Porzellan und Soziologie
"Gesellschaft" kann man nicht wahrnehmen. Sie bleibt abstrakt, eine unsinnliche Gesamtheit von Beziehungen und Institutionen. Für das naive Individuum ist sie kein Problem. Es lebt in ihr wie ein Fisch im Wasser (oder auch wie ein Fisch auf dem Trockenen).
Damit überhaupt über "Gesellschaft" nachgedacht werden kann, müssen Institutionen, Zugehörigkeiten, Gruppen, Verhältnisse ihre Selbstverständlichkeit verloren haben. Nach einem (natürlich soziologischen) Bonmot brauchen glückliche Gesellschaften keine Soziologie. Als akademische Disziplin ist die Soziologie in Deutschland ein Kind der Industrialisierung und des Imperialismus. Die alten, gemütlichen Formen der Vergesellschaftung sind durch das Kapital und die große Industrie im 19. Jahrhundert weitgehend aufgelöst. Natürlich gibt es neue Formen (und vor allem: neue Symbole) der Vergesellschaftung: Nation und Klasse, Kultur und Fortschritt. Von Georg Simmel berichten die Biographen, er habe eine Sammlung kostbaren Porzellans besessen. Ganz gleich, ob das nur eine Anekdote ist, ein Sammler gesellschaftlicher Kostbarkeiten war auch der Soziologe Simmel. Worüber hat er nicht alles geschrieben: über die Mode, die Kunst, die Armut, das Geld, den Schmuck, die Moral, den Brief, die Diskretion - und auch über Macht und Herrschaft.