Vom Umgang mit deutschen Zäsuren und Kontinuen (Blätter-Gespräch)
"Blätter": Die "50-Jahre"-Rituale, kulminierend im 8. Mai, sind in vollem Gange, inklusive der diversen Pannen und Peinlichkeiten, die anscheinend unvermeidlich sind, wenn die Bundesregierung Geschichtspolitik betreibt. Wessen wird gedacht: des Tages der Kapitulation, der Debellatio Deutschlands im Jahre 1945, des Tages der Befreiung?
Der 8. Mai 1945: symbolische Festlegungen
Dan Diner: Die Interpretation des 8. Mai unterliegt offensichtlich Schwankungen, die politischen Konjunkturen folgen. Dabei ging und geht es stets mehr um die Gegenwart und die Zukunft als um das Gedenken. Der 8. Mai wurde 1945, auch 1946 vielleicht noch, als Niederlage der deutschen Hegemonialmacht in Europa gesehen. Der Zweite Weltkrieg war in hohem Maße in der Kontinuität des Ersten Weltkrieges interpretiert worden, als Krieg nicht allein gegen den Nationalsozialismus, sondern gegen PreußenDeutschland. Darauf verweisen das alliierte Dekret zur Auflösung Preußens vom Februar 1947 und die erste Phase der Nürnberger Prozesse. Die Anklage dort lautete im wesentlichen auf Führung eines Angriffskrieges. Erst im Laufe der Verhandlungen traten die Massenmorde, die am Anfang ja als Kriegsverbrechen gedeutet worden waren, als eigener Anklagepunkt in den Vordergrund. Bis die Wahrnehmung des nationalsozialistischen Deutschland als Regime deutlicher wurde, bedurfte es noch einiger Jahrzehnte.