
Bild: Soldaten bewachen auf dem Boden liegende Gefangene nach Unruhen in einer Haftanstalt in Guayaquil, 8.1.2024 (IMAGO / Newscom / EyePress)
In Berlin hat sich der Kokainkonsum seit 2015 mehr als verdreifacht.[1] Ein großer Teil des hier konsumierten weißen Pulvers dürfte in Bananencontainern per Schiff aus Ecuador nach Europa gekommen sein. Denn kein anderes Land exportiert mehr Bananen und in den letzten Jahren ist es auch zum größten Kokainexporteur nach Europa aufgestiegen. Die Bananen landen bei Aldi & Co. und das Kokain – unter anderem – in Berliner Clubs oder Büros.
In Ecuador hat sich die „Tötungsrate“ seit 2015 versechsfacht. 2023 erreichte sie mit über 40 gewaltsamen Todesfällen pro 100 000 Einwohner einen historischen Höchststand. (In Deutschland liegt sie bei 0,8 pro 100 000.) Dabei waren bis vor wenigen Jahren die Ecuadorianer noch stolz auf die Friedfertigkeit ihres Landes. Aber mit der rasant ansteigenden Gewalt ab 2020 wurden Kriminalität und ihre Bekämpfung zu dem überragenden Thema und es wächst die Sehnsucht nach einer Politik der „harten Hand“. Wer dagegen noch auf die Achtung von Menschenrechten besteht, gilt schnell als Freund der Verbrecher. Eine autoritäre Haltung, die in ganz Lateinamerika an Boden gewinnt.
Entsprechend trat auch der neue Präsident Ecuadors im November 2023 sein Amt mit dem Versprechen an, härter gegen die Kartelle vorzugehen. Als eine der ersten Maßnahmen war geplant, den Bandenchef Adolfo Macías Villamar in ein Hochsicherheitsgefängnis zu verlegen. Bisher hatte er seine Choneros, die bekannteste kriminelle Organisation Ecuadors, aus dem Gefängnis heraus dirigiert. Als ein Aufgebot von an die tausend Polizisten und Soldaten ihn am 7. Januar aus seiner Luxuszelle holen wollte, war er verschwunden – offenbar hatte Fito, so der Spitzname des Bandenchefs, das Gefängnis ungehindert und unbemerkt verlassen können. Auch der inhaftierte Mafiaboss der konkurrierenden Lobos „entließ“ sich im Januar selbst aus der Haft.
Derart blamiert, verhängte Präsident Daniel Noboa – mit 36 Jahren der jüngste Staatschef in der Geschichte Ecuadors – den Ausnahmezustand. Die Armee übernahm die Kontrolle der Gefängnisse, um dort die Herrschaft der Banden zu brechen. Die eigentlich verfeindeten Gruppen der organisierten Kriminalität griffen daraufhin Polizeistationen an, entführten und exekutierten Polizisten, zündeten Autobomben und nahmen Wärter als Geiseln in den Gefängnissen. Vorläufiger Höhepunkt dieser Machtdemonstration: Am 9. Januar stürmten vermummte junge Männer vor laufender Kamera ein Fernsehstudio und nahmen alle Anwesenden als Geiseln.
Der Präsident erklärte daraufhin über 20 Banden zu Terrororganisationen, die sich mit dem Staat im „internen bewaffneten Konflikt“ befänden – eine juristisch sehr zweifelhafte Einstufung, die dem Militär weitgehende Befugnisse einräumt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren, das Dekret führe jetzt schon zu willkürlichen Verhaftungen und Misshandlungen durch die Soldaten. Derweil meldet die Regierung Erfolge: Die Zahl der Morde sei nach einem Monat Ausnahmezustand von täglich 36 auf sechs gefallen. Außerdem stellte das Militär große Mengen Kokain sicher: Am 24. Januar hoben Soldaten in einer Schweinefarm ein Kokainversteck aus. Sie fanden 22 Tonnen der Droge mit einem geschätzten Marktwert von über eine Milliarde Dollar. Das entspricht dem Jahresbudget der ecuadorianischen Hauptstadt Quito und ist der größte einzelne Drogenfund in der Geschichte des Landes.
Krise der Demokratie
Der größte Drogenfund, die höchste Mordrate. Auf solche Rekorde hätten die Menschen in Ecuador gerne verzichtet. Und so unterstützen sie das martialische Vorgehen der Armee und die Kriegsrhetorik ihres Präsidenten. Die Armee ist die beliebteste Institution des Landes, und auch der Präsident genießt plötzlich Zustimmungswerte von 80 Prozent, obwohl er in der ersten Wahlrunde mit nur 23,4 Prozent in die Stichwahl kam.
Schon in den letzten Jahren wurde der Ruf nach einem harten Durchgreifen gegen Kriminalität und Korruption immer lauter und gleichzeitig wuchs die Zahl derer, die sich enttäuscht von der Demokratie abwenden: Immer mehr Menschen finden eine autoritäre Herrschaft unter bestimmten Umständen besser als die Demokratie oder glauben, dass die Regierungsform für sie persönlich ohnehin keinen Unterschied macht.[2] Damit liegt Ecuador im regionalen Trend.
Seit 2010 ist in Lateinamerika der Anteil derjenigen, die eine Demokratie jeder anderen Regierungsform vorziehen, von 63 auf 48 Prozent gesunken. Ausdruck dieser Stimmung ist auch die Beliebtheit des autokratischen Präsidenten von El Salvador, Nayib Bukele auch außerhalb seines eigenen Landes.[3] Seine Popularität beruht vor allem darauf, dass es ihm gelang, die Mordrate extrem zu drücken, allerdings sitzen mehr als zwei Prozent[4] der männlichen Bevölkerung im Gefängnis – zumeist ohne Gerichtsurteil.
Bukeles ecuadorianischer Amtskollege Noboa orientiert sich jetzt mehr und mehr an diesem Modell. Am 11. Januar präsentierte er Pläne für zwei neue große Gefängnisse, die er in nur 200 Tagen bauen lassen will – geplant von der gleichen Firma, die auch die neuen Gefängnisse in El Salvador gebaut hat. Schon dort ist es allerdings unwahrscheinlich, dass Ausnahmezustand und Masseninhaftierung langfristig die Macht der mafiösen Strukturen brechen. Edgardo Buscaglia, UN-Berater und Experte für organisierte Kriminalität, geht jedenfalls davon aus, dass es in El Salvador nur eine vorläufige „Pax Mafiosa“ gibt – einen mafiösen Frieden.[5] Die Strategie Bukeles verfolge lediglich die „kleinen Fische“ und beruhe vermutlich auf einer Art Stillhalteabkommen mit den großen Akteuren der illegalen Märkte.
Eine tödliche Mischung
Auch in Ecuador gab es vermutlich lange ein solches Arrangement: Der viele Jahre währende relative Frieden beruhte auf der Dominanz eines organisierten kriminellen Netzwerks mit guten Verbindungen in den Staat. Aber was führte dann zu der Gewaltexplosion in dem Andenstaat, der eingeklemmt zwischen den viel größeren Nachbarn Kolumbien und Peru liegt?
Genau diese spezielle geografische Lage ist eine wichtige Voraussetzung dafür: Nirgends wird mehr Koka – der Grundstoff für Kokain – angebaut als in Kolumbien und Peru. Der Exportweg über Ecuador bietet sich auch deshalb an, weil hier die Infrastruktur gut ausgebaut ist, aber die Kontrollen laxer sind als in den Nachbarländern. Außerdem hat der Friedensvertrag in Kolumbien, der 2016 dort 50 Jahre Bürgerkrieg beenden sollte, in der Grenzregion mit Ecuador ein Machtvakuum hinterlassen. In dem Gebiet, das vorher die FARC-Guerilla kontrollierte, hatte jetzt der Drogenhandel freie Bahn.
Dazu kommt, dass die Sparprogramme der letzten ecuadorianischen Regierungen – nach dem Ausbleiben der hohen Öleinnahmen ab 2014 und der Pandemie – die ohnehin korrupte Polizei und Justiz noch weiter geschwächt haben. Diese Mischung aus äußerer Krise und Sparprogrammen ließ zudem die soziale Ungleichheit in Ecuador, die in den Jahren des Rohstoffbooms etwas gefallen war, wieder wachsen. Deshalb ist insbesondere für viele junge Männer das schnelle Geld, das die Banden bieten, attraktiv. Denn andere Perspektiven gibt es für sie kaum. Manche Eltern schicken ihre Kinder deshalb schon nicht mehr zur Schule, aus Angst, sie könnten von den Banden rekrutiert werden – als Dealer, Boten und schließlich Killer.
Alle diese Faktoren verwandelten Ecuador in ein Logistikzentrum für den internationalen Drogenhandel. Die Mordrate ist aber vor allem deshalb in die Höhe geschossen, weil sich die Banden zunehmend zersplitterten und sich unterschiedlichen international operierenden Kartellen als Auftragnehmer andienten.
Den Anfang vom Ende der „Pax Mafiosa“ markierte 2020 die Spaltung der Choneros – der bis dahin dominanten kriminelle Organisation in Ecuador. Während die verbliebenen Choneros vor allem mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell zusammenarbeiten, sind die abgespaltenen Lobos und andere vermutlich mit der Konkurrenz verbündet: dem Kartell „Jalisco Nueva Generación“, ebenfalls aus Mexiko. Dazu kam der wachsende Markt für Kokain in Europa, der Ecuador auch für die albanische Mafia und die italienische ‘Ndrangheta interessant werden ließ.
Von einem sehr flexiblen System illegalen Unternehmertums, das sich in den letzten Jahren entwickelt habe, spricht die chilenische Professorin Lucía Dammert, die seit langem zu organisierter Kriminalität forscht.[6] An die Stelle weniger, zentral gesteuerter Kartelle sei ein schwer zu durchschauendes Netzwerk getreten, in dem einzelne Akteure immer wieder blutig um einen größeren Anteil am Geschäft kämpfen. Kokainhandel ist dabei nur ein, wenn auch wichtiges, Betätigungsfeld. Dazu kommen illegaler Bergbau, Schleuserdienste, Menschenhandel, Schutzgelderpressung, Waffenschmuggel oder auch der Handel mit geschützten Tier- und Pflanzenarten.
Im Griff der Mafia
In Ecuador haben die Mafias einige arme und traditionell vernachlässigte Gegenden, wie die Hafenstadt Esmeraldas mit einem hohen Anteil afroecuadorianischer Bevölkerung, fest im Griff. Wer dort leben und arbeiten will, kommt an Schutzgeldzahlungen für die lokalen Mafiafürsten nicht vorbei. Diese herrschen aber nicht nur mittels Gewalt und Bestechung. Sie versuchen sich auch in einer ähnlichen klientelistischen „Sozialpolitik“, wie sie populistische Politiker gerne praktizieren: So verteilen sie beispielsweise Spielzeug an die Bevölkerung – wie die Choneros, die mit einer solchen Aktion auf ihrem Youtube-Kanal für sich werben. Derselbe Kanal veröffentlichte im September 2023 einen Song über den Chonero-Chef. In dem Musikvideo tritt auch Fito selbst auf, mit Kampfhahn und Mitgefangenen – was schon Monate vor seinem Verschwinden bewies, wie frei er im Gefängnis schalten und walten konnte.
Die Gefängnisse dienten den Banden bisher als Kommandozentralen und Rekrutierungsfeld. Dort gab es in den vergangenen zwei Jahren die meisten Toten, als die konkurrierenden Banden um die Vorherrschaft in einzelnen Gefängnisblöcken kämpften. Aber zunehmend gerieten außerhalb der Gefängnisse Unbeteiligte ins Kreuzfeuer. Auch deshalb wurde der Druck auf die Politik größer, hart durchzugreifen.
Die autoritäre Scheinlösung
Kaum eine politische Kraft in Lateinamerika vertritt heute noch andere als rein repressive Ansätze in der Kriminalitätsbekämpfung. Die traditionelle linke Antwort – Sozialpolitik und Legalisierung des Drogenkonsums – verspricht keine schnellen Erfolge und ist unpopulär. Dabei hatte der kolumbianische Präsident Gustavo Petro noch vor zwei Jahren in einer eindringlichen Rede vor den Vereinten Nationen zu Recht festgestellt, der „Krieg gegen die Drogen“ sei gescheitert, und forderte ein Umdenken. Praktische Schritte sind daraus keine gefolgt.
Tatsächlich könnte eine andere Drogenpolitik die Macht der Kartelle nur dann eindämmen, wenn alle Staaten entlang der Lieferkette an einem Strang zögen. Ein Land wie Ecuador alleine kann, egal mit welcher Politik, der Macht der organisierten Kriminalität wenig entgegensetzen, dazu ist es – anders als El Salvador – zu wichtig im illegalen Milliardengeschäft.
Es gibt kein Patentrezept, um die organisierte Kriminalität erfolgreich zu bekämpfen, da sind sich Fachleute wie Buscaglia und Dammert einig. Erfolg verspricht nur ein breites und international unterstütztes Maßnahmenpaket. Dazu gehören die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols mit rechtsstaatlichen Verfahren und unter Achtung der Menschenrechte ebenso wie eine Sozial- und Wirtschaftspolitik, die vor allem jungen, unterprivilegierten Männern andere Perspektiven bietet als eine kriminelle Karriere, und die Korruptionsbekämpfung, insbesondere innerhalb der politischen Klasse.[7] Nötig ist aber auch, vor allem in den Empfängerländern, eine präventive Gesundheitspolitik, inklusive einer kontrollierten Legalisierung bestimmter Drogen, und nicht zuletzt die Verfolgung der Geldwäsche und des Waffenhandels.
Gerade beim Kampf gegen Geldwäsche und der Austrocknung der illegalen Märkte sind auch Deutschland[8] und Europa gefragt. Denn hier landet nicht nur viel Kokain, sondern auch ein großer Teil der Profite: „Drogenunternehmer suchen funktionierende Rechtsstaaten, um dort ihre Gewinne sicher anzulegen“, so Buscaglia. Immerhin besteht jetzt die Chance, dass die EU sich dem Problem stellt, denn das belgische Antwerpen hat die Alarmglocken geläutet. Dort kommt das meiste Kokain aus Ecuador an – und dort eskaliert die Gewalt der Gangs, die für internationale Netzwerke den Stoff aus dem Hafen holen. Ende Januar lud deshalb die belgische Ratspräsidentschaft die EU-Innenminister in die Hafenstadt, um sich die Hilfe der EU-Partner zu organisieren.
Doch international sind bekanntermaßen die Aussichten auf mehr konstruktive Kooperation zwischen den Staaten gerade schlecht. Die global agierenden kriminellen Unternehmer profitieren davon. Ihre Herrschaft ist selbst eine hoch autoritäre – dass umgekehrt Populisten und Autokraten oft mafiöse Charakterzüge zeigen, ist kein Zufall: Mafiaherrschaft und Autokratie sind wesensverwandt. Und so trägt die florierende illegale Ökonomie auf ihre Weise zum internationalen antidemokratischen Trend bei. Direkt oder durch die autoritäre Antwort der Politik.
[1] Wastewater analysis and drugs – a European multi-city study, emcdda.europa.eu, 4.5.2023.
[2] Informe Latinobarómetro 2023, latinobarometro.org, 21.7.2023.
[3] Vgl. Sandra Weiss in dieser Ausgabe.
[4] Vgl. World Prison Brief, prisonstudies.org.
[5] Gespräch mit dem Autor, 9.2.2024.
[6] ILAS, The Security Crisis in Ecuador, youtube.com, 3.2.2024.
[7] Dass internationale Zusammenarbeit effektiv sein kann, zeigt die UN-Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala (CICIG).
[8] Vgl. Theresa Reinold, „Basta Mafia!“. Wie sich der Rechtsstaat gegen das organisierte Verbrechen behauptet, in: „Blätter“, 5/2022, S. 95-102.