Die faschistische Bedrohung und die Aufgabe der US-Demokraten

Bild: Joe Biden in Blue Bell, Pennsylvania, 5.1.2024 (IMAGO / ZUMA Wire / Ricky Fitchett) und Donald Trump in Kissimmee, Florida, 4.11.2023 (IMAGO / SOPA Images / Kyle Mazza). Montage: Blätter für deutsche und internationale Politik
Endlich ist Wahljahr, und wenn Sie vor gespannter Erwartung fast krank sind, gibt es dafür gute Gründe. Es wird mit großem Abstand die hässlichste Wahl unseres Lebens werden – schmutzig, korrupt und unehrlich, weit jenseits dessen, was sich anständige Menschen heute vorstellen können. Jede Woche – und bald schon jeden Tag und am Ende dann fast jede Stunde – wird es eine Entwicklung, eine Aktion oder eine Aussage von Donald Trump oder einem seiner Unterstützer geben, die Millionen von uns, die sich um das Leben unserer Demokratie sorgen, in tiefste Verzweiflung stürzen wird.
Joe Biden und die Demokraten stehen vor einer Aufgabe, der sich kein Wahlkampfteam eines amerikanischen Präsidenten jemals stellen musste. Die heutigen Demokraten – als Angehörige der Demokratischen Partei, aber genauer gesagt: als Vertreter aller Demokraten, die an die grundlegenden Prinzipien der amerikanischen republikanischen Demokratie glauben – sind die ersten Kandidaten in den USA, die gegen offen faschistische Konkurrenten antreten müssen. Manche werden diese Zuschreibung für Trump und seine MAGA-Bewegung zurückweisen.[1] Aber viele von uns haben genug gehört: Trumps Ankündigung, er werde das „Ungeziefer“ beseitigen, und die aus seinem Lager durchsickernden Pläne, während einer zweiten Amtszeit die Bundesregierung als Waffe gegen seine Feinde einzusetzen, rechtfertigen diese Definition mehr als genug. Die meisten von uns haben niemals damit gerechnet, dass es so weit kommt. Aber es ist so gekommen.
Das treibende Element des Trumpschen Wahlkampfs wird Chaos sein. Die Geschichte zeigt uns, was Faschisten tun, wenn sie die Gelegenheit bekommen, an demokratischen Wahlkämpfen teilzunehmen: Sie schaffen Chaos. Das tun sie, weil Chaos ihnen Vorteile verschafft. Sie sehen, wie sehr Chaos demokratische Republikaner verstört – also jeden, ob linksliberal oder konservativ, der an die grundlegende Idee einer auf neutralen Regeln aufbauenden repräsentativen Regierung glaubt. Der Faschismus existiert, um diese neutralen Regeln zu zermalmen. Tatsächlich behaupten Faschisten, dass die republikanisch-demokratischen Regeln überhaupt nicht neutral, sondern allesamt manipuliert seien – und zwar gegen sie als Bewahrer einer alten mythischen Wahrheit, zu deren Schwächung und Marginalisierung die republikanische Demokratie herbeigezaubert worden sei.
Deshalb werden sie Wahlkampf mit der expliziten Absicht führen, Chaos zu stiften. Und dabei haben sie noch die Frechheit, zu behaupten, dass es nur eine einzige Lösung gibt – für das Chaos, das sie selbst entweder völlig übersteigert oder sogar selbst herbeigeführt haben! –, nämlich sie zu wählen: „Wie ihr seht, herrscht nur noch Chaos, und nur wir können die Ordnung wiederherstellen!“
In seiner Rede beim Parteitag 2016 hat Trump dieses Argument bereits ausprobiert: „Nur ich kann es regeln.“ Dieses Jahr wird das Chaos-Narrativ nicht nur ein Wahlkampfslogan sein. Es wird den Wahlkampf antreiben. Dieser wird sich um Kriminalität, die Grenze, die Behandlung des Themas „race“ in den Schulen und die Rechte von Transgender-Amerikanern drehen sowie um alles, was man in die Erzählung packen kann, dass Amerika in die Irre gelaufen sei und nur gerettet werden könne, wenn die demokratischen Regeln über Bord geworfen würden, unter denen angeblich die „Kommunisten, Marxisten, Faschisten und radikalen linken Verbrecher, die wie Ungeziefer in den Grenzen unseres Landes leben“, gedeihen konnten.
Trumps Reden werden wilder und wilder werden, so wie schon bei seiner angeblichen Weihnachtsbotschaft an die Amerikaner, die den Feiertagswunsch enthielt, dass Biden und der Sonderermittler Jack Smith sowie im Grunde jeder, der nicht zur MAGA-Bewegung gehört, „in der Hölle verfaulen“ solle. Stellen Sie sich vor, wie die Wahlkampfauftritte im September und Oktober aussehen werden – insbesondere, wenn Trump bis dahin wegen eines oder zweier Verbrechen verurteilt worden ist.
Dies wird sich von allem unterscheiden, was jeder heute lebende Amerikaner je gesehen hat. Unklar ist, so schockierend das klingt, ob es den Demokraten gelingen wird, Trumps offen faschistische Botschaft zu einem Thema zu machen, das den durchschnittlichen Wechselwähler bewegt. Unglücklicherweise ist das bei weitem nicht das einzige Problem der Demokraten.
Die fatale Spaltung des demokratischen Lagers
Es wäre eine Sache, wenn die Abwehr des Trumpschen Chaos die einzige Herausforderung für Biden und die Demokraten wäre. Leider aber stehen sie vor einer Reihe anderer Probleme. Aus meiner Sicht gibt es vier große Herausforderungen.
Erstens ist die Demokratische Partei weit davon entfernt, die Reihen enger zu schließen, um die faschistische Bedrohung zu besiegen; stattdessen zersplittert sie in Fraktionen. Dies fängt mit den Zentristen an, die die No-Labels-Bewegung bilden – eine 2010 gegründete Organisation, die eine Alternative zu den beiden großen Parteien anbieten will und für die im November der demokratische Senator aus West Virginia, Joe Manchin, antreten könnte. Kurz vor Weihnachten ging ein komplett umwerfender Vorschlag von No Labels wegen des Timings nahezu unter. Vertreter der Organisation verbreiteten in einem Medienbriefing die Idee, eine „Koalitionsregierung“ mit einer der großen Parteien zu bilden für den Fall, dass kein Kandidat die erforderlichen 270 Stimmen im Wahlmännerkolleg bekäme.[2]
So formuliert, klingt dies vergleichsweise harmlos. Aber es ist alles andere als das. Der Chefstratege von No Labels, Ryan Clancy, erwähnte laut NBC News explizit, dass die Wahl im US-Repräsentantenhaus entschieden werden könnte. Dort würde dann in Absprachen ein Gewinner ermittelt. Grund dafür ist, dass laut US-Verfassung für die Wahl des Präsidenten eine absolute Mehrheit im Wahlmännerkolleg erforderlich ist. Erreicht keiner der Kandidaten diese Mehrheit, entscheidet das Repräsentantenhaus. Dort hat dann allerdings jeder Staat nur eine Stimme. Dies war bereits 1824 so (auch 1800, aber 1824 ist der bedeutsame Fall). Wer sich in der US-Geschichte auskennt, wird wissen, dass dieser Kuhhandel – Henry Clay unterstützte John Quincy Adams und wurde sein Außenminister – in der politischen Überlieferung als „korruptes Geschäft“ gilt.[3] Und No Labels prahlt damit, dem nacheifern zu wollen!
Trumps Sieg scheint vorgezeichnet
Und mit welchem Kandidaten? Nun, theoretisch könnte die Gruppe mit jedem Lager einen Deal aushandeln (obwohl die Verantwortlichen von No Labels wiederholt gesagt haben, dass sie nichts tun würden, um Trump zum Sieg zu verhelfen). Aber Tom Davis, Mitgründer von No Labels und ehemaliger republikanischer Abgeordneter, hat gegenüber Reportern gesagt: „Es könnte beispielsweise heißen: ‚Wir bauen eine Grenzmauer [und] vermeiden Haushaltsdefizite‘. Oder eben andere Absprachen.“ Welchen Kandidaten hatte er da wohl im Kopf?
Wenn wir die politischen Störenfriede Robert F. Kennedy Jr. und Cornel West mitrechnen, ist der Sieg Trumps vorgezeichnet. Das Umfrage- und Analyseinstitut Real Clear Politics rechnet mit Stand von dritter Januarwoche für Kennedy mit ungefähr 16 Prozent und für West mit fast vier Prozent.[4] Das bedeutet, dass Trump mit 39 zu rund 36 Prozent vor Biden liegt. Dann käme es zu einem von zwei möglichen Resultaten. Entweder zu einem knappen Sieg Trumps im Wahlmännerkolleg, auch wenn er – was wahrscheinlich ist – die „popular vote“ (also die Mehrheit der Wählerstimmen im ganzen Land) verliert. Oder aber, falls es wider Erwarten dazu kommt, dass ein Dritter – beispielsweise Joe Manchin oder Larry Hogan, die beide als mögliche Kandidaten gehandelt werden – tatsächlich die Wahl in einem Bundesstaat gewinnt und dadurch verhindert, dass Biden oder Trump auf die nötigen 270 Stimmen kommt, muss die Wahl im Repräsentantenhaus entschieden werden. Dies wäre dann tatsächlich das Szenario, bei dem No Labels die Wahl steuern könnte.
Die Abstimmung würde vom neu gewählten Repräsentantenhaus vorgenommen werden, nicht vom aktuellen, und jeder Staat hätte eine Stimme (ganz richtig – das kleine Wyoming hätte so viel Stimmengewicht wie das große Kalifornien). Im aktuellen Repräsentantenhaus kontrollieren die Republikaner 26 Bundesstaatsdelegationen, die Demokraten 22, und bei zweien herrscht Gleichstand. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die Demokraten nach der Wahl 26 Delegationen kontrollieren werden. Im Szenario, dass der Präsident im Repräsentantenhaus bestimmt wird, zieht also Trump wahrscheinlich wieder ins Weiße Haus ein. Dies wird das unausweichliche Ergebnis der Nummer sein, die No Labels hier abziehen will, und sie wissen das auch ganz genau. Die offene Frage ist, ob irgendeiner von denen, die sich in den Medien für sie aussprechen – und die sich allesamt sorglos geben, was die Zukunft der Demokratie betrifft – sie dafür kritisieren wird.
Zudem steht die Demokratische Partei vor einem unausweichlichen, explosiven Generationenkonflikt in Bezug auf den Nahostkonflikt. Wenn sie Glück hat, kommt es dazu nicht in diesem Jahr. Falls der Krieg nicht mehr so lange dauert, falls Israel eine neue, weniger radikale Regierung bekommt, falls diese Regierung mit repräsentativen palästinensischen Organisationen über eine Zweistaatenlösung spricht – dann könnten die Streitpunkte, die seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 schlagartig sichtbar wurden, vielleicht für die Novemberwahl kaschiert werden. Aber falls Benjamin Netanjahu den Krieg in die Länge zieht, stellt er Biden vor eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder hält er zu Israel und riskiert, Millionen junger Wähler vor den Kopf zu stoßen, oder er bestraft Israel, beispielsweise indem er Bedingungen für die US-Unterstützung stellt, und verscherzt es sich mit den älteren Juden, die zu 70 Prozent die Demokraten wählen. Und warum sollte Netanjahu dies nicht tun, wo er doch offensichtlich Trump im Weißen Haus zurückhaben will, weil dieser ihm einen Blankoscheck geben würde? Muss ich überhaupt die Möglichkeit einer Ausweitung des Krieges auf die Hisbollah im Libanon und den Iran erwähnen, was auch die USA direkter involvieren könnte?
Feindselige Medien
All das ist nur die erste von vier Herausforderungen. Ich beschreibe die anderen drei in knapperen Worten. Die zweite große Herausforderung ist eine feindselige Medienlandschaft, mit der die Demokraten bisher nicht klarkommen: Weder haben sie Narrative entwickelt, die den beständig negativen Erzählungen der rechtslastigen Medien wirksam etwas entgegensetzen, noch kommunizieren sie ihre eigenen Erfolge effektiv. Und dieses Jahr wird das alles viel schlimmer werden:[5] Fox News und seine Nachahmer werden als Bidens zweiter Gegner auftreten – und ihre Berichterstattung zeigt, wie gespalten die Demokraten in der Frage sind, wie sie damit umgehen sollen.
Die dritte Herausforderung ist, dass die Demokraten ihre Verbindung zu Latinos und Afroamerikanern verlieren, insbesondere zu den Männern. Für weiße Linksliberale scheint auch dies unglaublich – dass diese Wähler sich für einen offen rassistischen Republikaner entscheiden könnten. Doch sie tun es. Oder zumindest lehnen sie Biden ab. Die Demokraten haben neun Monate, um dies zu korrigieren, also ist es vielleicht noch nicht der Zeitpunkt, um in Panik zu verfallen. Aber aus irgendeinem Grund sehen die Umfragen immer schlechter aus.
Bidens Alter und die unglückliche Rolle von Kamala Harris
Viertens und letztens geht es um Bidens Alter, zusammen mit der vermutlichen Kandidatur von Kamala Harris als Vizepräsidentin. An Bidens Alter kann man wenig machen, außer zu hoffen, dass er gesund bleibt und während der Debatten keine altersbedingten Ausfälle hat, sowie das Argument zu vertreten, dass Menschen in ihren Achtzigern weiter ihre Arbeit machen können.
Harris jedoch hat sich als Belastung erwiesen. Ihre politischen Instinkte sind einfach nicht geschärft. Mir schien sie 2020 eine gute Wahl zu sein – ihre Nominierung durch Biden war geschichtsträchtig und zeigte, dass er vergeben kann. Schließlich hatte Harris ihn in einer frühen Debatte zum Thema „busing“, also Schulbustransporten, um die Aufhebung der Segregation an Schulen durchzusetzen, scharf belehrt.
Die meisten Menschen gründen ihre Wahlentscheidung nicht auf die Vizepräsidentschaftskandidaten und das wird auch in diesem Jahr wieder so sein. Aber Harris ist etwas wichtiger als die meisten Vizepräsidenten, ganz einfach wegen Bidens Alter. Trump wird das sehr deutlich ansprechen und Harris‘ möglichen Aufstieg ins Präsidentenamt zum Thema machen. Und genauso wenig, wie man den Präsidentschaftskandidaten auswechseln kann, kann man Harris ersetzen. Dadurch entstünde ein enormer Aufruhr: künftige demokratische Anwärter auf das Präsidentenamt, die gegeneinander um eine Beförderung kämpfen; das Ende des Waffenstillstands zwischen zentristischen und linken Fraktionen der Partei; und nationale Medien, die ständig danach gieren, den nächsten Zyklus des Narrativs „Durcheinander bei den Demokraten“ zu entfachen. Kurz: Wir sähen genau das Chaos, das Trump herbeizuführen hofft. Harris muss jetzt unbedingt besser dabei werden, schwarze Wähler und Frauen mit dem Recht auf Abtreibung und bei anderen Themen zu mobilisieren. Sie muss dringend ihre hochgelobten Instinkte als Staatsanwältin ins Spiel bringen, um gegen die wirtschaftlichen Feinde des amerikanischen Volkes Wahlkampf zu führen. Wenn Parteiführer hinter den Kulissen daran arbeiten, einen Keil zwischen Biden und sie zu treiben, oder Gerüchte in die Welt setzen, dass Biden nicht mit ihr antreten will, macht das die Sache nur schlimmer. So bleibt den Demokraten nur, sich klar zu Harris zu bekennen und zu versuchen, für sie ein neues Narrativ und eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Aber dies muss die Partei ganz allgemein hinbekommen.
Nicht länger unterwürfig sein
Politik wird von Epochen geprägt. Ich wurde während der Reagan-Ära erwachsen. Ronald Reagan wurde vor 44 Jahren zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt, bevor die meisten der heute lebenden Amerikaner überhaupt geboren waren. Nun befinden wir uns in fast jeder Hinsicht nicht mehr in der Reagan-Ära – aber in einer entscheidenden Frage eben doch noch.
Dabei geht es um Folgendes: In unserer politischen Debatte sind die Republikaner meistens im Angriffsmodus, während die Demokraten auf Abwehr spielen. Als ich klein war und die Republikaner eindeutig die schwächere Partei waren, galt das nicht. Aber nachdem die konservative Bewegung während Reagans Präsidentschaft die Republikanische Partei geschluckt hatte, wurde es zur Tatsache. Die Republikaner attackierten den linksliberalen Status quo unablässig und die Demokraten verteidigten ihn, gewöhnlich auf unterwürfige Weise. Oft war der Status quo schwer zu verteidigen: Hohe Kriminalitätsraten, sehr viel höher als heute, boten beispielsweise einen offensichtlichen Angriffspunkt für die Republikaner. In anderen Bereichen spielten die Demokraten auf Abwehr, indem sie stärker zentristische Positionen einnahmen: Wir wollen auch kein „big government“, also keinen ausgebauten Sozialstaat europäischer Prägung, sondern nur ausreichend Staat.
Einige dieser zentristischen Positionen waren eher gerechtfertigt als andere angesichts des Zeitgeists; die Zustimmung für linksliberale Positionen war damals auf einem Tiefpunkt. Ich will das jetzt nicht noch einmal debattieren, sondern möchte einfach auf eine historische Dynamik hinweisen, die uns heute auf überraschende Weise immer noch prägt: Republikaner attackieren den Staat und linksliberale politische Positionen, und Demokraten vermeiden es üblicherweise möglichst, das eine oder das andere direkt zu verteidigen. Fragen Sie sich einmal: Wann haben Sie zum letzten Mal eine Rede gehört, in der ein führender Politiker der Demokraten den Staat verteidigt – nicht ein spezifisches Programm wie Social Security (die gesetzliche Rentenversicherung), sondern einfach die philosophische Idee eines stabilen öffentlichen Sektors? Oder dass jemand sich als „liberal“ (also im europäischen Verständnis als linksliberal) bezeichnet? Ist das übrigens immer noch ein Schimpfwort? Wissen Sie, wer der letzte Präsident war, der sich als „liberal“ bezeichnet hat? Barack Obama? Nicht dass ich wüsste. Nein, Sie müssen etwas weiter zurückgehen. Es war John F. Kennedy, in einer Rede bei der New York Liberal Party (eine kleine Partei, die Kennedy als ihren Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 1960 nominierte). Ich bin mir nicht sicher, ob er die Bezeichnung jemals verwendet hat, als er Präsident war.
Mir ist es ziemlich egal, ob sich Joe Biden als „liberal“ bezeichnet. Aber die Demokraten können 2024 nicht unterwürfig sein. Sie müssen angreifen, sie müssen jeden Tag als eine Partei beginnen, die angreift. Sie müssen diesen Wahlkampf angehen als die Partei, die auf der Seite der amerikanischen Mittelschicht steht, und zwar weil sie das in den meisten Fragen ist: in Bezug auf Waffenbesitz, auf Abtreibungsrechte, auf eine Wirtschaft für die Mittelklasse und nicht für die Reichen, auf die Bekämpfung exzessiver Unternehmensmacht und bezüglich vieler anderer Themen, bei denen die Republikanische Partei kategorisch auf der falschen Seite feststeckt.
Die Feinde beim Namen nennen
Und hier ist noch etwas, was sie tun müssen: ihre Feinde beim Namen nennen. Nicht nur die politischen, sondern auch die aus der Geschäftswelt. Es ist einfach Tatsache: Menschen erkennen dich anhand deiner Feinde. Wenn man seine Feinde explizit beim Namen nennt, spricht das Menschen emotional an. Wenn ein Fan der Footballmannschaft der University of Alabama in eine Bar voller anderer Fans hineinruft „Ich liebe [Ala]Bama“, werden alle zustimmend nicken. Wenn er aber sagt „Ich hasse Auburn [die Footballmannschaft der Auburn University, auch in Alabama] mehr als William T. Sherman [den General der Unionstruppen, der im US-Bürgerkrieg eine Schneise der Zerstörung durch den Süden zog]“, werden sie eine Runde nach der anderen ausgeben, bis die Bar schließt. So sind wir Menschen eben gestrickt.
Seit kurzem spricht Biden über Preistreiberei. Großartig: Es ist höchste Zeit, dass er darüber spricht. (Übrigens, haben Sie das überhaupt mitbekommen? Wenn nicht, weist das auf ein weiteres Problem hin –, dass die Demokraten im Kongress der Argumentationsstrategie des Weißen Hauses nicht folgen und einfach freihändig operieren, ohne groß darüber nachzudenken, ob sie diszipliniert den vorgegebenen Botschaften folgen.) Biden hat sogar die großen Pharmaunternehmen kritisiert, was angesichts der Tatsache, dass die meisten hochrangigen Demokraten seit Jahren davor zurückschrecken, ein Fortschritt ist. Aber er scheint bei seiner Kritik immer noch zu zögern, einzelne Unternehmen beim Namen zu nennen. Ein Infoblatt des Weißen Hauses vom 14. Dezember 2023, das sich mit der Preistreiberei der Pharmaindustrie befasst, nennt kein einziges der Unternehmen, die sich an den Konsumenten bereichern.[6] Auch Presseberichte nennen keine speziellen Unternehmen, was für mich ein Zeichen dafür ist, dass Biden keine erwähnt hat.[7]
Nennt Ross und Reiter. Nennt schlimme Finger beim Namen. Verfolgt sie und beschämt sie. Dies ist die einzige Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Menschen zu bekommen. Demokraten und Linksliberale sitzen da und fragen sich, warum Biden trotz all seiner politischen Erfolge keinen Draht zu den arbeitenden Menschen hat. Dies ist ein wichtiger Grund dafür. Diese Wähler werden eher erkennen, dass er auf ihrer Seite ist, wenn er regelmäßig denen das Fell abzieht, die sie ausbeuten. So glaube ich, dass das Problem der „junk fees“ – kreative, teils versteckte Extragebühren für Waren und Dienstleistungen – zwar nicht zur Revolution führen wird, sich aber dennoch hervorragend politisch nutzen lässt. Aber das Weiße Haus muss die Übeltäter beim Namen nennen. Wenn Biden dieses Jahr nichts anderes hinbekäme, als die Praktiken des Unternehmens Ticketmaster zu beenden, würde ihm allein das Millionen Stimmen von Amerikanern verschaffen, die zwar allgemein schlecht informiert sind, aber trotzdem wählen. Es ist nicht kompliziert und es ist etwas, das jeder mitbekommt, ähnlich dem, wenn ein Gouverneur eine Brückenmaut senkt.
Schließlich müssen die Demokraten Selbstbewusstsein und Siegesgewissheit ausstrahlen. Nennt Trump nicht nur gefährlich, sondern schwach, alt, nicht ganz da, faul, senil, dumm, einen Verlierer, einen bankrotten Schwachkopf, einen Clown, einen Betrüger. Macht euch über ihn lustig. Macht euch über sie alle lustig. Macht euch über Mike Johnson lustig, den Sprecher des Repräsentantenhauses. Macht Euch über Jim Jordan lustig, den Vorsitzenden des Justizausschusses und Mitgründer des Trump-nahen Freedom Caucus.[8] Die heutige Republikanische Partei ist beängstigend – aber sie ist auch eine absurde Parodie. Überseht diesen zweiten Aspekt nicht.
Spielt auf Angriff, nennt Feinde beim Namen, strahlt Siegesgewissheit aus. Die Wähler, die diese Wahl entscheiden werden, haben unglücklicherweise keine gefestigten politischen Überzeugungen. Sie werden sich teilweise für denjenigen entscheiden, der wie ein Gewinner aussieht. Die Demokraten müssen dieses Spiel mitspielen.
Auf Angriff spielen und Siegesgewissheit ausstrahlen
Es versteht sich fast von selbst, dass die Demokraten natürlich keinen meiner Vorschläge beherzigen werden. Die meisten von ihnen sind zu dieser Art Aggressivität einfach nicht in der Lage. Einige der jüngeren haben zum Glück durchaus Kampfgeist. An der neuen Garde der Demokraten, beispielsweise Katie Porter und Alexandria Ocasio-Cortez, ist unter anderem so erfrischend, dass sie nicht während der Hauptphase der Reagan-Ära erwachsen wurden, als die Demokraten so oft nur zurückruderten und sich für ihre eigene Existenz entschuldigten – sie wissen politischen Schlagabtausch durchaus zu schätzen und bereiten sich auf die Kämpfe vor, die sie führen wollen. Aber für die meisten führenden Demokraten und ihre Umfrageexperten und Mitarbeiter ist Vorsicht eher geboten als Aggressivität. Auf Angriff zu spielen und Siegesgewissheit auszustrahlen, entspricht ihnen einfach nicht. Und ich vermute, sie wollen auch deshalb keine Namen nennen, weil sie entweder einfach Angst vor Kontroversen haben oder weil ein erheblicher Teil der Missetäter zu ihren Spendern gehört. Über dieses Problem sollten sie besser einmal nachdenken.
Biden und die Demokraten werden den Wahlkampf mit Fokus auf Sachthemen führen: Abtreibungsrechte, Medikamentenpreise, die Erhaltung der Demokratie und – so hoffen sie – die Wirtschaftslage. Und sicherlich sind diese Themen, zumindest die ersten drei, Gewinnerthemen für sie. Seit über einem Jahr dränge ich sie dazu, die Positionen zu diesen Politikbereichen an das größere Thema der persönlichen Freiheit zu knüpfen.[9] Dass sie begonnen haben, damit zu experimentieren, gibt mir etwas Hoffnung. Der Gouverneur von Pennsylvania, Josh Shapiro, führt diese Versuche an. Wahre Freiheit, so sagt er oft, heißt nicht nur, den freien Markt tun zu lassen, was immer er will. Wahre Freiheit bedeutet, den Menschen die Werkzeuge in die Hand zu geben, die sie brauchen, um ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Das beinhaltet, ihre Rechte zu schützen, ihre Demokratie zu retten und ein Wirtschaftsprogramm vorzulegen, das ihnen dabei hilft, ein freieres Leben zu führen.
Die Rechte ist viel dümmer, als die Linke glaubt
Es wäre großartig, wenn wir während des Wahlkampfs von allen in der Partei mehr Botschaften wie die von Shapiro hören würden. Das könnte reichen. Die Republikaner mögen sich zwar meisterhaft darauf verstehen, Siegesgewissheit auszustrahlen, aber tatsächlich sind sie ziemlich unfähig und so an ihre ideologische Provinzialität und ihre kulturkämpferischen Obsessionen gekettet, dass sie einen Fehler nach dem anderen machen. Bei all ihrer Angstmacherei bezüglich Transpersonen haben sie es nicht geschafft, daraus ein Gewinnerthema zu machen.[10] Die Leute mit „offenen Grenzen“ zu verschrecken, könnte funktionieren, aber erinnern wir uns daran, dass es im Jahr 2018 ausdrücklich nicht funktioniert hat, als Trump Wochen vor den Zwischenwahlen damit verbracht hatte, vor der „Karawane“ zu warnen, die sich auf Texas zubewege. Kriminalität? Ich weiß, Fakten spielen heute keine große Rolle mehr, aber es stimmt eben, dass die Mordrate 2023 stark gefallen ist, ebenso wie die Zahlen in den meisten wichtigen Verbrechenskategorien.[11] Das von den Republikanern angestrengte Impeachment-Verfahren gegen Biden wird wahrscheinlich ein Rohrkrepierer. Sie hingegen sind im Begriff, einen Mann zum Kandidaten zu machen, der am Wahltag höchstwahrscheinlich ein verurteilter Verbrecher sein wird. Linksliberale verwenden viel Energie darauf, sich Sorgen zu machen, dass jeder konservative Angriff beim Wähler verfangen könnte (ein weiterer Reflex aus der Reagan-Ära). Aber die meisten tun das nicht. Die Rechte ist viel dümmer, als die Linke glaubt.
Und vor allem: Es könnte sein, dass die Wirtschaftsdaten dieses Jahr sehr viel besser ausfallen, als von vielen erwartet. Im November 2023 veröffentlichte Goldman Sachs einen Wirtschaftsausblick, für dessen tatsächliches Eintreffen sicherlich so einige im Weißen Haus beten.[12] Stabiles Lohnwachstum (3,5 Prozent) und stabile Arbeitslosigkeit (3,6 Prozent). Auf zwei Prozent gesunkene Inflation. Insgesamt ein Wachstum von zwei Prozent. Dazu kommen vier Zinssenkungen der Zentralbank im vergangenen Jahr. So besonders und nie dagewesen diese Wahl sein wird, einige ihrer Aspekte könnten ganz normal sein – insbesondere, dass die Wirtschaftslage der wichtigste Faktor für ihr Ergebnis ist. Wenn Goldman Sachs richtig liegt, wird es Trump schwerfallen, mit dem Argument zu punkten, dass die wirtschaftliche Lage unter Biden katastrophal sei.
Wenn es kein Wirtschaftschaos gibt – also bei niedriger Inflation und wieder normalen Benzinpreisen – würde das Trumps Hauptargument untergraben. Aber das wird ihn nicht bremsen. Er wird unablässig behaupten: „Das Land befindet sich im Chaos.“ Er wird es überall finden. Chaos entwickelt sich immer irgendwo. Diese Tatsache ist Trumps großer Vorteil. Man kann immer behaupten, dass die Welt zum Teufel geht. Trumps Behauptungen werden in der rechtslastigen Presse so widerhallen wie Lenins Reden in der „Prawda“, und die Mainstream-Medien werden sie erst dokumentieren, bevor sie sie widerlegen. Aber dann wird es zu spät sein.
Noch neun höllische Monate: Verzweifelt oder kämpft!
Uns stehen also neun höllische Monate bevor. Aber es gibt nur eine Wahl für Joe Biden und alle gewählten Demokraten sowie für alle von uns: Verzweifelt oder kämpft. Die Faschisten wollen, dass wir verzweifeln. Sie zählen darauf.
Faschismus ist (offensichtlich) eine extreme Wahl für die Bürger, eine Wahl, die sie nur unter zwei Bedingungen treffen: erstens, wenn ihr Land in einer wirklich tiefen Krise steckt, oder zweitens, wenn sie das Gefühl haben, dass die Antifaschisten uneins und schwach sind und über kein mutiges und kohärentes Programm gegen das Chaos-Narrativ verfügen. Heute stehen die Vereinigten Staaten vor einer Reihe schwerer Probleme, wie zu jeder Zeit, aber sie befinden sich nicht in einer ernsthaften tiefen Krise. Wir schreiben nicht das Jahr 1932. Damit bleibt die zweite Bedingung. Und hier haben die Demokraten, die uns auf Gedeih und Verderb in diese Schlacht führen, durchaus einige Steuerungsmöglichkeiten. Die große Frage des Jahres 2024 ist, ob die Demokraten all dies verstehen. Wenn sie geeint, mutig und aggressiv sind, werden sie das dominante Narrativ prägen und gewinnen. Wenn nicht, dann werden sie verlieren. In dem Fall könnten wir sagen: „Na ja, macht euch bereit für die nächste Wahl.“ Nur dass es dann keine weitere mehr geben könnte.
Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes von Michael Tomasky, der unter dem Titel „It Will Be an Election Unlike Any We’ve Lived Through. Are the Democrats Prepared?“ zunächst am 1.1.2024 auf newrepublic.com erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Thomas Greven.
[1] MAGA steht für den von Trump popularisierten Slogan „Make America Great Again“ – d. Red.
[2] Vaughn Hillyard und Dan Gallo, No Labels floats the possibility of a coalition government or Congress selecting the president in 2024, nbcnews.com, 21.12.2023.
[3]Jessie Kratz, The 1824 Presidential Election and the „Corrupt Bargain”, prologue.blogs.archives.gov, 22.10.2022.
[4] Vgl. General Election: Trump vs. Biden vs. Kennedy vs. West, realclearpolitics.com.
[5] Nina Burleigh, Biden’s Other Formidable Opponent in 2024, newrepublic.com, 28.12.2023.
[6] Vgl. FACT SHEET: Biden-Harris Administration Announces Dozens of Pharma Companies Raised Prices Faster than Inflation, Triggering Medicare Rebates, whitehouse.gov, 14.12.2023.
[7] Vgl. Jeff Stein, Biden turns up pressure on corporate „price-gouging“ as 2024 nears, washingtonpost.com, 1.12.2023.
[8] Als Assistenztrainer an der Ohio State University spielte der ehemalige Ringer Jim Jordan in den 1980er und 1990er Jahren möglicherweise eine Rolle bei der Vertuschung von Fällen sexueller Belästigung. Diese werden vermutlich in diesem Jahr vor Gericht verhandelt. Vgl. Corky Siemaszko, Supreme Court rebuffs OSU and enables the remaining sex abuse victims to sue, nbcnews.com, 26.6.2023.
[9] Michael Tomasky, Economics, Democracy, and Freedom: It’s All One Argument, newrepublic.com, 6.9.2022.
[10] Vgl. The Continuing Electoral History of Transphobia. The latest failures by transphobes at the ballot box and what they mean, ettingermentum.news, 21.8.2023.
[11] Tim Arango und Campbell Robertson, After Rise in Murders During the Pandemic, a Sharp Decline in 2023, nytimes.com, 29.12.2023.
[12] Goldman Sachs Research, US Economics Analyst. 2024 US Economic Outlook: Final Descent, goldmansachs.com, 14.11.2023.