislang haben solche Fragen jenseits des Rheins nur wenige Gemüter bewegt – bis Éric Zemmour sie auf die Agenda hievte. Seit Wochen kokettiert der rechtsradikale Journalist mit einer Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl im kommenden April und hat damit in Frankreich für erhebliche Unruhe gesorgt. Mehr noch: Allein sein möglicher Wechsel auf die politische Bühne hat gereicht, um die Machtverhältnisse im aktuellen Vorwahlkampf gründlich durcheinander zu wirbeln.
Zemmour ist eine Medienfigur par excellence. Bis vor kurzem hatte er seine eigene Talkshow auf „CNews“, dem französischen Pendant zu „Fox News“, seine Bücher sind Bestseller. Seine Tiraden haben ihm mehrere Verurteilungen wegen „Aufrufs zu rassistischer Diskriminierung“ eingebracht.[1] Zemmour hetzt gegen Muslime und Einwanderer, vertritt die neu-rechte Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ und verharmlost das Vichy-Regime, das während der deutschen Besatzung mit den Nazis kollaboriert hatte.
Dabei behauptet er, wie es bürgerlich erscheinen wollende Ultrarechte oft tun, er vertrete politisch den Konservatismus der 1990er Jahre. Treffender dürfte in diesem Fall jedoch ausnahmsweise die Einschätzung von Jean-Marie Le Pen sein, der Zemmour in einem Interview kürzlich über den grünen Klee lobte: „Er sagt, was ich denke.“ Der Gründer des rechtsradikalen Rassemblement National (RN), vormals Front National, fügte hinzu: „Der einzige Unterschied zwischen Éric und mir besteht darin, dass er Jude ist.“ Deswegen sei es schwierig, ihn als „Nazi oder Faschisten“ abzuqualifizieren.[2] Um die Doppelbödigkeit dieser Aussage zu verstehen, muss man wissen, dass Le Pen wiederholt wegen Holocaustleugnung verurteilt wurde.[3]
Das hindert ihn aber nicht daran, bei der Präsidentschaftswahl Zemmour – der unabhängig vom RN antreten würde – den Vorzug vor seiner Tochter Marine zu geben, sollte dieser bessere Aussichten haben. Dabei sah die RN-Chefin lange wie die stärkste Rivalin von Amtsinhaber Emmanuel Macron aus. Nun aber hat sie ein Problem. Denn ihr greiser Vater steht mit seinen Präferenzen unter den französischen Rechtsradikalen keineswegs alleine da.
Damit ist ausgerechnet Zemmour schon jetzt etwas gelungen, woran sich demokratische Politiker aller Couleur seit Jahren die Zähne ausbeißen: Er hat Marine Le Pen empfindlich geschwächt. Der enorme Zuspruch, den er in den vergangenen Wochen erfahren hat, zeigt überdeutlich, wie sehr die rechtsradikalen Stammwähler mit der von Marine Le Pen ausgerufenen „Entdämonisierung“ des RN fremdeln. Sie ziehen Zemmours brutale Ansprache und seinen ungeschminkten Rassismus vor. Selbst wenn dieser nun doch nicht antreten sollte, ginge Le Pen also geschwächt in den Wahlkampf. Kandidiert er aber, nähmen sich die beiden Rechtsaußen gegenseitig Stimmen weg. Derzeit pendeln beide in den Umfragen bei jeweils um die 15 Prozent, was im ersten Wahlgang nur noch sehr knapp für den entscheidenden zweiten Platz hinter Macron reichen würde, den Le Pen lange sicher zu haben glaubte.[4]
Das eröffnet eine Perspektive, die noch vor Monaten undenkbar schien: eine Stichwahl zwischen zwei demokratischen Kandidaten. Frankreichs längst totgesagte ehemalige Volksparteien könnten bei einer Kandidatur Zemmours schon mit einem Ergebnis von deutlich unter 20 Prozent den Einzug in die zweite Runde schaffen. Damit würden sie aber keinen Erfolg aus eigener Stärke erzielen. Zemmour wäre ihr Königsmacher wider Willen.
Totgesagte leben länger
Die besten Aussichten auf das Stechen gegen Macron haben derzeit die konservativen Les Républicaines. Lange hatte der Partei der Sturz in die Bedeutungslosigkeit gedroht, dann sorgten gute Ergebnisse bei den Regionalwahlen im Juni für neues Selbstbewusstsein. Es ist also kein Zufall, dass sich gerade die im Amt bestätigten konservativen Regionalpräsidenten derzeit große Hoffnungen auf eine Präsidentschaftskandidatur machen können. Ein Wahlerfolg der Konservativen setzt allerdings voraus, dass sie sich auf ihrem Parteitag am 4. Dezember für einen populären Kandidaten entscheiden. Und das ist keineswegs sicher.
Der laut Umfragen aussichtsreichste Bewerber im konservativen Feld ist mit um die 13 Prozent derzeit Xavier Bertrand. Sollte er es ins Stechen schaffen, wird ihm sogar ein Wahlsieg gegen Macron zugetraut. Bertrand gelang es im Juni, die deindustrialisierte Region Hauts-de-France im Norden des Landes erfolgreich gegen den dort starken RN zu verteidigen. Anders als viele französische Spitzenpolitiker hat er nie eine Eliteschule besucht, vor seiner politischen Karriere arbeitete er als Versicherungsvertreter. Er gibt sich betont sozial und bekundet sogar Verständnis für die Gelbwesten-Bewegung. Zugleich ist er europakritisch und verspricht ein Referendum über Einwanderungsfragen, um so unter anderem ein Ende des Familiennachzugs durchzusetzen. Allerdings hat er durch seinen selbstherrlichen Kurs viele Parteimitglieder gegen sich aufgebracht. So verhinderte er im Alleingang die geplanten offenen Vorwahlen der Konservativen, indem er unverblümt erklärte, er werde an diesen nicht teilnehmen und gegebenenfalls gegen den offiziellen Bewerber der Partei antreten.
Genau umgekehrt ist die Ausgangslage für Michel Barnier: Der ehemalige Brexit-Chefunterhändler der EU ist in der Partei beliebt, bei ihren Wählern aber weniger. Er steht vor dem Problem, dass er politisch Macron allzu ähnlich ist: Beide sind liberal-konservative Pro-Europäer. Warum sollten sich die Wähler jedoch für einen älteren Bewerber entscheiden, der sich vom jungen Amtsinhaber nicht allzu sehr unterscheidet? Barnier versucht diese Frage zu beantworten, indem er – der zunehmend rechten Linie seiner Partei folgend – auf einen harten Kurs gegenüber Migranten setzt. So fordert er ein mehrjähriges Einwanderungsmoratorium und will dafür sogar auf Konfrontationskurs mit der EU gehen, sollte das Europarecht diesem Vorhaben im Wege stehen. Laut Umfragen sind seine Aussichten auf die zweite Runde äußerst bescheiden.
Das gilt ebenso für eine dritte Kandidatin im konservativen Bewerberfeld: Valérie Pécresse, Präsidentin der Hauptstadtregion Île-de-France und ebenso wie Bertrand ehemals Ministerin unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Auch sie ist einwanderungsfeindlich, anders als ihre männlichen Mitbewerber zudem offen neoliberal. Im öffentlichen Dienst will sie 150 000 Stellen streichen, was gerade angesichts des wirtschaftlichen Einbruchs während der Corona-Pandemie keine besonders populäre Forderung ist.
Für Les Républicaines geht es am 4. Dezember aber um weit mehr als um eine Präsidentschaftswahl. Denn die Rhetorik Zemmours verfängt zunehmend auch in bürgerlichen Kreisen, und die Partei ist schon jetzt stark nach rechts gerückt, gerade in Migrationsfragen. Jüngst sah sich daher der konservative Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, zu einer Mahnung ans eigene Lager genötigt: „Zemmour ist die Macht des Hasses, ein Hass, der zur Macht werden will.“ Angesichts dessen dürften es Gaullisten, gerade angesichts ihrer antifaschistischen Tradition, nicht bei bloßen Distanzierungen bewenden lassen, sondern müssten Zemmour „mit aller Kraft bekämpfen“.[5] Doch bei vielen sind die Dämme, die Estrosi halten möchte, längst gebrochen: Knapp die Hälfte der konservativen Wähler befürwortet inzwischen gar eine Regierungskoalition mit der radikalen Rechten.[6] An der Kandidatenwahl hängt daher nicht nur, ob die langjährige Präsidentenpartei zum zweiten Mal in Folge die Stichwahl zu verpassen droht oder neu erstarken kann. Sondern am Abschneiden der Partei entscheidet sich letztlich auch, ob es in Frankreich weiterhin eine starke republikanische Rechte geben wird – oder ob die Ultrarechten im bürgerlichen Lager weiter an Terrain gewinnen können.
Die chancenlosen Sieben
Während die Konservativen immerhin noch eine Chance aufs Präsidentenamt haben, kann die völlig zersplitterte französische Linke davon momentan nur träumen. Nur zwei Kandidaten aus dem linken Bewerberfeld dürfen derzeit überhaupt hoffen, wenigstens ein Ergebnis von über zehn Prozent zu erzielen: der Grüne Yannick Jadot und der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon. Mit ihnen konkurrieren zwei Sozialisten, ein Kommunist und zwei Trotzkisten um die Stimmen der linken Wählerschaft. Dabei ist es noch das geringste Problem, dass Mélenchon sich einer gemeinsamen linken Kandidatur prinzipiell verweigert. Viele seiner Wähler sind für einen gemäßigten Kandidaten ohnehin kaum zu erreichen, da sie den radikalen Bruch mit dem Status quo wollen.
Auch ohne diese Stimmen könnte es ein gemeinsamer Kandidat von Sozialisten, Grünen und Kommunisten in die zweite Runde schaffen, sofern die beteiligten Parteien die Weisheit besäßen, sich hinter einer populären Persönlichkeit zu versammeln. Im Sommer schien das kurzzeitig in Reichweite, als sich Christiane Taubira, die ehemalige Justizministerin unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande, ins Spiel brachte. Sie wäre eine starke Kandidatin gewesen: eine streitbare Grande Dame, ökonomisch links und gleichzeitig als schwarze Frau wie als Urheberin der Ehe für alle weit ins liberale Lager ausstrahlend. Sie stellte allerdings die nachvollziehbare Bedingung, nicht als achte linke Kandidatin ins Rennen zu gehen – vergebens. Taubira begrub ihre Ambitionen wieder.
Unter den sieben linken Bewerbern verfügt Jadot über das größte Potential. Der grüne Europaabgeordnete inszeniert sich als französischer Robert Habeck und spricht bewusst bürgerliche Wähler an. Damit rangiert er derzeit vor der sozialistischen Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, der trotz ihrer Herkunft als Tochter spanischer Gastarbeiter der Makel der Hauptstädterin anhaftet und die unter dem desolaten Bild ihrer Partei leidet. In Paris ist sie mit ökologischer Verkehrspolitik populär geworden, das Präsidentenamt dürfte ihr aber verwehrt bleiben.
Eine Einigung zwischen beiden ist auch deswegen kaum vorstellbar, weil es dabei nicht zuletzt um die Führungsrolle im linken Lager geht. Jadot hat bereits vor fünf Jahren zugunsten eines sozialistischen Bewerbers zurückgezogen, der dann desaströse sechs Prozent einfuhr. Noch einmal wird er diesen Fehler nicht begehen. Für die Sozialisten wiederum kommt ein Rückzug Hidalgos kaum in Frage, da sie damit endgültig ihren Anspruch begraben müssten, eine landesweit relevante politische Kraft zu sein. Sollte ihre Kandidatin erneut ein einstelliges Ergebnis erzielen, droht ihnen dieses Schicksal jedoch ohnehin.
Sofern nicht doch noch mehrere Kandidaten ihre Bewerbung zurückziehen, wird die Linke für den Ausgang dieser Wahl keine Rolle spielen. Viele linke Wähler erwägen daher nun, lieber gleich für einen Kandidaten zu stimmen, den sie zwar für neoliberal halten, der aber immerhin ein sicheres Bollwerk gegen die antidemokratische Rechte ist – Emmanuel Macron.[7]
Den Präsidenten plagen derweil andere Sorgen. Während sein Einzug in die Stichwahl ungefährdet ist und von der Unzahl an Bewerbern einzig Xavier Bertrand eine Gefahr darstellt, bietet seine Partei ein desolates Bild. Auch fünf Jahre nach dem Wahlsieg von 2017 ist La République en Marche wenig mehr als ein Präsidentenwahlverein mit schwacher lokaler Verankerung. Macrons eigentliches Problem ist daher die Parlamentswahl im kommenden Juni, bei der er die Mehrheit zu verfehlen droht. Das würde ihn zur Cohabitation mit dem Premierminister einer anderen Partei zwingen, wahrscheinlich einem Konservativen. Zuletzt gab es das Mitte der 1990er Jahre, als der konservative Präsident Jacques Chirac mit ansehen musste, wie der sozialistische Premierminister Lionel Jospin mit seiner rot-rot-grünen Koalition die 35-Stunden-Woche einführte. Nun könnte Macron gezwungen sein, entweder ein Bündnis mit den Konservativen einzugehen oder sich von Fall zu Fall neue Mehrheiten zu suchen.[8]
Wenn im kommenden Jahr also tatsächlich Macrons Liberale und die Konservativen auf die eine oder andere Weise die Macht unter sich aufteilen, so wird Éric Zemmour – gewiss unabsichtlich – seinen Teil dazu beigetragen haben. Doch auch wenn er die Chancen von Marine Le Pen schmälert und selbst zu sehr polarisiert, um im Stechen bestehen zu können, verheißt sein Auftreten nichts Gutes. Denn sein rasanter Aufstieg zeigt, welches Stimmenpotential im rechtsradikalen Lager versammelt ist: Über ein Drittel der Wähler würde sich derzeit für einen der ultrarechten Kandidaten entscheiden – das ist mehr als alle linken Bewerber zusammen auf sich vereinen können.
Obendrein wird die unbändige Hetze Zemmours unweigerlich die Debatten der kommenden Monate bestimmen. Frankreichs radikale Rechte wird den Kampf um den Präsidentenpalast erneut verlieren, den Kampf um die Köpfe aber führt sie weiter mit voller Wucht.
[1] Mahaut Landaz, Toutes ces fois où Zemmour a été aux prises avec la justice. www.nouvelobs.com, 28.9.2021.
[2] Vgl. Jean-Marie Le Pen soutiendra Éric Zemmour à la présidentielle, s’il est „mieux placé“ que Marine Le Pen, www.lemonde.fr, 2.10.2021.
[3] Der Philosoph Bernard-Henri Lévy erinnerte demgegenüber daran, dass Zemmours Eltern – wie seine eigenen – als Juden vom Vichy-Regime ihrer Staatsbürgerschaft beraubt wurden. Trotzdem trete Zemmour nun „alles mit Füßen, was mit dem idealistischen jüdischen Erbe in Frankreich zu tun hat“. Vgl. ders., Da zieht eine Katastrophe herauf, in: „Süddeutsche Zeitung“, 18.10.2021.
[4] Steffen Vogel, Macron: Konservativ aus der Krise?, in: „Blätter“, 5/2021, S. 13-16.
[5] Christian Estrosi, Éric Zemmour, une injure au gaullisme, www.lejdd.fr, 23.10.2021.
[6] Bruno Jeanbart und Xavier Dupuy, Souhait d’alliance LR, RN, Zemmour: le sondage exclusif qui pourrait ébranler la droite, www.atlantico.fr, 8.11.2021.
[7] Adelaïde Zulfikarpasic, Présidentielle 2022. À gauche, la tentation du vote utile, www.jean-jaures.org, 28.10.2021.
[8] Michel Wieviorka, 2022 et l’hypothèse d’une cohabitation, www.ouest-france.fr, 3.8.2021.