Bild: Studierende bei einer Absolventenfeier (IMAGO / U. Grabowsky / photothek)
Es ist eine bittere, aber keineswegs neue Erfahrung, dass die Bedeutung historisch errungener, verfassungsmäßig verbürgter Freiheitsrechte erst in der Krise wirklich deutlich wird, also dann, wenn diese Rechte akut gefährdet sind. Wer hätte auch gedacht, dass die Freiheit der Wissenschaft, die in autoritären und halbdemokratischen Gesellschaften keineswegs gegeben ist, in den Vereinigten Staaten oder der Bundesrepublik zum Angriffsziel von Regierungen werden könnte.
Das aber hat sich geändert. In Deutschland ist der Schrecken über die sogenannte Fördergeldaffäre im früheren Forschungsministerium noch präsent,[1] zumal man sich darüber hinaus besorgt fragen muss, was passierte, wenn die AfD eines Tages ein Wissenschaftsministerium übernähme.[2] Heftig wird auch darüber gestritten, wer an deutschen Universitäten reden darf und ob dies die Wissenschaftsfreiheit oder eher die Meinungsfreiheit betrifft.
Was aber die amerikanische Regierung in den vergangenen Monaten unternommen hat, stellt alles in den Schatten: Von heute auf morgen werden ganze Forschungsinstitute und Wissenschaftsorganisationen geschlossen und selbst Projekte jäh abgebrochen, die sich lebenswichtiger medizinischer Forschung widmen oder der Erforschung des Klimawandels; tausende Wissenschaftler:innen werden über Nacht auf die Straße gesetzt, politisch missliebigen Universitäten willkürlich Mittel gestrichen oder dieselben zum Gegenstand horrender Klagen (wobei der Vorwurf der Toleranz des Antisemitismus politisch instrumentalisiert wird); kritische Geister dürfen entweder nicht mehr reisen oder nicht einreisen. Oder noch schlimmer: Sie werden inhaftiert und des Landes verwiesen, wenn sie keinen amerikanischen Pass haben. Wer über Diversität, Rassismus oder Geschlechtergerechtigkeit forscht, muss Repressionen befürchten. Ein Klima der Angst breitet sich aus, das zu einem wissenschaftlichen Exodus größeren Ausmaßes führen könnte.
Parallel dazu schwingt sich die Regierung auf, „gold standard science“[3] zu definieren, greift zugleich aber seriöse wissenschaftliche Zeitschriften und Positionen an und beruft sich selbst auf dubiose Quellen, etwa dort, wo es um den Klimawandel oder Impfstoffe geht. Per Dekret wird die staatliche Forschungsförderung insgesamt zukünftig politisch-ideologisch kontrolliert.[4]
Immerhin werden die Proteste dagegen inzwischen lauter, auch wenn dabei viel Verunsicherung herrscht. Wissenschaftler:innen sind oft zurückhaltende Menschen, die nicht darin geübt sind, auf politische Barrikaden zu klettern. Dort aber, wo Einspruch erhoben wird, wird an erster Stelle die Freiheit der Wissenschaft eingeklagt. Damit aber stellt sich die zentrale Frage: Was genau ist die Freiheit der Wissenschaft, und worin liegt ihre Bedeutung?
Was bedeutet »Freiheit der Wissenschaft«?
Worüber sprechen wir, wenn von „Wissenschaft“ die Rede ist? Unter dem System der Wissenschaft versteht man heute ein globales Netzwerk von Institutionen, Menschen und Ideen. Hierzu zählen weltweit rund neun Millionen Wissenschaftler:innen. Sie veröffentlichen mehr als drei Millionen begutachtete Publikationen pro Jahr – in 37 000 unterschiedlichen Zeitschriften.[5] Allein die Veröffentlichungen zu Covid-19 gehen in die Hunderttausende, und zum Klimawandel erscheinen jährlich (zumindest noch) knapp 50 000 Arbeiten.[6]
Wie aber steht es um die Freiheit der Wissenschaft? Der Academic Freedom Index, veröffentlicht durch die Universitäten Erlangen-Nürnberg und Göteborg, zeigt, dass weltweit nur ein Drittel der Forscher:innen gut geschützt ist.[7] Und diese Freiheit erodiert weiter, wie der aktuelle Index belegt.
Die Freiheit der Wissenschaft ist in erster Linie die Freiheit derer, die Wissenschaft betreiben, aber auch die Freiheit aller, die sich mit Wissenschaft auseinandersetzen. Sie hat aber auch Einfluss auf diejenigen, die auf wissenschaftlichen Fortschritt angewiesen sind, also auf uns alle. Die Wissenschaft ist ihrer Idee nach ein individuelles und zugleich kollektives Unternehmen, das sich zum Ziel setzt, methodisch gesicherte und prüfbare, wahre Erkenntnisse über alles zu generieren, was in der Welt „der Fall“ ist. Das schließt die wissenschaftliche Thematisierung dessen ein, was „Methode“, was „Wahrheit“, „Welt“ und „der Fall sein“ heißt. Der Gegenstand bzw. das Gut der Wissenschaftsfreiheit ist die Wissenschaft selbst, ihre Träger sind Individuen und Institutionen der Wissenschaft. Daraus ergibt sich, dass es sich hier nicht, wie bei Meinungs- oder Religionsfreiheit, um ein Persönlichkeitsrecht handelt, denn es geht bei der Religionsfreiheit nicht darum, die Religion zu schützen und zu fördern (sondern die gläubige oder sich vom Glauben abwendende Person). Bei der Wissenschaftsfreiheit geht es um den Schutz und die Förderung der Wissenschaft, sie ist eine zielgerichtete Freiheit. Der Kernpunkt ist, wie es in der Publikation einer von Uwe Schimank und Mitchell Ash geleiteten Arbeitsgruppe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie heißt, die freie Wahl der Themen, der methodischen und theoretischen Zugänge sowie von Kooperationsformen und -partnern, Publikationsformaten und didaktischen Prinzipien in der Lehre.[8]
Ein Ergebnis historischer Lernprozesse
Die Wissenschaftsfreiheit in ihrer heutigen Form ist das Ergebnis komplexer und konflikthafter historischer Lernprozesse. Die Auseinandersetzung um zulässiges oder gar gefährliches Wissen prägt bereits das antike Denken; die Verurteilung des Sokrates markiert dies. Die Ursprünge rechtlich institutionalisierter Freiheiten kann man in Europa bereits in gewissen Rechten der Universitäten seit ihren ersten Gründungen erkennen, die vor Zensur schützten. In der Geschichte der Moderne war es allerdings nicht nur die Macht politischer Autoritäten, gegen die diese Freiheit erkämpft werden musste, sondern eher die der Kirchen (und beide oft gepaart). Der Prozess gegen Galilei ist das frühneuzeitliche Äquivalent zu dem gegen Sokrates. Die Geschichte seither spart nicht an weiteren Beispielen bis in die Gegenwart, wie wir heute schmerzlich sehen. Freies Denken und Forschen sind Güter, die umkämpft sind.
Deutschland gehört zu der kleinen Gruppe von Ländern, in denen die Wissenschaftsfreiheit Verfassungsrang hat. Sie ist durch Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes grundrechtlich geschützt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“[9] Wichtig war bei dieser Weichenstellung die Erfahrung politisierter Wissenschaft im Nationalsozialismus, aber Vorläufer dieser Formulierung findet man schon in der Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 (Par. 152: „Die Wissenschaft und Lehre ist frei“) sowie in späteren Verfassungen. Das Recht auf Wissenschaftsfreiheit ist einerseits ein negatives Abwehrrecht gegen die Beschränkung und Steuerung von Lehre und Forschung, ob von politischer, kirchlicher, wirtschaftlicher oder anderer gesellschaftlicher Seite. Im Laufe der Zeit wurde die Wissenschaftsfreiheit andererseits als positives Gewährleistungsrecht interpretiert. Dies bezieht sich auf die aktive Ermöglichung und Förderung von Wissenschaft durch die sie tragenden Institutionen und letztlich die politische Gemeinschaft selbst. Demnach ist der willkürliche Entzug von Förderung eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit.
Demokratische Gesellschaften haben eine besondere Verantwortung für die Wissenschaftsfreiheit – wie umgekehrt eine unabhängige Wissenschaft Demokratie fördert. Die Wissenschaft ist eine gesellschaftliche Institution, die eine Idealform des Diskurses zu realisieren sucht – den zielgerichteten und freien Austausch methodisch gesicherter Argumente, um die Wahrheit zu finden. Sie ist daher auch ein Ort der Reflexion auf die Gesellschaft, genauer: ein Ort der rationalen Kritik gesellschaftlicher Unvernunft. Ohne freie, kritische Wissenschaft stagnieren Gesellschaften. Diese Wissenschaften helfen auch dabei zu verstehen, wie es zu solch aggressiven Angriffen auf die Wissenschaft wie derzeit kommen kann.
Meinung oder Wissenschaft?
Wissenschaftler:innen stehen zunehmend im Licht der Öffentlichkeit, vielfach ist ihre Position zu aktuellen Themen gefragt. Das birgt dann besonderes Konfliktpotenzial, wenn die Grenzen zwischen Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit verschwimmen. Beide Grundrechte werden oft gleichgesetzt, sind aber gegeneinander abzugrenzen: Die Meinungsfreiheit schließt alle möglichen, auch irrationale Äußerungen ein, die Wissenschaftsfreiheit hingegen ist eine Freiheit der und zur methodisch geleiteten Rationalität.[10] Daher ihre Zielgerichtetheit. Wissenschaft ist die Suche nach Wahrheit und dieser verpflichtet. Wer sich auf Meinungsfreiheit beruft, kann innerhalb oder außerhalb einer Universität auch Unfug verbreiten; wer sich hingegen auf die Wissenschaftsfreiheit beruft, muss qualitätsgesicherte Wissenschaft im Sinne der wissenschaftlichen Gemeinschaft betreiben. Dort also, wo Wissenschaftler:innen als politische Intellektuelle sprechen, sind sie primär durch die Meinungs- und Redefreiheit geschützt, nicht durch die Wissenschaftsfreiheit.
Diese Differenz ist angesichts der vielfachen Diskussionen relevant, die derzeit die Universitäten bewegen. Menschenfeindliche Äußerungen, ob antisemitisch, antimuslimisch oder auf andere Weise rassistisch, sollten an keiner Universität einen Platz haben – und auch nirgends sonst. Der Antisemitismus, der nicht nur in Deutschland in letzter Zeit Raum greift, ist eine ernsthafte Bedrohung für alle Lebensbereiche jüdischer Menschen, auch an den Universitäten. Gleichwohl sollten Universitäten öffentliche Orte bleiben, wo politisch gestritten wird, und so muss dort, wo keine Sicherheitsbedenken bestehen und nicht gegen Grundrechte verstoßen wird, der Imperativ des freien Wortes gelten – der starke Widerworte einschließt (nicht aber das Niederbrüllen anderer). Hier geht es primär um die Meinungs- und Redefreiheit, nicht um Wissenschaftsfreiheit. Das heißt, dass an wissenschaftliche Veranstaltungen im engeren Sinne ein strengerer Maßstab anzulegen ist, da hier der Imperativ der freien, wissenschaftlichen Erkenntnissuche gilt. Die beiden Dimensionen politischer und wissenschaftlicher Rede sind nicht immer leicht auseinanderzuhalten und überlappen, aber sie werden dort ungut vermischt, wo Wissenschaftler:innen das wissenschaftliche Wort verweigert wird, weil sie als politische Intellektuelle für Positionen eintreten, die als problematisch gewertet werden, diese Positionierung aber nicht Thema der wissenschaftlichen Vortragseinladung oder eines Seminars ist. Dies schränkt die Freiheit der Wissenschaft unzulässig ein, es sei denn, die vertretene Position geht so weit, dass die wissenschaftliche Integrität durch sie infrage gestellt wird (etwa bei der bewussten Leugnung historischer Verbrechen). Ein solches Urteil sollte man aber mit Bedacht fällen.
Zugleich darf die Wissenschaftsfreiheit auch nicht missbraucht werden, um wissenschaftlich haltlose Thesen in die Welt zu setzen – sei es, den Klimawandel zu leugnen oder menschenfeindliche politische Positionierungen unter dem Deckmantel der Wissenschaft zu verbreiten. Wo dies geschieht, wird die Wissenschaftsfreiheit zum ideologischen Etikett und zum Kampfbegriff.
Hier kommt die Frage der wissenschaftlichen Verantwortung ins Spiel. Wissenschaft muss sich stets verantworten: innerhalb der Wissenschaftsgemeinde und in der Gesellschaft, methodisch und auch normativ. Sie ist da, um Wissen zu befördern, das das Leben der Menschen (oder anderer Lebewesen) verbessert, also nicht etwa Erkenntnisse dafür zu generieren, wie man möglichst viele Menschen umbringen kann (weshalb bei der Diskussion um die Zivilklauseln der Forschung Vorsicht zu walten hat). Auch muss sie sich in ihrem Vorgehen ethisch und moralisch verantworten, denken wir etwa an Versuche an Menschen oder Tieren. Zugleich müssen sich diejenigen, die Verantwortung für Wissenschaft tragen, dessen bewusst sein, dass wissenschaftlicher Fortschritt nur dort möglich ist, wo die Freiheit besteht, gegen den Strom zu schwimmen. Die Kunst ist es, nicht nur alte Fragen neu zu beantworten, sondern neue Fragen zu stellen. Wissenschaftliche und gesellschaftliche Verantwortung heißt nicht Konformität.
Wodurch wird die Wissenschaftsfreiheit bedroht?
Die Freiheit der Wissenschaft kann auf sehr unterschiedlichen Wegen bedroht werden – und durch verschiedene Faktoren bzw. Handelnde. Diese reichen von staatlichen Autoritäten über wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteure bis zum Wissenschaftssystem selbst.
Die Beispiele sind mannigfaltig, auch außerhalb der USA. Die chinesische Regierung hat seit einigen Jahren die Kontrolle über die Wissenschaft verschärft; dies reicht sogar so weit, Wissenschaftler:innen im Ausland zu observieren. In der Türkei wurden dissidente Wissenschaftler:innen nach 2016 nicht nur bedrängt, sondern reihenweise entlassen; viele von ihnen sind dank der Programme etwa der Humboldt-Stiftung und anderer Fördereinrichtungen in Deutschland untergekommen, aber bei weitem nicht alle. Die italienische Regierung überzieht kritische Wissenschaftler:innen mit Beleidigungsklagen, und am Beispiel Ungarn kann man beobachten, wie rasch die Freiheit der Wissenschaft erodieren kann. Die Regierung hat die Leitungen von Wissenschaftseinrichtungen politisch besetzt, die Mittel für unabhängige Grundlagenforschung wurden drastisch gekürzt. Zudem kommt es zur Diskriminierung von Wissenschaftler:innen durch regierungsnahe Medien, nicht selten mit antisemitischem Hintergrund.
Auch in Deutschland häufen sich die Vorfälle: Wenn politische Repräsentant:innen die Abberufung einer Universitätspräsidentin aus politischen Gründen fordern oder internationale Wissenschaftler:innen von Fremdenfeindlichkeit abgeschreckt oder sie gar bedroht werden, entsteht eine Atmosphäre der Unfreiheit, die von manchen Akteur:innen bewusst provoziert wird. Ein Beispiel aus der Schweiz: Am 10. November 2019 schreibt der „Blick“ in einer Schlagzeile: „Bundesrat Guy Parmelin übt Zensur: Aus Angst vor der bevorstehenden Initiative zum Einsatz von Pestiziden bringt er ein ETH-Institut und seine Professoren zum Schweigen.“[11] In einem internen Memorandum heißt es, dass „Angestellte der Eidgenossenschaft (auch solche der ETH) vom Bundesrat getroffene Entscheidungen nicht öffentlich kritisieren sollen“. Politiker:innen und Wissenschaftler:innen haben dies empört als inakzeptablen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit kritisiert. Am darauffolgenden Tag stellt Bundesrat Parmelin klar: „Forschende dürfen sich mit Fakten immer äußern.“[12] Und im Geiste der Aufklärung sollte man hinzufügen: Als politische Intellektuelle dürfen sie ihre Einschätzung zu politischen Vorgängen jederzeit parteilich äußern.
Die Privatisierung der Forschung
Wenn man von Wissenschaftsfreiheit spricht, darf die zunehmende Privatisierung der Forschung nicht außer Acht gelassen werden. In den OECD-Ländern ist der Anteil öffentlicher Mittel für Forschung und Entwicklung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, heute niedriger als vor 40 Jahren. Der Anstieg in den vergangenen Jahrzehnten rührt aus der Wirtschaft und der Industrie. Nur noch ein Viertel aller Aufwendungen kommen heute aus der öffentlichen Hand.[13]
Der privat finanzierten Forschung kommt eine wichtige Rolle zu, etwa bei der Entwicklung pharmazeutischer Produkte. Die Probleme entstehen jedoch dort, wo Wissenserwerb verstärkt nach monetären Kriterien priorisiert wird. Die Privatisierung kann zu einer Oligopolisierung des Wissens führen, was aus demokratiepolitischer Sicht bedenklich ist – insbesondere, wenn vorhandenes Wissen nicht zugänglich gemacht wird oder wenn es aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen kein Interesse an wichtigem Wissen gibt.
Eine weitere Problematik stellt der strategische Wissenschaftsskeptizismus dar.[14] Dabei werden wissenschaftliche Erkenntnisse öffentlich infrage gestellt, um Partikularinteressen zu wahren. Die erste Variante ist der bewusst gesäte Zweifel. „Zweifel ist unser Produkt“ – so beschreiben Erik Convey und Naomi Oreskes diese Strategie. Am Beispiel der Tabakkonzerne oder der Klimafaktenleugner zeigen sie, wie Standards des guten wissenschaftlichen Argumentierens und Forschens gezielt untergraben werden. Lungenkrebs war vor 150 Jahren eine seltene Krankheit, heute sterben rund sechs Millionen Menschen pro Jahr daran, und es ist die zweithäufigste Krebsvariante. Sheldon Sommer, ein von der Tabakindustrie finanzierter Experte, hingegen argumentierte, „dass Rauchen weder notwendig noch hinreichend für das Entstehen von Lungenkrebs ist“. Durch eine geschickte Verwendung des Ursachenbegriffs wollte er Zweifel an den wissenschaftlichen Ergebnissen nähren: Es gibt noch andere Ursachen für Lungenkrebs, und nicht alle, die rauchen, erkranken daran.[15]
Strategische Forschung und ihre Finanzierung
Die zweite Variante ist die strategische Forschung, wobei Organisationen wissenschaftliche Forschung in Zweifel ziehen, indem sie selbst gegenteilige Forschung in Auftrag geben. Ein besonders anschauliches Beispiel betrifft Bisphenol-A und die Frage, ob es bereits in kleinen Dosen krebserregend ist. Hierzu gab es sehr widersprüchliche Ergebnisse. Eine Metastudie hat diesbezüglich gezeigt, dass die Quelle der Finanzierung signifikant mit dem Ergebnis korreliert. Während 90 Prozent der öffentlich finanzierten Arbeiten zu dem Ergebnis kamen, dass bereits geringe Mengen krebserregend sind, war dies bei keiner einzigen privat finanzierten Studie der Fall. Entscheidend war die Wahl des „Untersuchungsmaterials“. In den privat finanzierten Studien wurden sogenannte CD-SD-Ratten verwendet, von denen bekannt ist, dass sie nur schwach oder gar nicht auf vergleichbare Stoffe reagieren.[16] Diese Beispiele sollen nicht implizieren, dass privat finanzierte Wissenschaft generell kritisch zu betrachten oder gar unseriös ist. Aber sie birgt Gefahren, wenn unmittelbare wirtschaftliche Interessen dahinterstehen.
Eine weitere Quelle der Beschränkung wissenschaftlicher Freiheit sind gesellschaftliche Bewegungen, die sich massiv gegen bestimmte Forschungsrichtungen wenden. In einer Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung von 2024 haben 45 Prozent der befragten Forscher:innen angegeben, bereits mit Wissenschaftsfeindlichkeit konfrontiert gewesen zu sein.[17] Dies war in den Zeiten der Pandemie evident, als Virolog:innen extrem bedroht wurden. Aber auch auf anderen Gebieten, etwa der Geschlechterforschung, der Gentechnik oder der Klimaforschung, gibt es solche Entwicklungen. Sie nehmen im Zeitalter der Sozialen Medien und ihrer öffentlichen Prangerwirkung erheblich zu. In politisch aufgeheizten Zeiten geraten ganze Bereiche, etwa die postkolonialen Studien bzw. spiegelbildlich jüdische Studien, in den Fokus pauschaler Anfeindung. Dies wird medial verstärkt, im Falle der bereits erwähnten Förderaffäre etwa wurden manche Wissenschaftler:innen in der „Bild“ namentlich als „UniversiTÄTER“ bezeichnet.
Stiller Rückzug und vorauseilender Gehorsam
Solche Entwicklungen sind dort, wo sie sich verdichten und über Einzelfälle hinausgehen, ernsthafte Bedrohungen für die Freiheit von Forschung und Lehre. Die Reaktion der Betroffenen kann von stillem Rückzug bis zu vorauseilendem Gehorsam reichen, und es ist nicht nur, aber auch Sache des Wissenschaftssystems, darauf wachsam zu reagieren. Die Freiheit der Wissenschaft kann nur in einer Gesellschaft gedeihen, in der ein gewisses Maß an Toleranz herrscht. Sie darf Kritik nicht ausschließen, wobei alle Beteiligten einzuschätzen wissen sollten, an welchen Prinzipien sich solche Kritik orientieren muss, um nicht zu Einschüchterung zu führen.[18]
Dies deutet auf die Problematik hin, dass das System der Wissenschaft selbst eine Quelle der Gefährdung ihrer Freiheit sein kann. Alle Beteiligten, von den Leitungen über die Kolleg:innenschaft bis hin zu Studierenden müssen darauf achten, dass kritische Diskussionen nicht verhindert werden, aber auf eine Weise geführt werden, die vom gegenseitigen Respekt unter Wahrheitssuchenden gekennzeichnet ist.
Andere strukturelle Gründe haben ebenfalls einen großen Einfluss auf den Grad der persönlichen Wissenschaftsfreiheit. Prekäre Beschäftigungssituationen, etablierte Macht- und Privilegienstrukturen und einseitige Anreiz-, Belohnungs- und Evaluierungssysteme können einen Konformitätsdruck auslösen und der Wissenschaftsfreiheit zuwiderlaufen. Oft gehen Innovationen von den Rändern und nicht vom Kern von Disziplinen aus, somit spielen Vielfalt und Offenheit eine zentrale Rolle für die freie Entfaltung der Wissenschaft. In Deutschland erlangen Wissenschaftler:innen oft erst mit 40 Jahren und noch später eine langfristige Perspektive in der Wissenschaft. Das ist kein Beitrag zur Stärkung von Eigenständigkeit und Kreativität.[19]
Freiheit und Vertrauen
Die Wissenschaftsfreiheit ist eine zielgerichtete Freiheit, die nicht nur mit der Verantwortung verbunden ist, diese Freiheit zu schützen, sondern mit der Verpflichtung auf wissenschaftliche Redlichkeit und wissenschaftlichen Fortschritt. Sie ist zwar eine Freiheit derjenigen, die Wissenschaft betreiben, aber sie fördert ein hohes Gut, nämlich das der methodisch gesicherten und prüfbaren Wahrheitsfindung. Daher muss die Wissenschaftsfreiheit in erster Linie durch die Wissenschaftler:innen selbst gelebt und müssen die Standards der Ethik und Integrität in der Wissenschaft uneingeschränkt eingehalten werden. Geschieht dies nicht, wird epistemisches Vertrauen untergraben.
Das Vertrauen in Personen und Prozesse der Erkenntnisgewinnung gilt als wichtigste Währung der Wissenschaft wie auch der Gesellschaft insgesamt. Dieses Vertrauen hat während der COVID-19-Pandemie zwar zugenommen[20], es bleibt aber weiter prekär, da oft überspannte Erwartungen an Wissenschaft gestellt werden. Ihre Erkenntnisse können niemals an die Stelle politischer Prozesse und moralischer Urteilskraft treten, auch wenn das häufig verlangt wird. Wissenschaftliches Wissen soll politische Entscheidungen informieren, aber sie nicht programmieren.
In der politischen Öffentlichkeit haben Wissenschaftler:innen nur als Expert:innen auf ihrem Feld eine besondere Autorität, aber sie sind keine politischen oder moralischen Wahrheitsbesitzer, wie Peter Strohschneider in seiner Kritik des „autoritären Szientismus“[21] hervorhebt. Wo Wissenschaftler:innen dagegen politisch-moralisch sprechen, agieren sie als Intellektuelle, und als solche können sie Meinungsfreiheit beanspruchen, nicht primär Wissenschaftsfreiheit. Letztere können und müssen sie aber immer dort einfordern, wo es um die Praxis der Wissenschaft selbst geht. Deren Freiheit ist mit demokratischer Freiheit insofern verwandt, als beide auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehen: die Freiheit zu rationaler Selbstbestimmung und die Freiheit von ideologischer Beherrschung.[22] Diese für unsere Demokratie so zentralen Freiheiten stehen durch den Aufstieg der Autokraten jedoch massiv unter Druck und müssen umso mehr mit aller Entschiedenheit verteidigt werden.
[1] Am 11. Juni 2024 veröffentlichte das ARD-Magazin Panorama einen internen Mailverkehr aus dem von Bettina Stark-Watzinger (FDP) geleiteten Bundesministerium für Bildung und Forschung, wonach dieses intern hatte prüfen lassen, ob kritischen Wissenschaftler:innen, die nicht der politischen Linie des Ministeriums folgen, Fördergelder entzogen werden könnten. Siehe dazu: Christine Vallbracht, Fördermittel-Affäre weiter im Aufklärungsmodus, forschung-und-lehre.de, 4.7.2024.
[2] Siehe dazu Andreas Fischer-Lescano, Wer die Wissenschaft schützen will, muss die AfD verbieten, in: „Der Wiarda Blog“, jmwiarda.de/blog, 27.5.2025.
[3] Donald J. Trump, Executive Order No. 14303. Restoring Gold Standard Science (90 Federal Register 22601), federalregister.gov, 23.5.2025.
[4] Executive Order No. 14332, whitehouse.gov, 7.8.2025.
[5] 3,3 Millionen im Jahr 2022. Vgl. National Science Board und National Science Foundation, Publications Output. U.S. Trends and International Comparisons, in: Science & Engineering Indicators 2024 (NSB202333), ncses.nsf.gov, 11.12.2023.
[6] Die Daten stammen von Web of Science, clarivate.com.
[7] Katrin Kinzelbach, Staffan I. Lindberg, Lars Lott und Angelo V. Panaro, Academic Freedom Index Update 2025, 13.5.2025.
[8] Uwe Schimank u.a., Grundsätze und Empfehlungen zur Wahrung und Förderung der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland, in: „Wissenschaftspolitik im Dialog“, Schriftenreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 4/2024. Vgl. auch Elif Özmen, Epistemische Offenheit als Wagnis, in: dies. (Hg.), Wissenschaftsfreiheit im Konflikt, Berlin 2021, S. 29-48.
[9] Vgl. dazu Gabriele Britz, Kommentierung zu Art. 5 Abs. 3 GG (Wissenschaft), in: Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar (3. Aufl.), Tübingen 2013, sowie dies. (Hg.), Forschung in Freiheit und Risiko, Tübingen 2012.
[10] Vgl. dazu Klaus Ferdinand Gärditz, Die politische Grammatik der Wissenschaftsfreiheit, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, 11/2021, S. 10-16; Thomas Gutmann, Freiheit der Wissenschaft, Freiheit der Meinung, in: Özmen (Hg.), Wissenschaftsfreiheit im Konflikt, a.a.O., S. 1-10.
[11] Lea Hartman, Wissenschaftler dürfen nicht sagen, wie giftig unser Trinkwasser wirklich ist, blick.ch, 10.11.2019; Bruno Knellwolf, Bundesrat Guy Parmelin wollte eine ETH-Publikation stoppen. Aber die Wissenschaft soll sich einmischen, bzbasel.ch, 11.11.2019.
[12] Claudia Baer, Pestizid-Initiativen. Parmelin soll Forschern verboten haben, sich politisch zu äussern, nzz.ch, 11.11.2019.
[13] Jonathan M. Jeschke u.a., Knowledge in the dark. Scientific challenges and ways forward, in: „Facets”, 1/2019 , S. 423-441.
[14] Alexander Reutlinger, Strategischer Wissenschaftsskeptizismus, in: Michael Jungert, Andreas Frewer und Erasmus Mayr (Hg.), Wissenschaftsreflexion. Interdisziplinäre Perspektiven auf Theorie, Praxis und Ethik der Wissenschaften, Paderborn 2020, S. 351-370.
[15] Naomi Oreskes und Erik M. Conway, Merchants of doubt. How a handful of scientists obscured the truth on issues from tobacco smoke to global warming, New York 2011.
[16] Frederik S. vom Saal und Claude Hughes, An extensive new literature concerning low-dose effects of bisphenol A shows the need for a new risk assessment, in: „Environmental health perspectives”, 8/2005, S. 926-933; Justin B. Biddle und Anna Leuschner, Climate skepticism and the manufacture of doubt. Can dissent in science be epistemically detrimental?, in: „European Journal for Philosophy of Science”, 3/2015, S. 261-278.
[17] Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), Von Hassrede bis Morddrohungen. Anfeindungen in der Wissenschaft sind ernstzunehmendes Problem, dzhw.eu, 16.5.2024.
[18] Vgl. Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, Frankfurt a. M. 2003.
[19] Vgl. Wissenschaftsrat, Personalstrukturen im deutschen Wissenschaftssystem (Drs. 2639-25), Köln 7/2025, wissenschaftsrat.de.
[20] Wissenschaft im Dialog, Wissenschaftsbarometer 2024, wissenschaft-im-dialog.de, 6.11.2024.
[21] Peter Strohschneider, Wahrheiten und Mehrheiten. Kritik des autoritären Szientismus, München 2024.
[22] Vgl. Rainer Forst, Die noumenale Republik, Berlin 2021, Kap. 13.