Ausgabe Januar 1991

Kuratorium zur Förderung des Programms Deutschlandsender Kultur

Offener Brief an die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer (Wortlaut)

Sehr verehrte Herren Ministerpräsidenten!

Am 27. November 1990 hat sich in Berlin das "Kuratorium zur Förderung des Programms Deutschlandsender Kultur" konstituiert. Angesichts der hohen Verantwortung, die Sie bei der Neugestaltung der deutschen Medien- und Kulturlandschaft tragen, hat die Gründungsversammlung beschlossen, folgenden offenen Brief an Sie zu richten. Die Gründungsmitglieder wenden sich in ernster Sorge an Sie. Sie fühlen sich einem Kulturstaat verpflichtet, dessen Staatszielbestimmung lautet, mit Blick auf eine neue geistige Kulturlandschaft Europa ein freiheitliches Kulturleben in Deutschland zu erhalten und zu fördern. Unter Kultur verstehen sie: vielerlei Lebensbedingungen, kreative Aneignungsweisen und Denkformen, Leistungen in Wissenschaft, Bildung, Politik ebenso wie in Kunst, Architektur, Natur- und Umweltschutz, Umweltgestaltung, ästhetischer Erziehung und dergleichen. Hierfür stehen als wesentliche Träger und Multiplikatoren Programme des öffentlichen Rechts, die auf jahrzehntelange Traditionen zurückblicken können. Auch in Ostdeutschland gibt es inzwischen originelle, initiativreiche Angebote aus Berlin und den Ländern, die sich mit den durchgesetzten Standards durchaus messen können.

Das Kuratorium tritt für den Erhalt derartiger Medienpotentiale ein. Es mißt ihre Entwicklungschancen an der Bedeutsamkeit ihrer geistigen Integrationsaufgaben. Die Förderung gerade kultureller Angebote ist um so notwendiger, als es längerfristig darum geht, gemeinsam mit Verantwortlichen aus Bund und Ländern die desolate Lage der Kultur im Ostteil Deutschlands zum Besseren zu wenden. Mit Bestürzung sieht das Kuratorium deren flächendeckenden Verfall. Nahezu allen künstlerischen, kulturellen, wissenschaftlichen Einrichtungen fehlen sichere Zukunftskonzepte und Finanzierungspläne. Zum Desaster könnte es kommen, würde in dieser Situation noch wichtige gestaltungsfähige Hörfunk- und Fernsehprogramme verlorengehen. In diesem Zusammenhang will das Kuratorium hervorheben: Es bekennt sich nachdrücklich zum Föderalismus als einer Form der Gewaltenteilung.

Der Weg dahin im Ostteil gibt nicht zuletzt den Medien zurück, was SED-Herrschaft ihnen und den Regionen über Jahrzehnte vorenthielt: Selbstbestimmung, Freiheit, Vielfalt, Wettbewerb. Fortschritte in dieser Richtung verlangen konkrete Analyse, Besonnenheit, vernünftige, unvoreingenommene Entscheidungen. Auch bei der Neugestaltung der Kultur- und Medienlandschaft dürfte kooperativer Föderalismus vorrangig geeignet sein, die anstehenden Probleme im Interesse der Länder und ihrer Bürger schrittweise zu lösen. Sehr verehrte Herren Ministerpräsidenten! Das Kuratorium erwartet von Ihnen keine Patentrezepte oder fertigen Lösungen.

Wohl aber will es mehr Einsicht in tatsächliche Zusammenhänge von Kultur und Medien bewirken. Es bittet Sie deshalb nachdrücklich, darauf einzuwirken, - das der Prozeß kultureller Desintegration in Deutschland gestoppt wird, - daß in kritischer Situation auch entwicklungsfähige ostdeutsche Hörfunkprogramme, über die Berlin und die Länder verfügen, ihre kulturellen Funktionen im freien Wettbewerb wahrnehmen können, wozu insbesondere auch der Erhalt von Arbeitsplätzen gehört, - daß Kompetenz, Kreativität und Veränderungswille der an die Hörfunkprogramme gebundenen Künstler und Geistesschaffenden genutzt wird und - daß die produktiven kulturellen, musikalischen, funkdramatischen, wissenschaftlichen, journalistischen Potenzen auch am Standort Nalepastraße im Interesse einer kulturellen Grundversorgung der Länder gesichert werden, - daß mit diesen Potenzen Gegengewichte sich erhalten gegenüber jetzt festzustellenden - Mängeln, Lücken, erhöhten Preisen bei der Kulturversorgung im städtischen Leben und auf dem Lande.

In Erwägung, daß Ihnen, verehrte Herren Ministerpräsidenten, bei der Lösung derartiger Probleme eine hohe Entscheidungskompetenz zufällt, bittet das Kuratorium Sie, diese Darlegungen zur Kenntnis zu nehmen, sie zu prüfen und bald darauf zu antworten.

Vielen Dank und freundliche Grüße im Namen der Mitglieder der Gründungsversammlung des Kuratoriums zur Förderung des Programms Deutschlandsender Kultur.

Zürich, den 30.11.1990

Prof. Max Bill, Vorsitzender Mitglieder des Kuratoriums (30.11.1990): Prof Max Bill, Zürich (Vorsitzender) - Ludolf Baucke, Hannover (stellv. Vorsitzender) - Michael Grüning, Berlin (stellv. Vorsitzender) - Konrad Weiß (MdB), Berlin (stellv. Vorsitzender) Christa Wolf, Berlin - Gerhard Wolf, Berlin - Prof Robert Jungk, Salzburg - Jutta Wachowiak, Berlin - Hermann Weber, Mannheim Helen Nüsser, Wernstein - Hans Matschke, Eisenach - Bischof Gottfried Forck, Berlin - Günter Gaus, Reinbek - Egon Bahr, Bonn Helmut Frielinghaus - Henry Marx - Prof Hans Mayer, Tübingen Martin Passauer, Berlin - Prof. Annerose Schmidt, Bad Saarow Dr. Regine Hildebrandt (MdL), Berlin - Günter Rücker - Prof. Walter Jens - Prof. Georg Katzer, Berlin - Prof. Friedrich Goldmann, Berlin - Prof. Herbert Heckmann, Darmstadt - Dr. Winfried Becker, Coaquio-Trevisago (Italien) - Dr. Heinz Galinski, Berlin - Prof. Rolf Kreibich, Berlin - Karsten D. Voigt (MdB) - Dr. Volker Müller - Angelika Domröse, Berlin - Helga Königsdorf, Berlin Albrecht Surkau, Berlin - Prof. Horst Klinkmann, Berlin - Prof. Michael Succow, Berlin - Detlef Friedrich, Berlin - Manfred Butzmann.

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