Ausgabe März 1995

Die Dekomposition der Nation

Wie aus den Deutschen Ossis und Wessis wurden

Im fünften Jahr nach dem kläglichen Ende der DDR scheinen die Deutschen in Ost und West weiter voneinander entfernt denn je. Westdeutsche sehen bei den Ostdeutschen Wehleidigkeit, kleinbürgerlichen Mief und apathisches Anspruchsdenken, Ostdeutsche klagen über Siegermentalität, Besserwessitum und rücksichtslose Plattmacherei. Das wechselseitige Mißvergnügen führt zu einer allgemeinen, wenn auch nicht ganz ernstgemeinten DDR-Nostalgie: Niemand will zurück zum alten System, aber viele vermissen die alte Überschaubarkeit der Verhältnisse - die gelernten DDR-Bürger mit dem Gefühl der Entfremdung in der neuen Republik, die AltBundesbürger mit zunehmend ungnädigerer Gereiztheit gegenüber den neuen Mitbürgern. Woher rührt dieses deutsch-deutsche Mißvergnügen?

Um es zu erklären, genügt es nicht, darauf zu verweisen, daß die einen mit Sättigungsbeilagen und Gemüsevariationen aufgewachsen sind, die anderen aber mit Pizza und Hamburgern. Die Kluft, die die Deutschen (Ost) von den Deutschen (West) trennt, ist auch nicht allein darauf zurückzuführen, daß die einen 40 Jahre lang den Zwängen eines voluntaristischen Sozialismus ausgesetzt waren, während die anderen mit einiger Anstrengung lernten, sich nach den Maßstäben westlicher Zivilisation zu organisieren.

März 1995

Sie haben etwa 4% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 96% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe November 2025

In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Warnungen aus Weimar

von Daniel Ziblatt

Autokraten sind vielerorts auf dem Vormarsch. Ihre Machtübernahme ist aber keineswegs zwangsläufig. Gerade der Blick auf die Weimarer Republik zeigt: Oft ist es das taktische Kalkül der alten Eliten, das die Antidemokraten an die Macht bringt.