Ausgabe September 2024

Feindbild »Sozialschmarotzer«: Die Demontage des Bürgergelds

Friedrich Merz in Saarlouis, 22.5.2024 (IMAGO / BeckerBredel)

Bild: Friedrich Merz in Saarlouis, 22.5.2024 (IMAGO / BeckerBredel)

Im März startete die CDU eine Kampagne gegen das Bürgergeld, das sie 2022 im Bundesrat mitbeschlossen hatte. Kurz darauf verschärfte die Ampelkoalition die Bedingungen für Bürgergeldbeziehende. Die Kürzungen und die Debatte um angebliche Totalverweigerer hält Helena Steinhaus, Gründerin der Initiative Sanktionsfrei e.V., für eine Schande in einem demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Land.

Innerhalb kürzester Zeit hat sich das Bürgergeld vom angeblichen Heilsbringer zum am meisten kritisierten politischen Projekt der Ampel entwickelt. Kaum war das Bürgergeld beschlossen, fingen CDU und AfD auch schon an, es zu dämonisieren: „Wir wollen das Bürgergeld der Ampel in dieser Form wieder abschaffen“, sagte der Bundesvorsitzende der CDU, Friedrich Merz, im Mai. Und, voilà, nicht nur die Opposition haut drauf, auch die Ampel selbst nutzt jede Haushaltsverhandlung, um die wenigen Fortschritte im Bürgergeld wieder rückgängig zu machen. Was ist da eigentlich los?

„Für mehr als fünf Millionen Erwachsene und Kinder in der bisherigen Hartz-IV-Grundsicherung”, fasste die „Tagesschau“ das Ergebnis der wochenlangen Debatte Ende 2022 zusammen, „werden unter anderem die monatlichen Zahlungen ab Jahresanfang deutlich erhöht.“ Das klang super. Die meisten Menschen dachten deshalb vermutlich, das Bürgergeld sei eine echte Verbesserung. Stimmt aber nicht. Die „Erhöhungen“ waren lediglich Inflationsausgleiche, die obendrein zu spät kamen. Die Kaufkraft der Menschen hat sich gegenüber Hartz IV Nullkommanull verbessert. Für die Betroffenen hat sich so gut wie gar nichts geändert.

„Respekt und Augenhöhe“ wurden bei der Einführung des Bürgergeld versprochen. Aber sorry: Beides hat sehr viel mit einer ausreichenden materiellen Grundlage zu tun – und damit, dass diese unantastbar bleibt. Diese aber haben die Menschen im Bürgergeldbezug noch immer nicht. Es war nie eine echte Reform, nie eine echte Modernisierung. Das Bürgergeld blieb eine Notversorgung, ein Existenzminimum mit einem Regelsatz, der seit Jahrzehnten fernab jeder Realität errechnet wird. Aber es war ein neuer Name, um der SPD zu helfen, ihr „Hartz-Trauma“ zu überwinden.

Es scheint vergessen, aber 2022 hat auch der CDU-dominierte Bundesrat nach zähen Verhandlungen im Vermittlungsausschuss dem Bürgergeld mehrheitlich zugestimmt. Auch sie, einschließlich Carsten Linnemann, Jens Spahn und Friedrich Merz, stimmten dafür. Heute wollen sie davon nichts mehr wissen. Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner war ebenfalls vom Bürgergeld begeistert. Dabei zeige sich die Erneuerung des Aufstiegsversprechens. Er sprach von „Lebenslaufsouveränität“. Auch er will davon heute nichts mehr wissen. Stattdessen behauptet er nunmehr, durch das Bürgergeld werde das „Gerechtigkeitsgefühl“ verletzt, weswegen es deutlich verschärft werden müsse. Und tatsächlich: Innerhalb kürzester Zeit hat die Ampel ihre eigene Reform jetzt quasi abgeschafft.

Als erstes wurden im April 2024 die „Totalsanktionen“ wieder eingeführt, also die völlige Streichung staatlicher Unterstützung. Schon wer zum zweiten Mal ein „zumutbares Angebot“ ablehnt, gilt als „Totalverweigerer“ und soll entsprechend ohne Geld bleiben. So sollen die Menschen ohne jegliche Verhandlungsgrundlage in – egal wie miese – Jobs gedrängt und der Niedriglohnsektor versorgt werden. Und das, obwohl selbst das Forschungsinstitut der Agentur für Arbeit im November 2022 zu dem Schluss kam, dass Sanktionen keine nachhaltig positiven Effekte auf die Integration in den Arbeitsmarkt haben.[1] Negativfolgen von Sanktionen dagegen sind schon lange bekannt, wie aus demselben Bericht hervorgeht.

»Die Sanktionspraxis bei Hartz IV wurde vom Bundesverfassungsgericht als teilweise verfassungswidrig eingestuft.«

Weitere gravierende Verschärfungen wurden in erstaunlicher Einigkeit kurz vor dieser Sommerpause auf Regierungsebene beschlossen und der Öffentlichkeit im Rahmen des „Wachstumspakets“ – was für ein Euphemismus für ein Sparpaket! – schmackhaft gemacht. Als Finanzminister steht Lindner auf der Schuldenbremse, um seiner Partei wenigstens ein einziges Alleinstellungsmerkmal zu sichern.

Durch die Verschärfungen soll angeblich Gerechtigkeit im unteren Lohnsegment hergestellt werden. Wer an dieser Stelle stolpert, weil dabei doch ein höherer Mindestlohn helfen würde, ist auf der richtigen Fährte.

Man sollte dafür wissen, dass die Reform von Hartz IV notwendig wurde, weil das Bundesverfassungsgericht die 15 Jahre geltende Sanktionspraxis teilweise als verfassungswidrig eingestuft hatte. Anderthalb Jahrzehnte hatte der Staat verfassungswidrig einen Strafautomatismus vollzogen, durch den er Leistungsbeziehenden in vielen Fällen unwiderruflich für drei Monate bis zu hundert Prozent der Sozialleistungen entzog. Seit dem Urteil Ende 2019 des BVerfG durften die Jobcenter noch maximal einen Teil der Leistungen einbehalten, um „Mitwirkungspflichten“ durchzusetzen, höchstens aber 30 Prozent. Außerdem muss eine Sanktion durch kooperatives Verhalten gestoppt werden können. Ein Schlupfloch im Urteil macht nun jedoch Totalsanktionen wieder möglich. Es ist jedoch mehr als zweifelhaft, ob dieses Vorgehen tatsächlich im Einklang mit der Verfassung steht. Allerdings wird es Jahre dauern, bis das höchste Gericht nach neuen Klagen dazu erneut urteilen wird. Menschenwürde? Für Erwerbslose gilt sie maximal ein kleines bisschen.

Wann und für wen die Menschenwürde zu schützen ist, da sprechen inzwischen Rechtsextreme munter mit. Die AfD, die seit Jahren knallharte Klientelpolitik für Unternehmen und Reiche betreibt, wird trotzdem immer wieder als „Anwalt der kleinen Leute“ gelabelt. Ihre Sozialpolitik ist im Kern von rassistischer und sexistischer Ideologie geprägt. So strebt sie eine Steigerung der Geburtenrate durch eine Hausfrauen- und Mutter-Familienpolitik an, das Abtreibungsrecht will sie massiv einschränken und Zuwanderung maximal begrenzen. Die Kernerzählung zum Bürgergeld ist für die AfD, im Nazijargon ausgedrückt, dass dem guten, arbeitsamen Volk die „arbeitsscheuen Schmarotzer“ und „volksfremden Schädlinge“ gegenüberstehen. Diese so diffamierten Gruppen seien, so die AfD-Polemik, die Hauptprofiteure des Bürgergelds.

Angesichts der Stimmengewinne der AfD finden solche menschenrechts- und demokratiefeindlichen Positionen mittlerweile auch bei den Unionsparteien Anklang. Mit Aussagen wie der, wenn „eine generelle Streichung durch die Rechtsprechung [...] nicht gedeckt ist, sollten wir eben die Verfassung ändern“, passt zwischen Unionspolitiker wie Jens Spahn und die AfD in der Frage kein Blatt Papier mehr.

»Verschärfte Sanktionen und ein niedriger Regelsatz bei gleichbleibenden Löhnen subventionieren den Niedriglohnsektor.«

Leider glaubt die Union, Wählergruppen zurückgewinnen zu können, indem sie extrem rechte Positionen übernimmt. Auch die FDP hofft, mit populistischen Statements in diesem Milieu Stimmen abfischen zu können. Die SPD, deren Talfahrt existenzbedrohende Züge annimmt, lässt sich verunsichern und verliert ihre demokratischen Kernwerte von Solidarität, Respekt und Fairness aus dem Blick.

So ergibt sich ein medialer Chor, der vielstimmig den neoliberalen Gerechtigkeitskanon singt: Wer arbeitet, muss mehr haben als jener, der nicht arbeitet. Dabei kann die sinnvolle Lösung für dieses Problem nur sein, dass Löhne erhöht und nicht, dass Sozialleistungen gekürzt werden. Es hinterfragt auch kaum jemand, welche Arbeit gemeint sei und welche Arbeit vergessen wird. Fakt ist: Verschärfte Sanktionen und ein niedriger Regelsatz im Bürgergeld bei gleichbleibenden Löhnen subventionieren in erster Linie den deutschen Niedriglohnsektor. Der Mindestlohn reicht selbst bei Vollzeit nicht zum Leben. Dadurch müssen viele Millionen Menschen ergänzend Sozialleistungen beantragen. Dass viele Bürgergeldbeziehende darüber hinaus unbezahlte Care-Arbeit leisten, weil sie kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder sich ehrenamtlich engagieren –, auch das findet kaum Eingang in die öffentliche Debatte. Stattdessen wird ein Zerrbild von faulen Erwerbslosen gezeichnet. Fakten spielen keine Rolle. Es geht nur noch um Mythen, Märchen und Emotionen, die sich in den sozialen Medien zur Welle der Empörung aufschaukeln.

Es ist grotesk. Wir leben in einer Zeit, in der Reiche immer reicher werden und die Politik sie dabei auch noch aktiv unterstützt oder schützt, wie bei der hochprofitablen Steuertrickserei von CumEx- und CumCum-Finanzprofis. Anstatt die Schuldenbremse zu lockern und progressive Steuermodelle zu ersinnen, müssen wie immer wieder jene herhalten, die sich ohnehin nicht wehren können: Erwerbslose und Niedriglohnschufter. Dabei ist hier noch nicht einmal nennenswertes Geld zu holen. Doch parteitaktische Manöver sind wichtiger als jede politisch seriöse Ambition. Es geht nicht um die Staatskasse, es geht um die Wahlurne.

»Alles spricht die Sprache von Druck, Verdächtigung und Zwang.«

Die durch die Ampelregierung geplanten Verschärfungen des Bürgergelds werden das Leben vieler Menschen verschlechtern, wenn das Parlament im Spätsommer zustimmen sollte. Nicht nur, weil stärkere Sanktionen eingeführt werden sollen, sondern auch, weil das Stigma, die Ausgrenzung und der gesellschaftliche Druck auf den Beziehenden immer stärker lasten. Damit haben CDU und AfD die Ampel erfolgreich vor sich hergetrieben. Was dabei herauskommt, ist schlimmer als Hartz IV, ich nenne es „Merz I“.

Statt Augenhöhe gilt jetzt „Hauptsache Druck“! Wer einen einzigen Termin verpasst, soll direkt 30, statt bislang 10 Prozent des Regelsatzes für einen Monat gekürzt bekommen. Wozu der Termin gut ist, warum er verpasst wurde, ob er irgendetwas an der Lage der Betroffenen ändert: Egal. Verschärfte Sanktionen von 30 Prozent für drei Monate soll es künftig geben, wenn Bürgergeldbeziehende zum ersten Mal eine „zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Eingliederungsmaßnahme ohne triftigen Grund ablehnen“. Beim zweiten Mal geht der Geldhahn komplett zu. Was zumutbar ist, was ein triftiger Grund oder eben keiner ist, dafür gibt es keine klaren Definitionen. Der ohnehin schon herrschenden Willkür der mehr oder weniger empathischen Sachbearbeiter werden hiermit Tür und Tor geöffnet.

Nicht nur repressiv, sondern geradezu absurd ist die Regelung, nach der künftig Bürgergeldbeziehende, die sich nicht in einer Maßnahme oder Ausbildung befinden, einmal monatlich persönlich beim Jobcenter erscheinen sollen. Wer soll das betreuen? Das Personal dafür muss erst noch geschnitzt werden. Zudem soll illegale Arbeit härter bestraft werden als bisher, nämlich mit einer 30-Prozentsanktion für drei Monate. Diese wird aber schon jetzt als Ordnungswidrigkeit bestraft und mit hohen Bußgeldern belegt. Auch das ist also eine Blendgranate. Und so geht es weiter.

Alles spricht die Sprache von Druck, Verdächtigung und Zwang statt von Respekt, Augenhöhe und Freiwilligkeit. Es ist ein abgekartetes Kampagnentheater, das den falschen Eindruck erweckt, man könne im Bürgergeld tun und lassen, was man wolle – das aber ist schon jetzt absurd. So werden Probleme gelöst, die es gar nicht gibt.

Linnemann und Co. lügen, wenn sie behaupten, es gebe über 100 000 „Totalverweigerer“! Die Anzahl der Menschen, die sie so dämonisieren, ist weit geringer. Im letzten Jahr waren es lediglich rund 15 000 Personen, die ein Arbeitsangebot oder eine Maßnahme abgelehnt haben. Nur eine verschwindende Minderheit davon, die übrigens niemand beziffern kann, zum wiederholten Male. Rund zwei Millionen Menschen in Bürgergeld stehen dem Arbeitsmarkt gar nicht für (weitere) Arbeit zur Verfügung, darunter 900 000 Aufstocker:innen und etwa 900 000 Alleinerziehende, weil sich Familie und Arbeit eben nur in bestimmten Berufsgruppen vereinbaren lassen. Außerdem gibt es 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Bürgergeld. Unterm Strich bleiben lediglich 1,7 Millionen Menschen, die theoretisch einer Erwerbsarbeit nachgehen könnten, davon allerdings nur 235 000 ohne Vermittlungshemmnisse, die dem Arbeitsmarkt theoretisch voll zur Verfügung stehen.

Das Gros des „Arbeitsmarktpotenzials“ entpuppt sich in der Realität also als Menschen, die es schwer haben, eine Stelle zu finden, weil sie nicht attraktiv für den Arbeitsmarkt sind, wie es so schön heißt. Vor lauter arbeitsmarktpolitischer Borniertheit wird die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen ausgeblendet, die unverschuldet in Bürgergeld leben und kaum die Möglichkeit haben, ihre Situation zu verbessern. Sie werden mit einem Bürgergeld abgespeist, das zum Sterben zu viel ist, aber zum Leben in der viertreichsten Wirtschaftsnation der Welt schlicht nicht reicht.

Mit demokratischer Sozialpolitik hat das alles nichts mehr zu tun. Die Debatte, aber erst recht die Umsetzung ist eine Schande für ein Land, das sich als stabile Demokratie und ernstzunehmender Verfechter von Menschenrechten versteht. „Wir werden statt Hartz IV ein unkompliziertes Bürgergeld einführen, das konsequent auf Hilfe und Ermutigung statt auf Sanktionen setzt“, verkündete Arbeitsminister Hubertus Heil bei Regierungsantritt der Ampel noch vollmundig. Tja, die Angst vor der AfD war wohl größer.

[1] Veronika Knize et al., Zentrale Befunde aus Studien zu Sanktionen im SGB II, iab.de.

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