Worauf beruhte die Fehleinschätzung? Der Wahlsieg Ehud Baraks am 17. Mai 1999 war nichts anderes als eine optische Täuschung. Netanyahu hatte zum Ende seiner Amtsperiode nach und nach sein Image als "Magier" eingebüßt und zudem viele frühere Weggefährten verloren. Somit erlitt er bei der Direktwahl des Ministerpräsidenten eine klare Niederlage. Die rechten Parteien behielten jedoch die Mehrheit in der Knesset: Die drei religiösen Parteien, die zuvor zur Netanyahu-Koalition gehörten, legten an Stimmen zu und brachten es auf 27 Sitze. Zusammen mit der dezimierten LikudPartei (19 Sitze), der rechtsradikalen "Nationalen Einheit" und der Partei der russischen Einwanderer (beide je sechs Sitze) stellten sie mit 58 der 110 "jüdischen Mandate" die Mehrheit. Die übrigen zehn Sitze der arabischen Abgeordneten gelten in Israel, das sich in zunehmendem Maße als j ü d i s c h e r Staat versteht, ohnehin als außen vor. Das Ergebnis: Die von Barak gebildete Koalition bestand fast zur Hälfte aus Parteien und Abgeordneten der israelischen Rechten, die früher in der Netanyahu-Koalition vertreten waren.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.