Wie die Vordenker der Neuen Rechten den Umsturz vorbereiten

Bild: Martin Sellner während einer Veranstaltung der IBÖ in Wien. Gegen den rechtsextremen Vordenker ist ein bundesweites Einreiseverbot erlassen worden. Foto vom 8.5.2021 (IMAGO / Alex Halada)
Das jüngste TV-Duell zwischen dem thüringischen AfD-Chef Björn Höcke und dem CDU-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in Thüringen, Mario Voigt, hat einmal mehr gezeigt: Im Zentrum der medialen Debatte über den sukzessiven Aufstieg der Alternative für Deutschland steht zumeist deren nationalchauvinistisches und rassistisches Profil, nicht selten verbunden mit dem Appell, die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Protagonist:innen der Neuen Rechten zu verweigern. So verständlich diese Position als Akt der Empörung gegenüber den grobschlächtigen Provokationen von rechts auch sein mag, so selbstbeschränkend ist dieser Ansatz, wenn es darum geht, jene subversiven Interventionen zu erkennen, die der rechten Revolte vorgeschaltet sind.
Die von Thomas Assheuer in den „Blättern“ treffend als „rechte Systemsprenger“ bezeichneten Protagonisten verfolgen vorrangig das Ziel, die liberaldemokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig zu schädigen und letztlich komplett zu demontieren.[1] Wie für autoritäre Militante üblich, kommuniziert die Neue Rechte diese Ziele ganz ungeniert. So postulierte Götz Kubitschek als führender Kopf einer neurechten Avantgarde bereits im Jahr 2007 den deutschen „Vorbürgerkrieg“[2], im Sommer 2023 läutete er dann offen den „geistigen Bürgerkrieg“ ein.[3] Trotz seiner zentralen Rolle in der ethnonationalen Radikalisierung der AfD wird Kubitschek in den medialen Debatten äußerst stiefmütterlich behandelt. Dabei ist er Leiter des sogenannten Instituts für Staatspolitik (IfS) – dem Think-Tank der Neuen Rechten und ein zentrales Organ der identitären Agitation, das mit der Konzeption von Kampfbegriffen wie der „Remigration“ zur Popularität der Bewegung beiträgt.
Abseits dieser Kampfbegriffe versteht sich das IfS als Keimzelle einer geistespolitischen Rüstwerkstatt, die die Rekruten für den Kampf um die Nation ausbildet. Da dieser neben Waffen vor allem einer guten Logistik bedarf, macht sich das IfS schon länger Gedanken über die Bedingungen einer erfolgreichen Revolution. Diese versucht sie mit der sogenannten Metapolitik zu schaffen. Der sperrige polittheoretische Begriff steht für die Einflussnahme auf das kulturelle Fundament des Staatswesens, durch die sich die Institutionen der liberalen Demokratie überhaupt erst konstituieren.[4] Was an dieser Stelle noch recht abstrakt klingt, wurde in den letzten Jahren durch die Publikationen der hauseigenen Verlagsorgane des IfS zu einer Art theoriegeleiteten Praxis mentaler Pionierarbeit, mit der jenes Schlachtfeld ausgelotet werden soll, auf dem die Neue Rechte zu triumphieren gedenkt. Da sich Krieg nur mit jenen führen lässt, die zornig genug sind, die Waffen zu erheben, versteht die Neue Rechte Metapolitik vor allem als eine Strategie der Wahrnehmungsbeeinflussung, mit der emotionalisierte „Widerstandsformen gegen das System in ihrer ganzen Vielfalt und Breite“ generiert werden können.[5] Um den Erfolg der Metapolitik als sozialpsychologische Subversionsstrategie der AfD greifbar zu machen, lohnt ein genauerer Blick auf das synergetische Wirken von Martin Sellner, dem Frontmann der Identitären Bewegung, und Maximilian Krah, dem EU-Spitzenkandidaten der AfD. Als Publikationstandem haben beide 2023 maßgeblich die neurechte „Reconquista“ ausdefiniert.
Martin Sellner: Die rechte Metapolitik in der Praxis
Jenseits seiner durch die Correctiv-Recherche bekanntgewordenen Funktion als Sprachrohr der Idee von der Deportation von Millionen von Menschen mit Migrationsgeschichte aus Deutschland versucht Martin Sellner in seinem Werk „Regime Change von rechts“ den abstrakten Begriff der Metapolitik in eine greifbare Praxis zu überführen. Angereichert mit ziemlichem leninistischen Pathos verspricht das 2023 im Antaios-Verlag erschienene Buch eine Revolutionstheorie für eine rechte Agitation, die sich dem Hauptziel verschreibt, „ethnokulturelle Identität“ in einem Umfeld des „Bevölkerungsaustauschs“ sicherzustellen.[6] Obwohl Sellner seinem Buch damit eine konkrete Vision zugrunde legt, offenbart die Lektüre, dass es vielmehr der Weg selbst ist, der hier zum Ziel gemacht wird. Im Sinne der Kriegslust seines Mentors Götz Kubitschek plädiert Sellner nämlich vor allem für eine neue Flexibilität rechter Mobilisierung, die darauf ausgerichtet ist, breite Massen von einem antiliberalen Denken zu überzeugen.
Was der französische Gedankenvater einer neuen antiliberalen Querfrontstrategie, Alain de Benoist, unter einer von linken Theorien beeinflussten Kulturrevolution von rechts propagierte, findet mit Martin Sellners Systemanalyse eine beispiellose Konkretisierung. Unter Verweis auf polittheoretische Schwergewichte des linken Lagers wie Louis Althusser oder Antonio Gramsci führt Sellner aus, dass Staatsmacht nicht einfach die Summe der gegebenen politischen Institutionen ist, sondern das System durch den sogenannten ideologischen Staatsapparat angetrieben wird (S. 33). Explizit meint Sellner damit eine konspirative Macht über „das gesellschaftliche Klima“, die außerhalb der regulären politischen Institutionen maßgeblich Einfluss auf die Politik nimmt und die die tatsächliche Möglichkeit der demokratischen Partizipation auf eine „Demokratiesimulation“ reduzieren würde. Systemische Eckpfeiler der herrschenden Politik seien nämlich nicht Exekutive und Judikative, sondern „die Massenmedien, die Schule, die Universitäten, die Kirchen, Gewerkschaften und die Unterhaltungsindustrie“, die „alle Mechanismen zur Desinformation, Meinungskontrolle, Sedierung und mentalen Steuerung des Wahlvolks“ kontrollieren würden (S. 35).
Eingebettet in einen vermeintlichen historischen Schuldkomplex rund um den Holocaust bewirke der ideologische Staatsapparat die Gleichschaltung eines Großteils der deutschen Gesellschaft, die durch das ständige Taktieren der Meinungsmacher „objektiv bereits sehr weit nach links gerückt“ worden sei (S. 36). Den Beweis für diese geistige Kontrolle sieht der Autor durch eine Vielzahl nichtstaatlicher Repressalien gegen rechtes Gedankengut erbracht, die sich in sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen bis hin zur Gewalt „linker Terroristen“ äußern würden (S. 38-41). Daneben komme der „sanfte Totalitarismus“ jedoch auch in konkreten Staatsakten zum Ausdruck (S. 38), etwa in Polizeiaktionen gegen aktivistische Organisationen und Individuen, in juristischen Verfahren gegen Meinungsdelikte oder in Gesetzesentwürfen zur Stärkung der Zivilgesellschaft gegen rechts.
Ein neuer Weg für die Neue Rechte
Maßgebliches Ziel des Agierens inoffizieller und offizieller Funktionäre des herrschenden Systems sei es laut Sellner, rechten Mehrheiten, die auf legalem Weg über den Parlamentarismus eine Veränderung innerhalb der politischen Institutionen zu erreichen suchten, Fußfesseln anzulegen. In defätistischer Weitsicht antizipiert Sellner, dass auf einen rechten Wahlsieg „die linke Metapolitik in den Blockademodus“ treten und wie ein „tiefer Staat“ „Legitimität“ verweigern, „Autorität“ untergraben und damit als Speerspitze eines dem liberaldemokratischen System zugrundeliegenden totalitären Wesens fungieren würde (S. 47). Die landesweiten Proteste gegen rechts in Reaktion auf das von der Rechercheplattform Correctiv aufgedeckte Treffen in Potsdam betrachtet Sellner als Beleg für das von ihm beschriebene konspirative Kontrollsystem.[7]
Da neben der Militanz der altrechten Bewegungen nun auch die parlamentarischen Bemühungen ungeeignet seien, einen Wandel des Systems herbeizuführen, plädiert Sellner für einen neuen Weg. Im Rahmen der sogenannten Reconquista soll ein sukzessiver Aufbau von „meta-politischen Ressourcen“ generiert werden, die einen sozialen Wandel nach rechts ermöglichen (S. 154). Sellner nimmt sich dabei den Erfolg der 68er-Generation zum Vorbild, welche er als nichtmilitante Pioniere einer geistigen Unterwanderung der politischen Verhältnisse ansieht. Unter der Reconquista von rechts versteht er entsprechend die Etablierung gesellschaftlicher Macht außerhalb des parlamentarischen Betriebs, und zwar als „Ergebnis einer neurechten Weltanschauung in Verbindung mit marxistischer Systemanalyse und Revolutionstheorie sowie progressiv-links-liberaler Praxis“ (S. 158).
Dabei gehe es darum, die „kulturelle Lufthoheit über die Köpfe und Herzen der Menschen“ zu gewinnen, indem der Bevölkerung der Zustand ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit im liberalen System klargemacht werde (S. 160). Indem liberale Geltungsansprüche gezielt infrage gestellt würden, soll die Deutungshoheit über die soziale Realität ins rechte Lager übergehen und die herrschende Klasse zu einer Anpassung ihrer Politik an rechte Ziele gezwungen werden. Als notwendigen Multiplikator, um dieses Etappenziel zu erreichen, sieht Sellner die „anschlussfähige Provokation“ an, mit der ein sukzessiver Tabubruch liberaler Standpunkte erfolgen soll „und die Normalisierung der verfemten Tat oder des verbotenen Begriffs“ erreicht werden könne (S. 166).
Die anschlussfähige Provokation funktioniert dabei primär darüber, dass gesellschaftliche Probleme und soziale Umstände dahingehend übertrieben werden, dass nur eine an radikale Agitation grenzende Antwort als einzig rationale Antwort erscheint. Ergebnis dieser Intervention soll die Diskursverschiebung zugunsten rechter Positionen sein, wobei neben der Etablierung von Begriffen wie „Remigration“ oder „Bevölkerungsaustausch“ auch ein Wandel der Denkstrukturen bewirkt werden soll. Die psychologische Kriegsführung der Neuen Rechten setzt darauf, „ein Bewusstsein für die herrschende Diktatur“ zu generieren (S. 190), womit neben der bestehenden rechten Bewegung vor allem die allgemeine Bevölkerung mobilisiert werden soll. Da zur Mobilisierung der Gesellschaft eine zunehmende „materielle Verschärfung der Lage, das Bestehen von Krisen und Fehlern der machthabenden Elite“ nötig seien (S. 191), setzt Sellner nicht auf eine positive Vision identitärer Gesellschaftsformation, sondern einzig und allein auf die möglichst negative Wahrnehmung der gegebenen Realitäten. Ziel dabei ist es, die Empfänger der Erzählung in einen Zustand wutentbrannter Empörung zu versetzen und damit von der Illegitimität gegebener sozialer Institutionen zu überzeugen.
Um diese geistige Verschärfung innerhalb der Gesellschaft zu erreichen, plädiert Sellner für eine Flexibilität rechten Denkens, um durch Pluralität im eigenen Lager anschlussfähig an eine breite Masse der Bevölkerung zu werden. Überzeugt von dem Mehrwert, den die Adaption linker Theorien bisher für die Ziele der rechten Bewegung hatte, sucht Sellner nach einem antiliberalen Konsens und damit nach Schnittmengen mit anderen politischen Lagern. Als Instrument zur Identifikation dieser Schnittmengen dient ihm die gezielte „Kampagne“, die Sellner als die „Königsdisziplin der Meta-Politik“ bezeichnet (S. 232). Gemeint ist damit eine narrative Intervention, die selbst Themen setzt, „um Solidarität und Akzeptanz der Bewegung rechts der Mitte bis in konservative, libertäre und sozialistische Zusammenhänge“ zu überprüfen und damit neue Zielgruppen für den Widerstand zu gewinnen (S. 242).
Maximilian Krahs antiliberales Manifest
Um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie die von Sellner geforderte metapolitische Kampagne ausgestaltet werden kann, lohnt ein Blick in das 2023 erschienene Buch des EU-Spitzenkandidaten der AfD, Maximilian Krah. Im Sinne der Reconquista als anschlussfähige Wendebewegung einer breiten Masse beinhaltet Krahs Buch eine Systemdiagnose, deren Adressatenkreis weit über das traditionelle rechte Publikum hinausgeht. Dabei soll einer negativen Wahrnehmung der politischen Realitäten in der Bundesrepublik zur Durchsetzung verholfen werden, mit dem Ziel, die Gesellschaft weg von der überwiegend sachlichen Deliberation des liberalen Politikstils hin zu stärker affektgeladenen Formen der Entscheidungsfindung zu lenken.
Krah offenbart diese Intention vor allem durch die Betonung des populistischen Wesens der AfD, deren Erfolgsmodell seit jeher darauf ausgerichtet sei, „Menschen über die Ablehnung einer Entwicklung zu mobilisieren, statt über die Zustimmung zu einer positiven Aussage“.[8] Beflügelt von diesem Erfolg einer Kritik um der Kritik willen setzt sich Krah in seinem Manifest das Ziel, mit der gleichen Taktik ein maximal anschlussfähiges Frustrationsidentifikationsangebot zu politischen und sozialen Verhältnissen zu konstruieren. Schlüssel dafür soll die von Sellner geforderte metapolitische Delegitimierung der Ordnung sein, und zwar durch eine Gesellschaftsanalyse, die bewusst auf der affektiven Ebene ansetzt. Unter Rückgriff auf eine Vielzahl verkürzter libertärer und sozialistischer Argumentationen gegen das herrschende System sucht Krah dem Individuum das Gefühl zu vermitteln, vom bestehenden Gesellschaftsvertrag hinters Licht geführt worden zu sein. Perfide ist diese Intervention nicht nur deshalb, weil sie sich unter dem Vorwand der ideologischen Offenheit einer breiten Bevölkerung anbiedert, sondern auch, weil sie im Kern explizit auf jene zugeschnitten ist, die sich in fragilen Lebenssituationen befinden.
Krahs Manifest für eine Politik von rechts versteht sich als Versuch, die diffuse Wut all jener zu repräsentieren, die sich von der liberalen Demokratie enttäuscht fühlen. Mit seiner vermeintlichen Ursachenforschung liefert Krah ein emotionales Ventil für das empfundene Unbehagen, ohne jedoch Lösungen für die benannten Probleme anzubieten, die das freigesetzte Übermaß an negativen Gefühlen auffangen könnten. Im Gegenteil. Durch die Verknüpfung aller relevanten Themen und Konfliktlinien des deutschen Politikdiskurses – seien sie kultureller, sozioökonomischer oder internationaler Natur – kultiviert Krah bewusst Zorn und Angst und nährt damit Zweifel an jenen Überzeugungen, die das Fundament des liberaldemokratischen bundesrepublikanischen Systems seit dem Niedergang des Nationalsozialismus bilden.
Ausgangspunkt von Krahs Angriff auf das ideologische Fundament des politischen Systems bildet die Kritik an der Herausforderung gelebter Freiheit des Individuums: Diese bestehe darin, dass der bzw. die Einzelne zur Autor:in der eigenen Lebensgeschichte werden müsse. Analog zur Parabel des Großinquisitors in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“, der Jesus dafür kritisierte, den Menschen durch das Geschenk der Eigenverantwortung ihr selbstgewähltes Elend zu überlassen, verurteilt Krah die Selbstbestimmung in einer liberalen Ordnung als untragbare Last, die für die meisten Menschen verheerende individuelle und soziale Konsequenzen habe. Die liberalen Unsicherheiten kämen Krah zufolge sowohl in einer sozialen Entkoppelung und Atomisierung der Gesellschaft zum Ausdruck als auch in der Auflösung von kulturellen Strukturen, anhand derer sich Menschen seit Anbeginn der Geschichte zur Gestaltung ihrer Lebenswege orientiert hätten. Indem die liberale Geisteshaltung „natürliche Maßstäbe“ verwässere und konkrete Merkmale wie die soziale, kulturelle sowie politische Herkunft als Orientierungspunkt für eine persönliche Entwicklung relativiere, werde einem Großteil der Menschen „die Frage nach dem eigentlichen Ich“ untersagt (S. 32).
Die dem Liberalismus zugrundeliegende Vorstellung, dass jeder seinen eigenen Lebenssinn nach Belieben gestalten könne, bleibt Krah zufolge lediglich einer kleinen, reichen Elite vorbehalten, die diese Illusion nutze, um eine sozialdarwinistische Agenda durchzusetzen. Für die übrige Gesellschaft sei die Nachahmung dieses Lebensstils ein Einfallstor für einen selbstgewählten Zustand der Unterwerfung, wobei der gewöhnliche Bürger durch eine Vielzahl unnatürlicher und somit unerfüllbarer Bedürfnisse kontrollierbar gemacht werde. Die im Liberalismus forcierte Reduktion von äußeren Zwängen produziere „eine Generation“, die „nicht mehr eindeutig weiß, wer sie ist, und ihre Haltlosigkeit mit Freiheit verwechselt“ (S. 35). Diese vom „Wokeismus“ gepredigte Haltlosigkeit sei für die individuelle und damit langfristig auch für die gesellschaftliche Entwicklung existenzgefährdend. Identität werde hierbei von einer „Übereinstimmung mit dem, was man ist“ zu einem trügerischen Projekt darüber, „was man gerade gern wäre“ (S. 37). Das liberale Versprechen von Selbstverwirklichung entpuppt sich laut Krah also als eine Illusion, ja vielmehr als ein facettenreicher Weg in die selbstverursachte Entwürdigung. Indem Krah geschiedene Familien, ein unerfülltes Sexualleben, den fehlenden beruflichen Erfolg oder die Irritation über die moderne Komplexität als verhängnisvolle Konsequenzen des liberalen Freiheitsversprechens beschreibt, ermöglicht er, individuelle Frustration vollständig auf systemische Ursachen zurückzuführen (S. 35-62). Darauf verweisend, dass der „ehrliche Einzelne“ in „einer Gesellschaft der Unehrlichen hoffnungslos verloren“ sei (S. 54), richtet Krah seine metapolitische Intervention darauf aus, das Vertrauen in die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung durch ein Gefühl des Betrogenseins zu ersetzen. Wie Morpheus im Film „Matrix“ drängt Krah seinen Rezipienten eine rote Pille über die vermeintlich realen Umstände der liberalen Gesellschaftsordnung auf: Der lange nicht erkannte Zustand des Betrogenwerdens habe die deutsche Bevölkerung zur Sklavin ihrer Illusion von einer Freiheit gemacht, die dem Kontrollverlust der Vielen und der Privilegierung der Wenigen diene.
Das Narrativ von der »betrogenen Gesellschaft«
Im Sinne der Pluralisierung des rechten Denkens als Voraussetzung für den metapolitischen Landgewinn bringt Krah vielfältige systemische Argumentationen gegen die Legitimität des Liberalismus ins Spiel. Analog zu Sellner identifiziert er als Quelle des Betrugs der Gesellschaft das deutsche Geschichtsverständnis, welches durch einen Schuldkomplex gegenüber der gesamten Welt geprägt sei und damit eine „juristisch schwer fassbare Menschenwürde“ zur Richtschnur der Politik mache (S. 84). Unter Verweis auf den apodiktischen Nihilismus des Kronjuristen der Nationalsozialisten, Carl Schmitt, der behauptete, dass jeder, „der von der Menschheit spricht“, lediglich betrügerische Absichten hege (S. 71), kritisiert Krah die Weltbezogenheit des liberalen Demokratiebegriffs als perfiden Trick jener, die in Wirklichkeit Nutznießer der liberalen Freiheit seien. Der Fetisch von Liberalismus und Menschenwürde habe nämlich zu einer „autoritative[n] Festlegung des globalen Gemeinwohls durch eine Elite“ geführt (S. 72), durch die der nach Freiheit strebende Mensch mit einem immer weiter expandierenden Zwangsstaat konfrontiert werde.
In typisch libertärer Manier vor der Tyrannei des „tiefen Staats“ warnend, versucht Krah, verschiedene Krisen externen Ursprungs als Produkte elitärer Machenschaften darzustellen. Dabei suggeriert er, die deutsche Politik sei von einer Sphäre des Handelns in einen obrigkeitshörigen Zustand des masochistischen Ertragens partikularer Fetischismen übergegangen. Beispielhaft hierfür seien Masseneinwanderung, Pandemiegesetze und verschiedene Klimaschutzmaßnahmen. Sie dienten als Instrumente eines umfassenden Staatswesens, mittels derer die Freiheit der autochthonen Mehrheit einer raffgierigen Minderheit geopfert werde (S. 83-88). Für Krah stellt die Tragödie des deutschen Falls lediglich einen Aspekt eines umfassenderen Unterdrückungsprogramms dar, in dem die Politik den Partikularinteressen einer wohlhabenden Elite unterworfen werde – ein Prozess, der sich seit dem Ende des Kalten Krieges im Rahmen des ideologischen Prestigeprojekts des „Globalismus“ in allen Teilen der Welt ausbreite. Um diese manichäische Argumentation zu bekräftigen, bedient sich Krah Diskursfragmenten einer sozialistischen Kritik, durch die er den Liberalismus im Allgemeinen und den Kapitalismus im Besonderen als imperialistische Herrschaftsmethoden zu entlarven versucht. Nach einer langen Periode der gewinnbringenden Ausbeutung der nichtwestlichen Welt verlange die Expansionslogik des liberalen Globalismus nun danach, die ihr inhärente Profitgier durch die Anwendung kolonialer Praktiken gegenüber der heimischen Bevölkerung zu befriedigen.
Die Profiteure des liberalen Globalismus sind laut Krah die sogenannten anywheres (S. 141) – international orientierte, mobile Menschen, die wenig identitäre Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft verspürten und deren Ausbeutungspläne daher in keinen Loyalitätskonflikt mit dieser gerieten. Personifiziert werde dieser Elitismus der globalen Unterdrückung durch den Multimilliardär Georg Soros und den Vorsitzenden des Weltwirtschaftsforums in Davos, Klaus Schwab. Als Duo Infernale verursachten die beiden maßgeblich weltweite Konflikte und ökonomische Rezession. Während er in Soros den heimlich agierenden Verschwörer eines „Menschenrechtsimperialismus“ sieht, der zur „Durchsetzung der linksliberalen, woken Agenda“ weltweit Konflikte anheize (S. 124), stehe Klaus Schwab für den „großen Neustart“ und die damit einhergehende ökonomische Verarmung der kleinen Leute (S. 123, 132-136). Dass dieser intendierte „Wahnsinn“ einer globalen, ausländischen Elite mit einer ausbeuterischen Praxis ihrer Vertreter im Inland verknüpft sei, will Krah anhand des vermeintlich „parasitären Sozialisierungseffekts“ des deutschen Sozialstaats verdeutlichen. Obwohl er in althergebrachter rechtsradikaler Manier erwerbslose „Afrikaner:innen“ als Ursprung des gesamtgesellschaftlichen Elends ausmacht, wähnt er diese selbst als Opfer einer liberalen Globalherrschaft. Geplagt mit niedrigem IQ und unfähig, sich den sozialen Anforderungen der westeuropäischen Umwelt anzupassen, würden die afrikanischen Migrant:innen durch die Raffgier der Kapitalelite in ein System getrieben, welches um seiner selbst willen funktioniere. Der stetig wachsende Sozialstaat fungiere dabei als Selbstbedienungsladen einer Heerschar von Beamten, deren Aufgabe es sei, die menschlichen Kollateralschäden eines stetigen Flusses billiger Arbeitskräfte in einem ausbeuterischen Markt zu verwalten. Die „vernünftige Mitte“ der deutschen Leistungsgesellschaft werde Krah zufolge damit von oben wie von unten durch ein parasitäres Ausbeutungsprinzip angegriffen (S. 153-156).
Krahs offensichtliche Intention dabei ist es, die liberale Gesellschaft als eine Masse von Verlierer:innen darzustellen, die sich in einem Zustand der sozialen Desintegration befände. Während unter den sozial Bedürftigen ein Kampf der Kulturen vorbereitet wird, bei dem die Migrant:innen als Grund für die marginalen Sozialleistungen der autochthonen Deutschen herhalten müssen, dient deren Elend als Projektionsfläche für eine Kanalisierung des Frusts der mittleren Einkommensschichten der Gesellschaft: Letztlich geht es darum, politisches Kapital aus der Reziprozität von Sozialneid nach oben und Wohlfahrtsneid nach unten zu schlagen (S. 211). Krah suggeriert so ein Szenario des sozioökonomischen Überlebenskampfes, mit dem die diffusen Abstiegsängste aller Gesellschaftsschichten bespielt werden können.
Frontalangriff auf das Konkordanzsystem
Wer sich nach all dieser Kritik einen tiefgründigen Gegenentwurf, ja eine rechte Alternative erhofft, wird jedoch weitestgehend enttäuscht. Appelle für eine „Rückbesinnung auf die natürliche Ordnung“ und eine Staatskonzeption im Sinne einer „Stärkung der Identität als Einzelner, als Mann und Frau, als Familie, lokale Gemeinschaft“ bleiben bloße Worthülsen, die für die Romantisierung einer nostalgischen Vorstellung von einer Conservative New Worldder 1950er Jahre stehen (S. 88). Dass sich Krah der Konkretisierung eines solchen Gesellschaftsmodells verweigert, erklärt sich indessen aus dem eigentlichen metapolitischen Zweck dieser kulissenhaften Kritik an der vermeintlichen Entfremdung von einer idealisierten Vergangenheit. Als Utopie einer persönlichen Glückseligkeit, die das Individuum von sozialer Komplexität und damit den Herausforderungen einer flexiblen Strebsamkeit erlöst, fungiert sie lediglich als Katalysator für die soziale Wut über die Gegenwart.
Während die diffuse Wut für das Individuum als eine Art Kompensationsmechanismus gegen das subjektive Gefühl der Ohnmacht fungiert, erfüllt sie im politischen Kalkül Krahs einen strategischen Zweck. Da ihm zufolge „der notwendige Umbau“ der Ordnung nicht an den Mehrheiten für rechte Politik, sondern vor allem an den „Beharrungskräften der überkommenen Strukturen und der an sie gebundenen Vorstellungen“ scheitert (S. 210), müsse man den akkumulierten Zorn kanalisieren, um jene sozialen und individuellen Selbstverständlichkeiten zu demontieren, auf denen die sozialen Interaktionen des liberalen Systems basieren. Die Macht des vermeintlich totalitären Wesens der Bundesrepublik zu brechen, müsse laut Krah damit beginnen, dass sich die Gesellschaft vom herrschenden Diktat einer liberalen Interaktionslogik befreit, welche die Politik dazu verpflichtet, durch inklusive Kommunikation und konsensfähige Entscheidungen Brücken zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien zu schlagen. Durch die Wut soll der Bürger wieder zu jenem „Grundakt der Politik“ zurückgeführt werden, der gemäß Carl Schmitt darin besteht, „den Feind zu definieren“ und sich damit bewusst von einem universellen Blick auf die Menschheit abzuwenden (S. 205).
Krahs Schrift als Element der von Sellner formulierten rechten Reconquista zu lesen bedeutet, sie als Frontalangriff auf die für eine liberaldemokratische Gesellschaft konstitutive Bereitschaft zur Konkordanz zu verstehen. Vor jeder rechten Programmatik verfolgt Metapolitik eine Rekalibrierung liberaldemokratischer Emotions- und Denkstrukturen auf die Prinzipien von „Selbsterhaltung und Selbstbehauptung“, um die Gesellschaft in eine politische Welt der Gegnerschaft zu überführen, in der die rechte Ideologie seit jeher einen Heimvorteil geltend machen kann (ebd.).
Das trojanische Pferd der autoritären Revolte und die Bedingungen der Brandmauer gegen rechts
Dass der von der rechten Reconquista angestrebte lange Weg hin zu einer Politik der Feindschaft offenbar geglückt ist, verdeutlichen abseits des wachsenden Zuspruchs für die AfD deren Erfolge, den politischen Betrieb im Sinne eines geistigen Bürgerkrieges zu gestalten. Die Früchte dieser metapolitischen Kur zeigen sich beispielsweise in den Erkenntnissen der sogenannten Mitte-Studie, die seit mehreren Jahren offenlegt, wie ein stetig wachsender Anteil der Bevölkerung, unabhängig von ihrer politischen Selbstpositionierung, durch eine gesteigerte Krisenwahrnehmung anfälliger für die Programmatik eines antagonistischen Politikstils wird.[9] Diese Nachfrage nach demokratiegefährdendem Gedankengut spiegelt sich vor allem in einem sich sukzessiv verändernden politischen Angebot in der deutschen Parteienlandschaft wider. Neben diversen populistischen Parteineugründungen mit ähnlichem Profil wie dem der AfD, von Maaßens Werteunion bis Wagenknechts BSW, manifestiert sich diese Demokratiegefährdung auch in den zunehmend antagonistischen Tendenzen zwischen den politischen Akteuren, die seit Jahrzehnten das politische Konsenssystem geprägt haben.
Sowohl der Streit über das Gebäudeenergiegesetz als auch der über die Agrardieselsubventionen und die sogenannten Bauernproteste zeigen, dass die konservative Opposition aus CDU/CSU ohne konkrete Gegenvisionen auf maximale Konfrontation setzt, um das schon von Beginn an konfliktgeplagte Ampelprojekt zum eigenen politischen Vorteil zu delegitimieren. Problematisch ist diese Frontalhaltung vor allem deshalb, weil sie sich inhaltlich mit der Fundamentalkritik der Neuen Rechten vergleicht, diese jedoch unter scheinbar legitimen Prämissen zu verkaufen versucht.[10] Damit legitimiert sie nicht nur spezifische Geisteshaltungen im Sinne einer Diskursverschiebung nach rechts, sondern torpediert ein zukünftiges parlamentarisches Arrangement aller liberaldemokratischen Parteien, welches angesichts von Wahlszenarien wie in Thüringen oder Sachsen immer notwendiger erscheint.
Eine Bedingung für eine Brandmauer gegen rechts wäre dagegen, jenseits des unmissverständlichen Bekenntnisses aller Parteien zum Grundgesetz, dass diese ihr eigenes Politikangebot nicht auf Kosten einer vollständigen Negierung der bestehenden Politik und der ihr inhärenten Begrenzungen formulieren. Letzteres wirkt nicht nur selbstentlarvend und unglaubwürdig, sondern verkennt auch, dass die Gestaltung von Politik im bundesdeutschen System immer auch diverse Pfadabhängigkeiten berücksichtigen muss. Die Akteure des politischen Betriebs sollten sich daher zur politischen Komplexität bekennen und dazu verpflichten, ihre Alternativangebote so zu formulieren, dass damit nicht die Funktionslogik des Konsenssystems infrage gestellt wird. Wenn sich dagegen selbst der Kanzler angesichts der durch die sogenannte Flüchtlingskrise gefühlten Unsicherheiten einen politischen Vorteil davon verspricht, dass er Abschiebungen „im großen Stil“ ankündigt, obwohl diese faktisch gar nicht möglich sind, kann dies durchaus als Etappensieg der rechten Bürgerkrieger und ihres Freund-Feind-Denkens interpretiert werden.[11] Demokratie tatsächlich wehrhaft zu machen, erfordert eben nicht nur, ideologische Überzeugungsarbeit für den Wert dieser Ordnung zu leisten, sondern auch und vor allem eben jener Logik der Feindschaft zu widerstehen, die die Grundprinzipien untergräbt, auf denen das liberaldemokratische System gerade basiert.
[1] Thomas Assheuer, Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos, in: „Blätter“, 1/2023, S. 49-60.
[2] Götz Kubitschek, Provokation, Schnellroda 2007.
[3] „In Deutschland tobt ein geistiger Bürgerkrieg“ – Götz Kubitschek begrüßt 160 Schüler und Studenten, youtube.com, 25.9.2023.
[4] Thor von Waldstein, Metapolitik: Theorie – Lage – Aktion, Schnellroda 2015.
[5] Helmut Kellersohn, „Es geht um Einfluss auf die Köpfe“ – Das Institut für Staatspolitik, bpb.de, 7.7.2016.
[6] Martin Sellner, Regime Change von rechts: Eine strategische Skizze, Schnellroda 2023
[7] Martin Sellner, Repression? Fünf Mal „Danke” an Ministerin Faeser, sezession.de, 21.2.2024.
[8] Maximilian Krah, Politik von rechts: Ein Manifest, Schnellroda 2023, S. 200-201.
[9] Andreas Zick, Beate Küpper und Nico Mokros, Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/2023, Bonn 2023.
[10] Alisha Mendgen, „Alternative für Deutschland mit Substanz“: Merz löst Kopfschütteln in der CDU aus, rnd.de, 21.7.2023.
[11] „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“, Int. mit Olaf Scholz, in: „Der Spiegel“, 21.10.2023.