
Bild: Zwei Kinder im Flüchtlingslager der Stadt Adwa, 20.5.2024 (IMAGO / ZUMA Press Wire / Ximena Borrazas)
Es war einer der tödlichsten Konflikte der Welt, der Krieg in der äthiopischen Region Tigray. Im Zuge der Kämpfe zwischen der äthiopischen Armee – unterstützt durch das eritreische Militär sowie die Fano-Miliz des benachbarten äthiopischen Regionalstaates Amhara –, und der Armee der Regionalregierung von Tigray starben nach Schätzungen der Afrikanischen Union innerhalb von nur zwei Jahren mindestens 600 000 Menschen. Viele der Opfer kamen dabei nicht durch direkte Kampfhandlungen ums Leben, sondern durch Hunger, der zum Teil als Waffe eingesetzt wurde, sowie durch Krankheiten. Etliche medizinische Einrichtungen wurden gezielt zerstört, woraufhin die medizinische Versorgung weitgehend zusammenbrach. Alle Konfliktparteien sollen sich der Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben.
Seit der Krieg am 2. November 2022 offiziell beendet wurde, ist Äthiopien weitgehend aus den Nachrichten verschwunden. Zu Unrecht – denn obwohl die beiden Hauptkriegsparteien damals im südafrikanischen Pretoria ein vor allem von der Afrikanischen Union, den USA und dem ehemaligen kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta mühsam ausgehandeltes Abkommen über die dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten unterzeichneten, hat der Waffenstillstand nicht zu einem stabilen Frieden geführt. Im Gegenteil: In Äthiopien spitzt sich gegenwärtig eine vielschichtige Krise zu – mit einer dramatischen humanitären Komponente.
Ein Grund dafür ist das Fehlen wichtiger Gewaltakteure am Verhandlungstisch in Pretoria. Hier saßen damals die äthiopische Regierung unter Ministerpräsident Abiy Ahmed und die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) – die Partei war die beherrschende Kraft in der Koalition „Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker“, die Äthiopien zwischen 1991 und 2019 regierte und in der Region Tigray weiterhin an der Macht ist. Als Ahmed ab 2018 als erster Angehöriger der Oromo – der größten äthiopischen Volksgruppe – das Amt des Regierungschefs übernahm, weitreichende Reformen anstieß und einen Frieden mit dem Nachbarland Eritrea schloss, fühlte sich die einst einflussreiche TPLF zunehmend marginalisiert. 2019 zog sie sich aus der Regierungskoalition zurück, im November 2020 eskalierte schließlich der Streit zwischen der TPLF und der Regierung um die Kontrolle der Region Tigray.[1] Hingegen waren bei den Friedensverhandlungen weder Repräsentanten des Nachbarlandes Eritrea vertreten, dessen Armee ja an der Seite der äthiopischen Streitkräfte massiv in die Kämpfe mit der TPLF eingegriffen hatte, noch Mitglieder der bereits erwähnten Fano-Miliz. Ihre Abwesenheit bei den Friedensverhandlungen bildete den Keim für weitere Konflikte. Zudem ist der Status von umstrittenen Gebieten im Westen Tigrays trotz des „Pretoria Agreements“ weiterhin ungeklärt.
Nicht nur dort, sondern in mehreren Regionen Äthiopiens sind die Auswirkungen des verheerenden Kriegs in Tigray noch immer zu spüren. So lösten die Kämpfe zwischen der Regierung unter Abiy Ahmed und der Regionalregierung von Tigray Konflikte im benachbarten Regionalstaat Amhara aus und griffen zeitweise auch auf die Region Afar über. In Amhara kämpft die Fano-Miliz, die während des Tigray-Kriegs noch mit der Regierung verbündet war, inzwischen gegen die äthiopische Armee. Hintergrund ist der Versuch der äthiopischen Regierung, die Ausbreitung von Gewaltakteuren, die durch den Krieg in Tigray noch zugenommen hatte, wieder unter Kontrolle zu bekommen. In diesem Zusammenhang versuchte sie unter anderem, die Fano-Milizen aufzulösen, was diese als Kriegserklärung verstanden.
Im Westen der zentraläthiopischen Region Oromia, die die Hauptstadt Addis Abeba umschließt, profitierten Rebellen der Oromia Liberation Army (OLA) von dem Sicherheitsvakuum während des Tigray-Konfliktes und dehnten ihren schon lange währenden Aufstand gegen die Regierung aus. Die OLA ist die verbotene Splittergruppe der ehemals verbotenen Oppositionspartei Oromo Liberation Front (OLF), die 2018 aus dem Exil zurückkehrte. Die OLA erklärt ihren Kampf gegen die Regierung mit einer angeblichen Benachteiligung der Menschen in Oromia. Dort wie auch in Amhara wird die Bevölkerung zum Opfer zwischen Milizen und Armee, etliche Übergriffe scheinen ethnisch gefärbt zu sein. Die beiden Regionen sind allerdings nicht die einzigen Krisenherde.
Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat mit über 80 ethnischen Gruppen. Das föderale System des Landes beruht zwar auf dem Prinzip ethnischer Selbstbestimmung, doch die Parteienkoalition, die bis 2019 regierte, hat die Forderungen ethnischer Gruppen zumeist unterdrückt – offiziell, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Mittlerweile tragen jedoch Dutzende ethnische Gruppen ihre konkurrierenden Ansprüche auf Land, Ressourcen und politische Einflussmöglichkeiten vor und machen ihrem angestauten Frust der vergangenen Jahrzehnte Luft. Dadurch sind ethnische Spannungen und Gewaltkonflikte in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß eskaliert. In Teilen des Landes hat das zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung geführt.
Aufgeweichtes Gewaltmonopol
Wie sehr die weit verbreitete Unsicherheit in den Alltag der Menschen hineinreicht, zeigt ein Beispiel aus Oromia: Ein Amhare, der namentlich nicht genannt werden möchte und für eine internationale Organisation arbeitet, erzählte, er habe seine Familie schon seit zwei Jahren nicht mehr besuchen können. Denn dafür müsste er von seinem Wohnort Addis Abeba aus mit dem Auto durch Oromia fahren, und das sei viel zu gefährlich, die Gefahr, entführt zu werden, zu groß.
Ein politischer Beobachter, der ebenfalls anonym bleiben möchte, bestätigt das. Kaum jemand sei noch bereit, sich weiter als 100 Kilometer aus Addis Abeba hinauszubewegen – es sei denn mit dem Flugzeug. Das Problem seien in erster Linie kriminell motivierte Entführungen, um Lösegeld zu erpressen, und Straßenüberfälle. In weiten Teilen Äthiopiens habe sich „eine gewisse Gesetzlosigkeit“ ausgebreitet. „Es gibt eine Aufweichung des staatlichen Gewaltmonopols“, also eine Vielzahl bewaffneter Banden und Gruppen, aber durchaus auch politisch motivierte Milizen. Unter ihnen ist auch die OLA, der es zwar nicht gelang, ein Gebiet dauerhaft unter ihre Kontrolle zu bringen, die aber die staatlichen Sicherheitskräfte mit einer permanenten Hit-and-Run-Strategie zermürbt.
Auch internationale Medien können sich in Äthiopien nur sehr eingeschränkt bewegen, die eigene Anschauung bleibt also zwangsläufig begrenzt. Für Reisen nach Tigray oder Amhara etwa wird die Akkreditierung, die journalistische Arbeitserlaubnis, nicht erteilt. Darin spiegelt sich eine zunehmende Feindseligkeit der Regierung gegenüber ausländischen Medien wider. Anfang 2023 wurde diese besonders deutlich, als die Behörden laut der internationalen Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (RoG) rund 15 ausländische Fernsehsender suspendierten, weil sie angeblich ohne Lizenz gearbeitet hätten.[2] So liegt die Berichterstattung vor allem in den Händen der äthiopischen Journalistinnen und Journalisten. Sie haben leichteren Zugang, sind dafür aber Übergriffen ihrer Regierung schutzlos ausgeliefert. Schon während des Kriegs in Tigray verstärkten sich die Übergriffe auf Medienschaffende, mehrere Journalistinnen und Journalisten wurden RoG zufolge unter ungeklärten Umständen getötet. Das harte Vorgehen gegen Pressevertreter habe sich seit Beginn der Spannungen in der Amhara-Region weiter verschärft. Viele Reporter, deren Berichterstattung über den Tigray- und den Amhara-Konflikt nicht mit der Regierungslinie übereinstimmte, seien unter schweren Anschuldigungen wie „Förderung des Terrorismus“ festgenommen worden. Manchmal würden Journalisten gar in Militärlagern mitten in der Wüste eingekerkert.
Die Politik mit dem Hunger
Die Krise in Äthiopien hat aber auch eine dramatische humanitäre Komponente: Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) benötigen in den drei nordäthiopischen Regionen Amhara, Afar und Tigray derzeit neun Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe. Nahezu 40 Prozent der Menschen in Tigray leiden demnach unter extremem Nahrungsmittelmangel.[3] Nach Schätzungen der UNO sind etwa 4,5 Millionen Menschen im gesamten Land auf der Flucht, zwei Drittel von ihnen aufgrund von Konflikten.[4] Und das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN-OCHA) befürchtet, dass der Höhepunkt der Not erst noch bevorsteht: In der sogenannten Lean-Season, die bis September dauert – den Monaten vor der nächsten Ernte –, könnte die Zahl derjenigen, die hungern oder nicht wissen, wo sie ihre nächste Mahlzeit hernehmen sollen, auf 10,8 Millionen steigen.
Die weit verbreitete Not ist laut den Vereinten Nationen eine Folge der Konflikte, aber auch von schweren Dürren und Überschwemmungen, Krankheiten, fehlendem Zugang zu medizinischer Versorgung und einseitiger Ernährung. In den vergangenen Monaten sind in Äthiopien infolge einer extremen Trockenzeit mehrere Millionen Rinder, Ziegen, Schafe und Kamele gestorben. Das Land leidet seit Monaten unter einer schweren Dürre, die durch das El-Niño-Klimaphänomen besonders ausgeprägt ist. Betroffen seien vor allem der Norden und einige Teile im Süden Äthiopiens, sagt Yousaf Jogezai, Leiter des Landesbüros der Deutschen Welthungerhilfe. „Wegen der Trockenheit ist die Ernte im Herbst letzten Jahres viel zu gering ausgefallen“, erklärt Jogezai. Und er warnt: „Millionen von Menschen werden in den kommenden Monaten Lebensmittelhilfe benötigen.“
Die extreme Trockenheit ist allerdings nicht das einzige Problem: Auf die Dürre folgten in vielen Landesteilen extreme Starkregenfälle, die schwere Überschwemmungen verursachten – und den Tod weiterer Tiere. „Manche Gemeinschaften haben ganze Herden verloren“, beschreibt die australische Hebamme und Krankenschwester Valerie Browning, Leiterin der von ihr vor Jahrzehnten gegründeten Afar Pastoralist Development Association (APDA), einer Hilfsorganisation der Afar-Volksgruppe, in einer E-Mail im April. „Die Tiere schliefen in Flussbetten, die normalerweise ausgetrocknet sind, und wurden von den Fluten mitgerissen.“ Ausgehungert und plötzlich Nässe und Kälte ausgesetzt, seien Menschen und Tiere kaum in der Lage, Krankheitserregern wie Cholera zu widerstehen. Tatsächlich brach nach UN-Angaben in mehreren Regionen Cholera aus, rund 590 000 Menschen seien von den Überschwemmungen betroffen. Etwa 95 000 Menschen hätten ihre Dörfer aufgrund der Wassermengen verlassen müssen. Nach Angaben des UN-Büros für humanitäre Hilfe werden in diesem Jahr mehr als 21 Millionen Menschen in Äthiopien auf humanitäre Hilfe angewiesen sein.
Valerie Browning begegnen Hunger und schwere akute oder chronische Mangelernährung regelmäßig in ihrem Alltag. Die heute 73-Jährige ist mit den Teams von APDA zu Fuß oder mit Kamelen auch in abgelegenen Gegenden unterwegs, um Impfprogramme durchzuführen, Kleinkinder, Schwangere und stillende Mütter zu betreuen. Vor allem Kinder und Schwangere litten unter dem Nahrungsmittelmangel: „Die Kinder können sich körperlich nicht richtig entwickeln, das Immunsystem wird nicht ausgebildet, und auch geistig bleiben sie zurück.“
Ministerpräsident Ahmed nutzt den Hunger indes, um seine Gegner zu diskreditieren. Als Getachew Reda, Präsident der regionalen Übergangsregierung von Tigray, im Februar erklärte, mehr als 90 Prozent der Bevölkerung in Tigray liefen Gefahr zu hungern oder gar zu sterben, kritisierte die Regierung diese Warnung: Sie sei „nicht akkurat“, Getachew „politisiere die Krise“. Erst nach heftiger Kritik nahm die Regierung den Vorwurf wieder zurück. Letztlich ist auch ihr der Ernst der Lage bewusst, sie kooperiert mit dem UN-Welternährungsprogramm und den ausländischen Hilfswerken.
Wie aber kann die Versöhnung der äthiopischen Gesellschaft mit ihren 123 Millionen Einwohnern gelingen – und damit zumindest eine der Ursachen für das große humanitäre Leid beseitigt werden? Zu den Lieblingsnarrativen des Ministerpräsidenten gehört die Erzählung vom Nationalen Dialog. Die Vorbereitungen dazu wurden schon vor dem Ende des Tigray-Krieges getroffen, nämlich im Februar 2022. Damals wurden elf Mitglieder einer Äthiopischen Nationalen Dialogkommission ausgewählt, von oberster Stelle und ohne transparentes Verfahren, wie Ulf Terlinden, Leiter des Horn-von-Afrika-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, berichtet. Die Kommissare und einige Kommissarinnen sollen die Teilnehmer des Dialogs bestimmen, die Tagesordnung festlegen und helfen, die verschiedenen Gruppen miteinander zu versöhnen. „Aber sie sind in den zweieinhalb Jahren, seit sie ernannt wurden, im Grunde mit dem Prozess nicht vorangekommen“, kritisiert Terlinden.
Insgesamt scheint es wenig wahrscheinlich, dass eine Befriedung und Versöhnung der durch den Krieg und die anhaltenden Konflikte zerrissenen und traumatisierten äthiopischen Gesellschaft durch diesen von der Regierung kontrollierten Dialog erreicht werden kann. Die bewaffnete Opposition, allen voran die amharische Miliz Fano und die OLA der Oromo, ist nicht vertreten, ebenso wenig die zahlreichen unbewaffneten politischen Gruppen, die ihnen zum Teil nahestehen. Der politische Raum in Äthiopien sei derart eingeschränkt, dass zahlreiche relevante Akteure und Parteien kein Vertrauen in den Dialog hätten, so Terlinden. Eine weit verbreitete Einschätzung in der äthiopischen Zivilgesellschaft laute, „dass man sich dem Nationalen Dialog derzeit nicht mit Kritik widersetzen sollte“. Das sagt viel aus über die momentanen Realitäten in Äthiopien, wie auch über die Chancen einer wirklichen Aussöhnung.
[1] Vgl. Bettina Rühl, Äthiopien vor dem Zusammenbruch?, in: „Blätter“, 1/2021, S. 29-32.
[2] Vgl. RSF, Africa. Ethiopia, rsf.org.