Rudolf Bahros Intervention auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED-PDS am Vom 18. Dezember 1989 (Auszug)
"Es mögen viele für, viele gegen das sein, was wir jetzt gehört haben" - stellte Tagungsleiter Wolfgang Berghofer auf dem a.o. Parteitag der SED-PDS nach der hier auszugsweise dokumentierten Intervention Rudolf Bahros fest, es sei "auf alle Fälle kein Grund, einen Menschen dafür acht Jahre seiner Freiheit zu berauben. Insofern" - so der stellvertretende Parteivorsitzende weiter - "haben wir alle ein kleines Stück Schuld abgetragen, indem wir zugehört haben." 1427 Delegierte (53,95 Prozent) hatten sich laut "Neues Deutschland" vom 19.12.1989 dafür ausgesprochen, Bahro, der heute wieder in der DDR lebt, die erbetene Redezeit einzuräumen. In der Sache stieß der Beitrag auf wenig Verständnis. Auch bei der SED-PDS, erst recht bei ihren Regierungsvertretern, sind "Aufholen" und "Anschluß an den Weltmarkt" heute die tonangebenden Zielvorstellungen. D. Red.
(...) Ich denke, unsere stärksten, größten, unbeweglichsten "Bastionen der Arbeiterklasse", wie wir diese Dinger halt nennen, die Kombinate und Betriebe, die immer vollständiger die sozialökonomisch unschlagbare Konkurrenz da drüben zweit- und drittklassig abbilden, sind längst planmäßig potentielle Brückenköpfe der anderen Gesellschaftsformation geworden. Jetzt soll die Besetzung folgen. Halbe-halbe ist bei der Dynamik und Entwicklungsrichtung des Prozesses reine Augenauswischerei. Es liegt in der Logik aller dieser Vorgänge, daß unsere Gesellschaft Gebiet um Gebiet ihre Souveränität aus der Hand gibt. Es läuft darauf hinaus, daß diese vielzitierte Vertragsgemeinschaft selbst ein einziges Joint venture wird. Es waren immer diese Renommierprojekte des ökonomischen Wettbewerbs mit dem "Klassenfeind", in denen er uns vom Militärischen bis ins Kulturelle immer tiefer hineinlockt, auf die es nicht erst bei Mittag immer und immer wieder hinausgelaufen ist, weil das unser Akkumulationsweg war - einholen und überholen. Und deswegen haben wir keine Arbeitskraft, keine Zeit, kein Material, kein Geld, keine Eigeninitiative, keine Lust zur Pflege unseres Wohnhauses, unseres Häuschens DDR. Dieser Akkumulationszweck, am internationalen Klassenkampf, den wir aber auf dieser Ebene verloren haben, festgemacht, erweist sich je länger je mehr als ein Spielfeld der anderen Seite. Es ist okkupiertes Gebiet in unserem eigenen Bewußtsein. Es herrschen dort jene Gesetze, deretwegen einmal gesagt worden ist, es sei das "Kapital" von Marx die Bibel der Kapitalisten. (...)
Die tiefste Schicht dieser welthistorischen Korruption, der wir verfallen sind, ist unser ökonomischer Materialismus, unser prinzipieller Ökonomismus, an dem Marx selbst trotz mancher gegenteiliger Aussage nicht ganz unschuldig ist. Dieser Materialismus ist Anbetung der Trägheitskräfte in der Geschichte, Anbetung der entfremdeten Mächte des toten Geistes (Wissenschaft und Technik) und toter Arbeit (Kapital) - wir sagen Fonds -, und es ist auch die Anbetung der an die Maschinerie versklavten Arbeitskraft, die tiefste Schicht - das ist dieser ökonomische Materialismus. Auch wenn wir immer wieder die Erfahrung der Fehlinvestition und des mangelnden Rückflusses, gerade der großen Wettlaufs- oder vielmehr Aufholinvestitionen, machen, es steht wieder viel davon drin, daß wir da verlieren, auch Hans Modrow will das Hase- und Igel-Spiel fortsetzen, dieses Autorennen Trabi-Wirtschaft gegen Mercedes-Wirtschaft, bei dem unsere Wirtschaft auf der Strecke bleiben muß. (...)
Leider nährt die Entartung unseres politischen Systems hier, die eher die Folge ist, die Illusion, wir hätten nur erneut anzutreten ohne die Deformationen, und dann würde das gutgehn - eine Illusion ohnegleichen. (...)
Jetzt wollen es die Wissenschaftler, Techniker, Ingenieure, Ökonomen, die besten Arbeiter mit ihnen, noch einmal beweisen, "daß wir nicht schlechter sind". Aber mit dem Kapitalismus ist zu dessen ökonomischen und kulturellen Bedingungen, die die Welt regieren, wo immer sie den Fuß in der Tür haben, nur Kapitalismus konkurrenzfähig. (...)
Das Volk sieht erstmal richtig, daß die ganze Intelligenz bei uns in dieses Projekt verstrickt ist, solange wir nicht aufhören, es für diese, in unserem Falle dann auch noch ergebnislose Jagd de facto auszubeuten. Unsere "Wichtigkeit", letzt psychologisch, in dieser technokratisch-kommerziellen Olympiade ist schuld daran, daß wir seit Jahrzehnten das Mehrprodukt durch den Schornstein jagen. Wir sind um dieser gruppenegoistischen Sisyphusarbeit willen - daß sie unsere Selbstdarstellung drüben auch gelten lassen - sozusagen Agenten der Kapitaldynamik wider Willen. Wir sind umgedreht worden, innerlich wie faktisch. (...)
Für mich heißt die Alternative also: Weltmarkt oder ökologische Wende - selbstverständlich nicht als abstraktes Entweder - Oder, sondern auf die Umkehrung der Prioritätensetzung hin. Während das so theoretisch nicht etwa gleich durchkommt, stimmt meine Option in der Tendenz mit dem überein, was sowieso unmittelbar getan werden muß: Es geht um die Befriedigung der Grundbedürfnisse und der entsprechenden Nachfrage auf dem Binnenmarkt, und es geht um die sofortige spürbare Verschönerung des Alltagslebens auf den verschiedensten Feldern. Das muß der Ausgangspunkt der Wirtschaftspolitik aber nicht nur jetzt sein als Notmaßnahme, sondern das muß er bleiben. Hören wir doch erst einmal auf, all die schönen Sachen, die wir produzieren, zu exportieren, damit der Erlös dann verpulvert werden kann. Keine Bevölkerungskredite mehr für die alte Art Wirtschaftsführung. Und was den Umweltschutz betrifft, es gibt Produktionen, die gestoppt werden können, jetzt, ohne daß alles zusammenbricht. (...)
Ihr werdet sagen, wir sitzen so fest, da geht einfach gar nichts mehr. Aber ich denke, das hängt von einer veränderten Gesamtperspektive ab, ob sich nicht doch bis in die Rechnung hinein bestimmte Sachen dann ganz anders darstellen und ob nicht andere Sachen unter dem neuen Blickwinkel als möglich erscheinen. Da wird sich viel mehr rechnen, als man auf Anhieb denkt. Besonders, wenn wir mit einer veränderten Reaktion der Partner draußen auf eine veränderte oder vielmehr auch überhaupt eine eigene Konzeption dann rechnen können. Es gibt in der Bundesrepublik bis hinein in höchste Finanz- und Industriekreise neben der Profitgier doch auch eine gewisse Hoffnung auf Beispiele einer ökologischen Wende hin. Diese Kreise haben wahrhaftig Selbstbewußtsein genug, um nicht gleich alles erdrücken zu wollen. was nach einer anderen als der kapitalistischen Ordnung aussieht. Welche Art Beratung wünschen wir uns denn? Wissen wir es? Wollen wir von uns irgendwohin, oder warten wir darauf, daß sie es uns sagen? Was für Menschen, was für Kapital, was für ausländische Strukturen ziehen wir besonders an? Und für welche auf andere Art zum gemeinsamen Vorteil gereichenden Zwecke? Es ist eine psychische Deformation unserer Leute, wenn sie mit Schalck-Golodkowski glauben, drüben zähle nur Geldmachen. Angesichts der ökologischen Krise rebelliert in so manchem Unternehmer der Mensch, und man kann halt auf verschiedene Weise Geld machen, sucht auch nicht in jedem Fall gleich den Höchstprofit. Es gibt zum Beispiel ein ausgedehntes Stiftungswesen. Nur wenn wir nicht wissen, was wir wollen, hat das einströmende Kapital noch nicht einmal die Konzeption nötig, es ist einfach eine Konzeption und arbeitet dann heute direkt oder indirekt spontan in Richtung Weltzerstörung. Das ist uns doch eigentlich klar. (...)
Westdeutschland kann uns auch bei dieser Strategie helfen, kann uns mit dem Reparationsausgleich, wenn wir ihn denn schon fordern, von dem Schuldendruck entlasten, zumindest zeitweilig. Das können wir mit einer ökologischen Wende, die zugleich an die unmittelbaren Bedürfnisse der Bevölkerung anknüpft und auch drüben Resonanz ausübt, einwerben. (...)