Vor einigen Tagen erhielt ich einige Interview-Fragen von einer nordamerikanischen christlichen Zeitschrift. Die erste Frage lautete: "Können Ost- und Westdeutschland die besten Eigenschaften ihrer beiden Gesellschaften vereinigen, um so eine gerechtere und menschlichere Ordnung herzustellen?" Man muß vielleicht weit entfernt sein, um eine solch einfache Frage stellen zu können. Immerhin erinnert sie daran, daß in einer Vereinigung jeder Partner Neues und Eigenes einbringt, die eigenen Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen mitbringt. Was wir statt dessen erleben, ist Anschluß oder Vereinnahmung, und der einfache Gedanke, daß auch die DDR etwas zu geben habe, das uns hier bereichern und verbessern könnte, scheint von einem anderen Stern zu stammen. Nein, werde ich also antworten müssen, das Ziel ist nicht, "to produce a more just and human order", sondern die bestehende Ordnung des demokratischen Kapitalismus wird als die einzig mögliche sinnvolle Ordnung angesehen; der Beweis dafür ist ihre wirtschaftliche Effizienz. Andere Kriterien sind irrelevant. Eine andere besorgte Frage geht auf das Wiedererstarken von deutscher Fremdenfeindlichkeit und deutschem Antisemitismus durch die Wiedervereinigung. Ich halte die erste Gefahr für die größere. Die Verschärfungen im Ausländerrecht weisen darauf hin. Manchmal frage ich mich, ob wir wirklich an einem europäischen Haus bauen oder eine deutsche Festung errichten.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.