Die Angst geht um in Israel – einmal mehr. Dieses Mal ist es allerdings nicht die Furcht vor Selbstmordattentätern oder Raketen aus dem Gazastreifen, sondern vor Messerangriffen auf den Straßen Tel Avivs oder Jerusalems. Die Angriffe können jeden Israeli treffen – beim Einkauf auf dem Markt, auf dem Weg zur Schule oder bei der Arbeit. Die Menschen ziehen sich daher in ihre Wohnungen zurück; Restaurants und Geschäfte vermelden bereits sinkende Umsätze.
Die Angst eint die jüdische Mehrheit in Israel – und macht es der Regierung um Benjamin Netanjahu leicht, jedwede politische Lösung des Konflikts mit den Palästinensern strikt abzulehnen. Stattdessen versucht sie den Status quo zu festigen – ebenfalls mit einer Politik der Angst, die jede Kritik an ihrem Kurs ersticken soll.
Die Opposition steht dieser zweifachen Angstpolitik weitgehend ratlos und ohnmächtig gegenüber; kritische Stimmen werden in der aktuellen Debatte gezielt ausgeblendet oder ignoriert. Diese Entwicklung untergräbt jedoch zum einen die israelische Demokratie und ihre Werte. Zum anderen bedroht sie die zerbrechliche arabisch-jüdische Koexistenz innerhalb des Landes.
Besonders deutlich wird dies an einer weiteren Angst: nämlich die der palästinensisch-arabischen Minderheit[1] und der Migranten – vor allem jenen aus Ländern südlich der Sahara –, von aufgebrachten jüdischen Israelis beschimpft, fälschlicherweise verdächtigt und gelyncht zu werden. Diese Furcht ist nicht unbegründet. Erst Anfang November erschoss ein israelischer Beduine in Be’er Scheva einen Soldaten. Daraufhin verletzten Sicherheitskräfte einen unbeteiligten eritreischen Flüchtling, den sie für einen Mittäter hielten. Die herbeigeeilte Menschenmenge schlug brutal auf den am Boden liegenden Verletzten ein; kurz darauf erlag der Mann seinen Verletzungen.
Angeheizt wird die allgegenwärtige Panik vor allem in den sozialen Medien: In tausenden Chats leben jüdische Israelis ihre Hass- und Rachephantasien aus, fordern Selbstjustiz und die Bewaffnung von Zivilisten. Den Worten folgen meist auch Taten: Arabische Geschäfte werden boykottiert, arabische Arbeiter und Angestellte werden entlassen, und der Verkauf von Kleinwaffen boomt.
Verantwortlich dafür sind auch Aufrufe wie der des Jerusalemer Bürgermeisters Nir Barkat. Er riet der Zivilbevölkerung, Waffen zu tragen. Verschiedene Regierungsvertreter gaben zudem die Devise aus, bei Verdacht sofort auf mutmaßliche Angreifer zu schießen – und erst im Anschluss herauszufinden, ob tatsächlich eine Gefahr bestand.
Netanjahu: Mit allen Mitteln für den Status quo
Derlei Aussagen tragen nicht zur Entspannung bei – im Gegenteil. Daran ist die Regierung Netanjahu aber auch nicht interessiert. Sie will die angespannte Situation vielmehr für sich nutzen.
Bereits in der Vergangenheit hat Netanjahu wiederholt betont, dass der israelisch-palästinensische Konflikt unlösbar sei. Aus seiner Sicht würde eine Einigung mit den Palästinensern inakzeptable Kompromisse erfordern – unter anderem den Rückbau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten sowie die Aufgabe der politischen und militärischen Kontrolle über die Palästinenser.
Jedoch weiß Netanjahu sehr genau, dass jede weitere Zuspitzung des Konflikts den internationalen Druck auf Israel erhöhen würde, Kompromisse einzugehen. Bewusst vermeidet er deshalb übermäßig gewaltsame Reaktionen israelischer Sicherheitskräfte.
Stattdessen verfolgt die Regierung eine nach innen wie ans Ausland gerichtete Politik der Angst. Sie besteht zum einen darin, die Palästinenser zu verteufeln und ihnen zu unterstellen, sie würden so unberechenbar handeln wie europäische Antisemiten oder gar Nationalsozialisten. Zum anderen suggeriert Netanjahu, die ganze Welt wäre grundsätzlich gegen Israel eingestellt – unabhängig von Israels Handeln. Damit verstärkt er die Angst der jüdischen Israelis vor der Außenwelt, vor dem Fremden. So schafft er ein explosives Gemisch aus Wagenburgmentalität und Xenophobie. Dieses soll jeden politischen Kompromiss mit den Palästinensern als Chimäre darstellen.
Gleichzeitig spricht die israelische Regierung der palästinensischen Seite jegliche politische Rationalität ab: Sie agiere aus purem Hass und sei unberechenbar. Diese Strategie gipfelte jüngst in Netanjahus abstruser These, die Palästinenser seien die treibende Kraft bei der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden gewesen.[2]
Auf diese Weise will Netanjahu auch verhindern, dass all jene, die für einen Kompromiss mit den Palästinensern plädieren, an Unterstützung gewinnen. Und tatsächlich scheint die israelische Politik – folgt man dieser Logik – über keinerlei Möglichkeit zu verfügen, die derzeitige Krisensituation grundlegend zu verändern: Selbst ein Rückzug aus den besetzten Gebieten würde den irrationalen Hass auf Israel nicht beenden.
Die Drohung einer zweiten Nakba
Auch wenn Netanjahu den Status quo erhalten möchte, so stärkt er damit ausgerechnet die lautesten Kritiker seiner Regierung – die ultrarechten Kreise in und außerhalb der Koalition.
Sie fordern derzeit konsequentere Schritte gegen die Palästinenser. Dazu zählt unter anderem der Abriss aller Gebäude in Ostjerusalem, die ohne offizielle Genehmigung errichtet wurden. Da die Jerusalemer Stadtverwaltung Palästinensern nur äußert selten Baugenehmigungen erteilt, wären von einer solchen Maßnahme vermutlich etwa vierzig Prozent der palästinensischen Bewohner betroffen. Einige rechte Politiker drohen gar mit einer zweiten Nakba.[3] Die Nakba bezeichnet die Flucht und Vertreibung von rund 700 000 Araberinnen und Arabern aus dem heutigen Israel zwischen 1947 und 1949.
Die große Opposition um das Zionistische Lager – einer Allianz aus der israelischen Arbeitspartei und der Mitte-links-Partei Ha-Tnu’a – war schon in friedlicheren Tagen außerstande, eine eigene Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu präsentieren. Auch jetzt wirft sie der Regierung vor allem mangelnde sicherheitspolitische Durchsetzungsfähigkeit vor. Oppositionsführer Jitzchak Herzog fällt dabei nicht mehr ein, als ebenfalls eine verschärfte Vorgehensweise gegen Palästinenserinnen und Palästinenser, die Abriegelung Ostjerusalems sowie den verstärkten Einsatz von Militär und Reservisten zu fordern.
Auch die Mehrheit der ehemaligen Anhänger der einst einflussreichen israelischen Friedensbewegung schweigt. Sie hat der Idee des Friedens den Rücken gekehrt und teilt heute ebenfalls die Überzeugung, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser keine Verständigung wollen.
Sie sind damit einer politischen Elite gefolgt, die in Friedensverhandlungen eingetreten war und vorgab, „schmerzhafte“ Kompromisse eingehen zu wollen. Am Ende kaschierten die politischen Führer von Likud, Kadima oder Arbeitspartei ihre mangelnde Bereitschaft, eine tragfähige Zweistaatenlösung zu ermöglichen, stets mit Schuldzuweisungen an die palästinensische Seite. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt ihre Furcht, die Wut der stärksten Lobby Israels auf sich zu ziehen – der Siedlerbewegung.
Die mundtote Linke
Angesichts der Übereinstimmung innerhalb weiter Teile des politischen Spektrums überrascht es wenig, dass auch in den israelischen Massenmedien kaum politische Alternativen vorkommen.
Zwar werden in unzähligen Nachrichtensendungen und Talkrunden die jüngsten Angriffe erörtert. Allerdings erfolgt dies meist aus sicherheitspolitischer Perspektive, wobei jede Form von Dissens bewusst vermieden wird. Die Medien boykottieren geradezu jene Vertreter der vor allem vom jüdischen Bildungsbürgertum gewählten Partei Meretz, die die fortwährende Besatzung als einen wesentlichen Grund für die aktuelle Gewalt benennen, sowie die wenigen Stimmen des linken Flügels der Arbeitspartei. Hinzu kommt, dass der Unterschied zwischen Berichterstattung und Kommentar zusehends schwindet.
Die tatsächlichen Gründe für die aktuelle Entwicklung bleiben somit außen vor. Es ist geradezu bizarr, dass der Begriff „Besatzung“ in der gegenwärtigen Debatte nicht auftaucht. Auch die schleichende Verdrängung der Palästinenserinnen und Palästinenser aus Ostjerusalem ist kein Thema – obwohl beide unmittelbare Beweggründe für die derzeitigen Angriffe liefern.
Netanjahus Politik erhält so indirekt ihre Legitimation: Die drohende dritte Intifada erscheint den israelischen Bürgerinnen und Bürgern fast zwangsläufig als Ausbruch irrationalen Hasses der Palästinenserinnen und Palästinenser. Und dieser Ausbruch kann allein mit sicherheitspolitischen Gegenmaßnahmen beantwortet werden.
Eine dissonante Stimme gibt es jedoch im israelischen Diskurs: die der palästinensisch-arabischen Minderheit in Israel. Ihre Interessen vertritt vor allem die drittstärkste Partei Israels – die „Gemeinsame Liste“.
Sie ist ein Zusammenschluss von vier zuvor in der Knesset vertretenen Parteien: die sozialistische Chadasch (wörtlich „Neu“, die Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung), die moderat islamistische Vereinigte Arabische Liste, Balad („Nationales demokratisches Bündnis“) und Ta’al („Arabische Bewegung für Erneuerung“). Die Liste erhielt bei der letzten Parlamentswahl 13 der insgesamt 120 Knessetsitze.
Ihr Vorsitzender, Ayman Odeh von der Chadasch, vermag es, seine Empathie für die Attentatsopfer zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig betont er, dass mehr Sicherheit für alle Israelis nur durch ein Ende der Besatzung und durch die friedliche Lösung des Nahostkonflikts erreichbar ist.
Der Haken ist nur: Die jüdische Mehrheitsgesellschaft nimmt Odeh in der momentanen Lage nicht als linken Politiker mit einer alternativen Vision wahr, sondern als palästinensische Stimme, der sie jede Glaubwürdigkeit abspricht. Dabei fordert die Gemeinsame Liste explizit für die gesamte israelische Gesellschaft ein Ende der Besatzung und mehr soziale Gerechtigkeit.
Doch diese Botschaft bleibt ungehört. Dass die palästinensisch-arabische Minderheit auch aus Sicht Netanjahus nicht zum israelischen Staatsvolk gehört, verdeutlicht dessen Entschluss von Mitte Oktober, Odeh nicht zu Beratungen mit den Oppositionsparteien einzuladen.
Jüdische versus arabische Israelis
Mit seiner Ausgrenzungsstrategie riskiert Netanjahu, die Kluft zwischen den arabischen und jüdischen Israelis zu vergrößern – just zu einem Zeitpunkt, als die arabisch-palästinensische Minderheit eine allmählich sich vertiefende Integration in allen Bereichen der Gesellschaft erlebte.
Gleichzeitig verspielt Netanjahu damit eine politische Chance: Denn mit wachsendem Selbstbewusstsein hätte die arabisch-palästinensische Minderheit auch zwischen den Palästinensern in der Westbank und dem Gazastreifen auf der einen und den jüdischen Israelis auf der anderen Seite vermitteln können.
Dazu wird es vorerst nicht kommen. Denn je mehr sich die arabisch-palästinensische Minderheit emanzipiert hat, desto vehementer wurde sie von reaktionären Kräften als „Fremdkörper“ innerhalb der israelischen Gesellschaft angefeindet.
Als Reaktion auf die fortwährende Benachteiligung und die wachsende Feindschaft einerseits sowie einer damit einhergehenden Stärkung der palästinensischen Identität andererseits – die mitunter bei einer kleinen Minderheit radikale Formen annimmt – greifen nun zum ersten Mal auch junge arabische Israelis jüdische Mitbürger mit Messern an. Eine mögliche Vermittlerrolle durch die arabisch-palästinensische Minderheit liegt damit wieder in weiter Ferne.
Die Momente, in denen jüdisch-palästinensische Solidarität überhaupt noch zum Vorschein kommt, sind noch seltener geworden: etwa Mitte Oktober bei einer Demonstration in Jerusalem. Zweitausend Menschen protestierten gemeinsam gegen die israelische Besatzungspolitik und riefen Slogans wie „Ohne Hass und Angst – gemeinsam demonstrieren!“ oder „Araber und Juden weigern sich, Feinde zu sein!“ Gemeinsam lauschten sie einem palästinensischen Rapper, einem ultraorthodoxen Juden und den Eltern einer jüdisch-arabischen Grundschule, die auf ihre Weise für ein friedliches Zusammenleben plädierten.
Doch diese marginale Protestbewegung wird die israelische Regierung kaum zu einer Kursänderung veranlassen. Die Lynchmorde, die zunehmende Fremdenfeindlichkeit gegenüber Nichtjuden, der Boykott arabischer Restaurants, die Diskriminierung der arabischen Minderheit, die unkritische Haltung der Massenmedien sowie verschiedene Gesetzesinitiativen, die etwa die Durchsuchung von Personen ohne Anfangsverdacht erlauben und die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen beschränken sollen, deuten vielmehr auf eine weitere bedrohliche Entwicklung hin: auf eine sich beschleunigende Erosion der demokratischen und zivilen Strukturen der israelischen Gesellschaft selbst.
Vor allem aber steht die herrschende Politik der Angst einer Lösung des Nahostkonflikts nicht nur entgegen, sondern führt geradewegs in einen Teufelskreis. Denn die Palästinenserinnen und Palästinenser werden eine fortwährende Besatzung kaum akzeptieren – zumal wenn diese mit ihrer schleichenden Verdrängung in dichtgedrängte Enklaven einhergeht. Die Politik der Angst wird damit einmal mehr zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
[1] Sie macht etwa 20 Prozent der Bevölkerung aus. Ihre Mitglieder sind formal gleichberechtigte Staatsbürger Israels, sehen sich im Alltag allerdings häufig Diskriminierungen ausgesetzt.
[2] Vgl. Netanjahu gibt Palästinenser-Mufti Verantwortung für Holocaust, www.zeit.de, 21.10.2015.
[3] So unter anderem Yinon Magal, Knessetabgeordneter und Mitglied der nationalreligiösen Partei HaBajit haJehudi („Das Jüdische Haus“). Sie vertritt vor allem die Siedlerbewegung und ist Teil der Regierungskoalition. Vgl. www.haaretz.co.il, 11.10.2015.